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Während meiner Recherche über den politischen Dokumentarfilm in Indien kam mir immer wieder ein Titel zu Ohren: KYA HUA IS SHAHAR KO? (What happened to this city?) von Deepa Dhanraj (1986). Der Film weckte also meine Aufmerksamkeit ohne, dass ich ihn gesehen hatte. Die Filmemacherin selbst war sich nicht sicher, ob ihre eigene 16mm Kopie noch vorführbar ist und sie hatte den Film auch seit einigen Jahren nicht mehr gesehen. Erst im Zuge meiner Recherche für das Filmprogramm „Moving Politics. Cinemas from India" (ko-kuratiert mit Dorothee Wenner im Jahr 2010 im Rahmen von „Being Singular Plural" in der Deutsche Guggenheim) stellte ich fest, dass eine Filmkopie von KYA HUA IS SHAHAR KO? im Arsenal Archiv existiert.

Die erste Sichtung des Films am Schneidetisch des Arsenal wurde zu einem wahren Filmereignis. Die Tatsache, dass ich einen Film sah, über den ich bislang nur gesprochen hatte - mit der Filmemacherin und mit anderen Filmemachern, die den Film Mitte der 80er gesehen hatten - entwickelte ein inspirierendes Potential. Die enorme Aktualität des Films beeindruckte genauso wie die gleichzeitige Besonderheit der filmischen Verarbeitung kommunalistischer Gewalt in Indien. Zwei Aspekte standen dabei für mich im Vordergrund: die besondere Qualität der Zeugenaussagen im Film und das ruhige, aber dennoch durchdringende Porträt von Alltag während einer Ausgangssperre. Zu zeitgenössischen Diskussionen über die Herausforderungen an die Repräsentation von Gewalt, die das „Casting“ von Opfern für einen Dokumentarfilm und die Prekarität von beweisen und bezeugen betreffen, scheint der Film KYA HUA IS SHAHAR KO? mehr beizutragen als nur historisch wichtiges Material über den Aufstieg von nationalistisch-hinduistischer Politik, die danach das politische Leben in Indien beeinflusst hat.

Ausgehend von weiteren Gesprächen mit Deepa Dhanraj und anderen FilmemacherInnen, auf die der Film großen Einfluss ausgeübt hat – teils FilmemacherInnen, die ihre Arbeit im Dokumentarfilmbereich mit den sich wieder intensivierenden kommunalistischen Spannungen Mitte der 80er Jahre begannen, teils AnhängerInnen der Frauen- und Studentenbewegungen – schien es bedeutsam zu sein, den Film wieder vorzustellen, ihn eindringlicher zu betrachten und mit ihm weiterzudenken. Was tut dieser Film jetzt? Wie begegnen und wie befassen wir uns heute mit diesem Film, wie lässt sich darauf aufbauen?

Darüber hinaus war der Film bedeutend für die Festigung einer unabhängigen Dokumentarfilmbewegung in Indien. Der Ursprung dieser Bewegung wird oft als Reaktion auf die repressive Politik der Zeit des Ausnahmezustandes unter Indira Ghandi gesehen und in Verbindung mit den widerständigen sozialen und politischen Bewegungen gebracht. Ausschlaggebende Filme der Zeit sind unter anderem Anand Patwardhans PRISONERS OF CONSCIENCE (1978), WAVES OF REVOLUTION (1974) und Gautam Ghose HUNGRY AUTUMN (1976) (die zwei letzten Filme befinden sich ebenfalls im Arsenal Archiv).

Es fehlen allerdings Deepa Dhanrajs Filme, die in Zusammenarbeit mit dem 1980 gegründeten Filmkollektiv Yuganthar entstanden sind: MOLKARIN (Maid Servant) (1981), TAMBAKU CHAAKILA OOB ALI (1982), SUDESHA (1983) und IDHI KATHA MATRAMENA (Is this just a story?) (1983). Auch dies sind Filme über die ich sehr viel gehört habe und die ich seid langem sehen wollte. Deepa Dhanrajs Schilderungen über die Entstehung dieser Filme – das politische Klima zum Zeitpunkt der Entstehung, die kollaborative Filmarbeit, die Entwicklung des Politischen im Film und einem Verständnis feministischer Politik, die besondere Art von Öffentlichkeit und öffentlicher Diskussionen, die sie erzeugt haben – erinnern an Praktiken des Third Cinema. Dennoch war die Entstehung der Filme sehr geprägt von der spezifischen Situation und insbesondere dem Streben nach einer feministischen Filmsprache und feministischer Politik. Auch hier ist die erneute Vorstellung dieser Filme von filmhistorischer und politischer Bedeutung, doch der materielle Zustand der Filmkopien lässt eine Vorführung derzeit nicht zu.

Zum gegenwärtigen Projektzeitpunkt geht es mir um das Ausloten der verschiedenen Richtungen, auf die diese Filme verweisen und darum, weitere Gespräche mit der Filmemacherin Deepa Dhanraj über deren Bedeutung zu führen. Das Projekt umfasst daher momentan zwei Stränge:
Zum einen soll KYA HUA IS SHAHAR KO? in ein vorführbares Format (für Indien und anderswo) transferiert und in einen diskursiven Kontext eingebunden werden. Welches Szenario ist für eine Vorführung denkbar, um eine breitere Diskussion über die Repräsentationspolitik in dem Film und ihre Bedeutung für heute zu initiieren? Welche Relevanz haben die damals praktizierten Vorführungsarten im aktuellen medialen Kontext? Wie bezieht sich der Film auf aktuelle Themen?
Zum anderen sollen die Filme des Yuganthar Filmkollektivs restauriert und digitalisiert werden. Daran schließen sich Überlegungen an, wie diese Filme anschließend zugänglich gemacht und verbreitet werden können. Die bereits erwähnten, besonderen Umstände der Herstellung, Aufführung und Verbreitung dieser Filme scheinen einen reichhaltigen Beitrag leisten zu können im Zusammenhang mit dem gegenwärtigen, erneuten Interesse am revolutionären Filmemachen und dies aus feministischer Perspektive. Zugleich verlangen die Filme hinsichtlich ihrer Aktualisierung nach sorgfältigen Überlegungen.

Der aktuelle Stand des Recherche:
- Eine 16mm Kopie von KYA HUA IS SHAHAR KO mit deutschen Untertiteln ist vorhanden. Geklärt werden muss die Möglichkeit einer Digitalisierung des Films.
- Die Filmemacherin Deepa Dhanraj hat 16mm Kopien von den Filmen TAMBAKU CHAAKILA OOB ALI, SUDESHA und IDHI KATHA MATRAMENA ausfindig gemacht. Die Kopien befinden sich mittlerweile zur Prüfung in Berlin. Die Digitalisierung der Filme kann hoffentlich im Sommer 2012 erfolgen. Eine Kopie von MOLKARIN (1981) könnte noch folgen.
- Erste Gespräche mit Deepa Dhanraj über eine mögliche DVD Kompilation mit allen Filmen haben bereits stattgefunden. Weitere Recherchen für begleitendes Textmaterial folgen. Es werden Gespräche geführt: mit den FilmemacherInnen, mit dem Kameramann Navroze Contractor, mit Frauengruppen und mit anderen politischen Gruppen, die diese Filme gezeigt haben. Wie lassen sich die Erinnerungen an diese filmischen und politischen Ereignisse auf produktive Weise ans Licht bringen? Welche Bedeutung hatten sie damals und welche Bedeutung haben sie heute für verschiedene Kontexte und unterschiedliche Generationen innerhalb der aktuellen Medienlandschaft und der aktuellen politischen Situation? Könnte diese Recherche zu einem gemeinschaftlichen Kurzfilmprojekt führen?
- Für Sommer 2012 sind weitere Recherchen im Archiv geplant: Welche Referenzpunkte ausserhalb Indiens lassen sich im Archiv finden? Wo gibt es evt. Parallelen bzgl. filmpolitischer Sensibilitäten, Fragen und Dringlichkeiten? Können feministische Film-Allianzen ausgemacht werden? Gibt es andere kollektive Filmprojekte und/oder feministische Kollektive, die ein politisches Vokabular geprägt haben? Mit welchen anderen Darstellungen von einem„Leben unter Ausgangssperre“ könnte so etwas wie Freundschaft zwischen Filmen entstehen?

Mögliche Ergebnisse:
DVD-Kompilation mit einer kleinen Publikation und eventuell ein Kurzfilm. Entwicklung von Formaten für die Präsentation und Diskussion der genannten Filme und Aufzeigen von möglichen Verbindungen im Archiv. Präsentationen sind in Berlin im Rahmen von Living Archive sowie in Indien vorgesehen.

Kurze Filmbeschreibungen

MOLKARIN (Maid Servant), Indien 1981, 25 min, 16mm
Der Film beleuchtet die oppressiven Arbeitsbedingungen von Hunderten von Dienstmädchen in Pune und beschreibt, wie die Frauen zusammenkamen und eine Organisation gründeten, um für ihre Rechte zu kämpfen.

TAMBAKU CHAAKILA OOB ALI, Indien 1982, 25 min, 16 mm
Der Film verfolgt die Geschichte einer reinen Frauengewerkschaft, der über 3000 Arbeiterinnen in der Tabakindustrie in Nipani, Karnataka angehören. TAMBAKU CHAAKILA OOB ALI entstand in Zusammenarbeit mit den Arbeiterinnen.

SUDESHA, Indien 1983, 30min, 16mm
Der Film ist ein Porträt von Sudesha, einer Dorfaktivistin in der Chipko Waldschutz Bewegung an den Ausläufern des Himalaya.

IDHI KATHA MATRAMENA (Is this just a story?), Indien 1983, 25 min, 16mm
Eine fiktive Rekonstruktion von häuslicher Gewalt aus der Sicht der Frau. Eine Zusammenarbeit mit der Frauengruppe Sree Shakti Sanghatana.

KYA HUA IS SHAHAR KO? (What happened to this city?), Indien 1986, 95 min, 16mm
Deepa Dhanraj, Co-Regie mit Navroze Contractor & Keshav Rao Jadhav. Wie erleben die Bürger von Hyderabad die Eskalation der Unruhen zwischen Hindus und Muslimen und die anschließende Ausgangssperre in der Stadt? WHAT HAPPENED TO THIS CITY folgt dem Aufkommen fundamentalistischer Organisationen und Reden und wie diese von der Wirtschaftskrise profitieren, der Arbeitslosigkeit und der wachsenden Unsicherheit in einer Stadt, die zerfällt. 1984 endete die Situation schließlich im Ausnahmezustand. Dem Film gelingt die Kombination eines teilnehmenden, beobachtenden und poetischen Zugangs in den Aufnahmen dieses entscheidenden historischen Moments. Damit bietet der Film eine erstaunliche Alternative zu den weit verbreiteten argumentativen politischen Dokumentarfilmen über kommunale Politik in den 1990er Jahren.
Im Rahmen von Living Archive konnte der Film KYA HUA IS SHAHAR KO? auf DVD veröffentlicht werden.

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