von Marietta Kesting
Die dritte Ausgabe von „It all depends“ gruppierte sich um die neue Arbeit REGULADO von Filipa César und Suleimane Biai, die zeitgleich im Showroom des Neuen Berliner Kunstvereins (n.b.k.) als Doppelprojektions-Installation zu sehen war. REGULADO ist im Zuge des Visionary-Archive-Projekts „Von Boé nach Berlin“ entstanden, an dem die in Berlin lebende portugiesische Künstlerin Filipa César und Suleimane Biai, guineischer Filmemacher, seit mehreren Jahren arbeiten. Ein zentrales Element dieses Projekts ist die Digitalisierung und Verbreitung historischer Filme, die im Kontext der De-Kolonisierung und des Befreiungskampfes in den 1970er-Jahren in Guinea-Bissau entstanden. Ende des Jahres wird dieses Archiv in Form eines mobilen Kinos durch Guinea-Bissau reisen.
Die zu dem Film REGULADO aus dem Archiv ausgewählten drei anderen Filme (POR PRIMERA VEZ 1967, LES JOURS D’ANCONO 1978 und REASSEMBLAGE 1982) hatten alle direkte oder indirekte Berührungspunkte mit Césars und Biais Projekt. Sie kartographieren den geographischen Kontext, thematisieren Kino als Praxis oder zeigen und kommentieren welche Filmbilder aus Westafrika überhaupt einem westlichen Publikum bekannt sein könnten – wie Trinh T. Min-has Film REASSEMBLAGE. Zusätzlich gab es auch persönliche und professionelle Verknüpfungen zwischen den einzelnen Filmproduktionen, so lernte Biai Filmproduktion in Kuba sowohl bei Octavio Cortázar als auch von seinem älteren Kollegen Sana na N’Hada, der bei LES JOURS D’ANCONO Regie führte. Sana N’Hada ist als Filmemacher, Zeitzeuge und Erzähler ein zentraler Protagonist des Projekts „Von Boé nach Berlin“.
Wie „Afrika“ zeigen und die unmöglichen Möglichkeiten der Bilder und der Sprache
Neben der konkreten Auseinandersetzung mit filmischen Arbeiten stehen wiederum die großen Fragen über das Nachwirken des Kolonialismus im Bildraum zur Debatte und wie ein heutiger europäisch-afrikanischer Dialog mit diesem Erbe umgeht. Der afrikanische Philosoph Y.V. Mudimbe und aktuell der kamerunische Intellektuelle Achille Mbembe weisen beide darauf hin, dass „Afrika“ eine (europäische) Erfindung sei, wodurch grundlegende Schwierigkeiten entstehen.(1) Mbembe schreibt in seinem neuen Buch Kritik der schwarzen Vernunft (2014), „[...]„Afrika“ sagen heißt stets – beliebige – Figuren und Legenden über einer Leere errichten. Es genügt, nahezu gleichartige Worte und Bilder zu wählen, ähnliche, aber in anderer Bedeutung verstandene Bilder und Worte hinzuzufügen, und schon ist man wieder bei der Geschichte, die man immer schon kannte. Das macht Afrika zu einem wuchernden Ensemble par excellence, einer Macht, die erst recht alles verschlingt, weil sie fast nie ihren eigenen Traum zum Ausdruck bringt, sondern meist versucht, auf den Traum eines anderen zu verweisen.“(2) Diesen Repräsentation und der Macht der Bilder wie der Nicht-Bilder (also der nicht vorhandenen Bilder, der Leerstellen und Projektionsflächen) lässt sich nicht entkommen, aber sie lassen sich erfahrbar und thematisierbar machen: einerseits durch die Reflexion über die Produktion der Filmbilder selbst, die Funktionsweise des Kinos historisch und seine aktuellen Formen und Neuaufführungen; andererseits durch die Diskussion der Träume und des Begehrens nach bestimmten Bildern und den Versuch, damit eine neue Sprache oder Sichtweise zu erforschen und eine andere Zukunft vorstellbar zu machen.
Das Ereignis Kino
Das Screening begann mit einem bekannten Film, der die Kinoerfahrung selbst zum Thema hat, der kubanische Film POR PRIMERA VEZ von Octavio Cortázar, (Kuba 1967, OmU, 9 min). Der Film dokumentiert die Ankunft eines mobilen Kino-Teams, eines „Cine-Mobil“ bestehend aus einem Lastwagen mit eingebautem Filmprojektor und Betten für die Projektionisten, in einem abgelegenen Bergdorf in Kuba. Dort wird den Dorfbewohner_innen zum ersten Mal ein Freiluftkino präsentiert. POR PRIMERA VEZ ist ein Film über das Filmsehen selbst, ein Meta-Film, der gleichzeitig cinema direct und Inszenierung der Zuschauer_innen präsentiert und besonders die Kinder und ihre Reaktionen auf das Ereignis Kino in den Blick rückt. Es werden Zwischentitel eingeblendet, die erklären und fragen, „Was genau macht ein mobiles Kino?“ Ebenso werden einzelne Bewohner_innen interviewt, bevor der Film gezeigt wird. Eine Frau mutmaßt „Das Kino muss etwas sehr schönes und wichtiges sein, wenn ihr euch so dafür interessiert“, „ein Spiel“, „Dinge, die man sieht“, „ein Fest?“, wohingegen ein kleiner Junge es auf den Punkt bringt: „Kino ist Film,“ dabei weiß man nicht, ob er nur die Wörter kennt, oder schon einen Film gesehen hat.
Der Film, der in dem Dorf projiziert wurde, war Charlie Chaplins „Modern Times“ (USA 1936). Chaplin schien auch das kubanische Publikum zu amüsieren. Gegenschnitte zeigen ihre lachenden Gesichter und zeugen vom Übersprung der Affekte. Die Kamera blickt zurück von der Leinwand und kehrt die Seh-Situation um. Wie kam Chaplins Film aus den USA, dem kapitalistischen Feind, mit 30jähriger Verspätung in die kubanischen Berge?(3) Die Bilder, die laufen lernten, waren auch immer schon selber reisende Bilder. Diese Reisen waren jedoch oft von Verzögerungen, Zwischenstopps und Irrwegen gekennzeichnet – besonders mit analogen Datenträgern wie Filmrollen. Dadurch ergeben sich asynchrone Rezeptionsebenen. Damit weist Cortázars Film auch auf die Zuschauersituation des Berliner Publikum heute hin, welches auf Bilder aus West-Afrika und Kuba schaut, die örtlich und zeitlich weit entfernte Orte und Lebenswelten zeigen und dabei immer zugleich auch inszenieren.
Der abgelegene Ort in Kuba, zu dem sich das mobile Kino-Team mit einem voll ausgestatteten und extra dafür umgebauten Lastwagen durchschlägt, liegt in der Nähe von Guantanamo, eine Gemeinde, die zum Synonym wurde, für das dort 2002 eingerichtete Straf- und Internierungslager der USA. Dieser Gedanke kann hier nicht weiter verfolgt werden, insistiert aber als historisch-aktuelle Fußnote weiter über Sicht- und Machtverhältnisse, nachzudenken: wer wo beobachtet oder festgehalten beziehungsweise unsichtbar gemacht wird.
Ein historischer Film
Der zweite Film LES JOURS D’ANCONO von Sana na N’Hada (Guinea-Bissau 1978, OmEU, 27 min) wurde drei Jahre nach Erringen der formalen Unabhängigkeit Guinea-Bissaus, der vormalig portugiesischen Kolonie, gedreht, und zwar auf einer Insel des der Küste vorgelagerten Bissagos-Archipels. Der Film portraitiert einen Jungen, Ancono, zeigt seinen Tagesablauf und stellt die Familienmitglieder vor. Er beginnt mit dem Bild einer Landkarte und Luftaufnahmen. Die Szenen mit Ancono und der Familie sind gestellt und ähneln darin ethnographischen Filmen, wenn das morgendliche Waschen als typisches Handlungsrepertoire inszeniert wird. Es gibt keinen synchron aufgenommenen Ton, daher spricht auch keine der gefilmten Personen, sondern ein französisches Voice-over, von einer Frau gesprochen, erklärt die Zusammenhänge. Dazu werden teilweise atmosphärische Geräusche wie zum Beispiel gesungene Lieder eingefügt. Das Voice-over erzählt die historischen und aktuellen Lebensbedingungen der Menschen auf den Bissagos-Inseln in einer Narrationsform, in der Motive des Fortschritts, der Hoffnung und der kulturellen Selbstfindung eingestreut sind. Zum Beispiel verweist die Stimme auf die Wichtigkeit der Tatsache, dass eigene Traditionen während der portugiesischen Kolonialherrschaft lebendig gehalten wurden. Gleichzeitig ist die Rolle der „Tradition“ ambivalent, und sie wird auch im Film als Hindernis für „bessere“ Lebensverhältnisse thematisiert, wenn gesagt wird: „Ancono has to overcome the obstacles of tradition.“(4)
In der Diskussion weist Suleimane Biai darauf hin, dass auch in diesem Film etwas tatsächlich zum ersten Mal sichtbar wird und zwar das neu errungene Recht eines jeden Kindes auf Schulbildung. Biai macht außerdem darauf aufmerksam, dass die Schule im Freien, die Ancono im Film besucht, in den 1970ern längst in ein überdachtes Gebäude umgezogen war, in dem es aber zum Drehen zu dunkel war. Daher der Wechsel zum alten Schultypus. Genau diese Szene führte seiner Beschreibung nach später dazu, dass der Film in Guinea-Bissau nicht gezeigt wurde. Die Staatsführung unter Luís Cabral wollte verhindern, dass die neue Nation „rückschrittlich“ (mit Schulunterricht unter freiem Himmel) präsentiert wird. Diese Zensurgeschichte erinnert daran, dass Filme immer politisch sind und nicht „einfach nur“ das Leben bestimmter Menschen darstellen. Konträr zu der offiziellen Einschätzung hatte der Regisseur Sana na N’Hada einen Film schaffen wollen, der den Widerstand und den Aufbau einer unabhängigen Nation sichtbar macht, mit Stolz auf genau die Art und Weise, wie die Menschen leben und wie sie auch die Kolonialherrschaft überlebt haben. Er weist natürlich auch auf die Bedeutung von Bildung hin – in Schulterschluss mit Unicef, die den Film ko-finanzierte, sicher passend – und inszeniert die neue Flagge mit den nun „freien“ Kindern Guinea-Bissaus wirkungsvoll.
Hier zeigt sich, dass ethnographisch anmutende Visualisierungstechniken sowohl im Kontext der Kolonisierungsbestrebungen als auch von den Dekolonisierungsbewegungen eingesetzt wurden. Dabei stellt sich die Frage, ob es überhaupt möglich war und ist, ein radikal anderes Sehen jenseits eurozentrischer beziehungsweise herrschaftsorientierter Blicke zu entwickeln. Es wäre spannend, weiter zu untersuchen, ob filmische Konventionen und Geldgeber eine bestimmte Rahmung vorgaben, und welchen Stellenwert die Filmrezeption bei diesen Fragen einnimmt.
In Guinea-Bissau – JETZT!
Der nächste ca. 20-minütige Film REGULADO vollzieht einen Sprung in die guineische Gegenwart. Hier wurde nur die eine Hälfte einer Doppelprojektion gezeigt, die zur gleichen Zeit in einer Ausstellung im Neuen Berliner Kunstverein zu sehen war. Die dort parallel projizierte zweite Bildnarration fehlte; sie zeigte das Publikum in Birbam (Guinea-Bissau) während der ersten Vorführung des nur wenige Tage zuvor gedrehten Films. In der auf ein Bild reduzierten Projektion waren diese Zuschauer_innen jedoch auf der Tonspur weiterhin anwesend, was das Arsenal-Publikum zunächst ein wenig verwirrte. "Welche Menschen hört man dort, die nicht zu sehen sind?"
REGULADO porträtiert Suleimane Biai in seiner Funktion als Regulo der Gemeinschaft in Birbam, was sich vielleicht mit „Vorstand“ übersetzen ließe und Teil einer überlieferten Gemeinderegierungsstruktur und –praxis darstellt, welche seit Kurzem wieder reaktiviert wurde. Daneben ist auch das deutsch-portugiesische Filmteam auf der Tonebene mitdokumentiert. Zu Beginn geht das Filmteam durch ein Waldstück. Eine Motorsäge ist zu hören, kurz darauf schwankt ein riesiger Baum und fällt krachend zu Boden. Der gefallene Baum funktioniert – wie Filipa César anmerkt – ähnlich einer Filmklappe im Spielfilm: „And now action please“. Die Kamera ist auf Suleimane Biai gerichtet, der den Holzfäller auf frischer Tat ertappt und zur Rede stellt. Es entsteht ein längeres Gespräch, währenddessen der Mann versucht seinen Auftraggeber telefonisch über sein Handy zu erreichen, was nicht gelingt. Biai sagt unter anderem: „Wir haben hier ein Filmteam aus Deutschland dabei.“
Eine Frau, die später zu dem Wortwechsel hinzutritt und sich auf den gefallenen Baum setzt, macht deutlich, dass ihr Geld für den Baum zustehen würde. Die Lage ist kompliziert, und die einzelnen Akteure vertreten unterschiedliche und ambivalente Sichtweisen, so zum Beispiel der Holzfäller selbst, der „nur seinen Job erledigt“, sich aber durch Biais Intervention entschließt, die Arbeit ruhen zu lassen und an diesem Tag keine Bäume mehr zu schlagen. Der Film ist ein einziger langer Take ohne Schnitt.
In der Diskussion erzählen César und Biai, dass der Film spontan und ungeplant zustande kam. Man hätte die Szene jedoch kaum besser inszenieren können. Es ist eine emotional aufgeladene Narration, in der die Rollen zwischen „gut“ und „böse“ von vornherein feststehen, und die seit den Kampagnen von Greenpeace und ähnlichen Organisationen global bekannt ist. Es wird berichtet, dass es in ganz Guinea-Bissau Probleme damit gibt, dass Tropenbäume ohne Genehmigung gefällt werden und auch ohne dass die Bewohner_innen, denen das Land gehört, eine Entschädigung erhalten. Die Situation des Filmens wird strategisch benutzt, um den Holzfäller unter Druck zu setzen und verweist auch darauf, dass Menschen im Ausland diese Bilder zu sehen bekommen werden. Gleichzeitig ist das Berliner Publikum Zeuge davon, dass diese Aussage in die Tat umgesetzt wurde, wenn auch vornehmlich im Kunstkontext. Wohingegen die Anrufung ein „Filmteam aus Deutschland“ vielleicht eher Assoziationen an investigativen Fernsehjournalismus weckt, und das damit verbundene ewige Versprechen „Die Welt schaut zu“. Daran schließen sich genau diese Fragen: Welche Bilder wecken welche Erwartungen? Welche Geschichten können wie und für wen wo aufgenommen und erzählt werden? Und wie hat lokale Politik mit globaler Politik zu tun? Ist es so, dass ein ausländisches Filmteam vor Ort, dass sich eigentlich für Filmgeschichte interessiert, sich nun mit aktuellen Fragen im öffentlichen Raum beschäftigen muss, da diese dringender scheinen? Und führt vielleicht allein die Präsenz der Kamera dazu, dass Ereignisse in Gang gesetzt werden [Action, please!?]
Globale Bezüge und bekannte mediale Narrationen wurden in der Diskussion mit dem Berliner Publikum plakativ aufgerufen: „Das Holz wird nach China geschifft“, „der Stahl für die Motorsägen, mit denen Bäume gefällt werden, wird in Deutschland produziert“. Dennoch wurde auch zur Vorsicht aufgerufen gegenüber einer zu eindeutigen Lesart der Machtverhältnisse, die dazu führen würde, die Dorfbewohner_innen in Birbam vermeintlich nur als „Opfer“ des international operierenden Neokapitalismus wahr zunehmen – sie sind selbstverständlich selber als Akteure im Holzhandel oder Baumschutz beteiligt.
Der Film REGULADO zeichnet sich vor allem durch eine hohe Unmittelbarkeit aus, er wurde am 3. März 2014 gedreht und am 5. März öffentlich in Birbam vorgeführt, wobei das dortige Publikum gefilmt wurde. In der Doppelprojektion von REGULADO wie sie im Showroom des n.b.k. zu sehen war, wurden Motive von POR PRIMERA VEZ, die Doppelung der Seh-Situation wieder aufgenommen: die eine Leinwand zeigt den Film selbst, während die zweite das Publikum in Birbam beim Ansehen des Filmes wiedergibt. In der Diskussion der Arbeit drängte sich die Frage auf, die auch so aus dem Publikum gestellt wurde, was ist mit den Zuschauer_innen in Berlin, die auf diesen Film schauen? Welche Position haben sie? Sofort fallen einem auch die unterschiedlichen Rezeptionsorte auf – in Berlin ein weißer, nicht besonders großer Galerieraum, in den eine Holzplattform gebaut wurde, sowie das Kino Arsenal. In Birbam wurde der Film in einem improvisierten Setting unter freiem Himmel vor einem Gemeindezentrum gezeigt, die Zuschauer_innen saßen auf Holzbänken und weißen Plastikstühlen. Sollte vielleicht jedes Publikum gefilmt werden, und dann in der jeweils nächsten Realisation der Installation mit vorgeführt werden? Ebenso stellte sich mir die Frage, wie das Publikum in Birbam auf den dargestellten Konflikt reagierte, was die Diskussionen nach dem Film waren? Die Zeit war knapp, um alle diese Einzelheiten zu erfragen. Es war eine Simultanübersetzerin anwesend für Suleimane Biai, die ins Portugiesische übersetzte, während die meisten anderen vornehmlich Englisch und Deutsch sprachen oder verstehen konnten. Dadurch wurde die Diskussion verlangsamt und zum Teil wiederum asynchron, was allen Beteiligten mehr Muße gab zwischen den Fragen inne zu halten und zu reflektieren. Nebenbei machte es (wieder einmal) deutlich, welche Sprachen in Kunst- und anderen Diskussionsräumen in Berlin dominieren und dass viel zu selten Übersetzer_innen anwesend sind. Ins Filmische rückübersetzt ist es die Frage der Untertitelung – die gezeigten Filme waren alle mit englischen oder deutschen Untertiteln versehen.
Verkomplizierung der Blickverhältnisse
Der bekannte Film von Trinh T. Min-ha REASSEMBLAGE (USA 1982, OV, 40 min), der den Abschluss des Abends bildete, wurde ebenfalls in West-Afrika, im Senegal(5) aufgenommen. Damit scheinen die offensichtlichen Gemeinsamkeiten zu den anderen Filmbeispielen jedoch auch schon zu enden. Auf den zweiten Blick gibt es jedoch überraschenderweise viele Bezugspunkte, auch wenn Trinh auf ganz andere Art und Weise in die von ihr aufgenommenen Ton- und Bildmaterialien eingreift. Zuerst hört man nur die Tonspur, und es wird Schwarzbild gezeigt, später ist es dann umgekehrt: nur Bilder ohne Ton. Der Film ähnelt visuell teilweise LES JOURS D’ANCONO und zeigt auch Bilder von Reisanbau, Rodung von Palmen und der weiteren Verarbeitung des geernteten Getreides, aber es werden keine weiteren Informationen über diese Bilder gegeben und damit die vermeintliche Erwartung des Publikums enttäuscht.
Stattdessen beginnt eine andere Narration über den ethnographischen Blick westlicher Forscher_innen auf Afrika und das Genre des ethnographischen Films selber, wiederum wird hier eine Meta-Perspektive eingenommen. Trinh behauptet programmatisch: "Scarcely 20 years was enough to make 2 billion people define themselves as 'underdeveloped'." Über diese „2 Milliarden Menschen“ legt der Film jedoch nur einige Bild- und atmosphärische Tonspuren. Trinhs von ihr selbst gesprochenes Voice-over erzählt dagegen von Begegnungen mit weißen, männlichen Ethnographen und ihren Ehefrauen im Senegal, nicht jedoch von direktem Kontakt mit Afrikaner_innen, auch wenn diese im Film oft sehr nah und detailliert abgebildet werden. Trinh thematisiert ihr eigenes Dilemma und ihre Perspektive, in dem sie im Film die Frage wiederholt: „A film about Senegal – but what about Senegal?“ Damit führt sie ihr Konzept des „speaking nearby, not speaking about“(6) und eine Praxis der Dis-Identifizierung paradigmatisch vor.
Trinh studierte Musik und Komposition, bevor sie sich der Filmproduktion zuwandte. In REASSEMBLAGE verfremdet sie die audio-visuellen Materialien und benutzt die Tonspuren auf ungewöhnliche Art. Die rhythmischen Töne von Arbeiten, sowie einzelne Wörter oder zustimmendes Gemurmel werden geloopt, und sie komponiert Noise-Musik mit ihnen. In der Diskussion nach dem Film wurden diese Elemente der Tonspur angesprochen: inwieweit stellen Musik und Singen eine eigene Ebene und eine Form von „Stimme“ dar, die westliche Zuschauer_innen jedoch nie vollständig verstehen, weil das Singen fast nie untertitelt wird (ebenso in LES JOURS D’ANCONO)?
Suleimane Biai bemerkte, dass REASSEMBLAGE sich auch mit Fragen der Zerstörung beschäftigt, dargestellt in Bildern des Feuers – der Brandrodung der Bäume – womit eine weitere Parallele zu REGULADO gezogen werden kann. REASSEMBLAGE wirkt teilweise fast wie ein melancholischer Blick auf Westafrika, man könnte sogar an Claude Lévi-Strauss’ Traurige Tropen denken, dennoch lässt sich keine „einfache“ Lesart von Trinhs enigmatischem Film entwickeln, da sie selber mit Absicht immer wieder andere Spuren legt und Deutungen in Frage stellt und der rhythmische Upbeat des musikalischen Sounds jedwede Melancholie wieder auslöscht.(7) Trinhs Arbeit ist ein sehr bekanntes filmisches Experiment für ein „anderes“ Sehen und Hören, das auch in vielen verschiedenen Kontexten Verbreitung fand, was könnte ein Update ihrer experimentellen Herangehensweise an Bilder und Töne aktuell sein?
Globale Seh-Ebenen und diasporische Archive
Die Zusammenstellung der unterschiedlichen Filme eröffnet ein komplexes Feld von Bildern und filmemachenden Protagonist_innen, die zusammen oder getrennt auf Reisen gehen, im Ausland Bilder sammeln und Unterstützung erfahren, diese vor verschiedenen Öffentlichkeiten zeigen, die alle mit unterschiedlichen Sichtweisen auf die aktuellen und historischen Filmbilder schauen. Dabei stellen sich Fragen über die Utopie von Kino als globale, gelebte Praxis, welche sich immer auch mit den inhärenten Machtgefällen, der Kolonialgeschichte, stereotypisierenden Bildern oder auch dem Fehlen bestimmter Bilder und Filmmaterialien auseinandersetzen kann und muss. Entscheidend ist auch die temporäre Verortung der filmischen Bilder, wo sind sie willkommen und wo werden sie gesehen? Ist es der relativ exklusive Raum der Kunstgalerie und des Kinos oder die (massen)mediale Verbreitung in Fernsehen oder Internet? Was könnte „visuelle Dekolonisierung“ aktuell bedeuten? Ebenso ergeben sich Fragen des Archivs, seines Ortes und seiner Funktion, die immer gleichzeitig politische Fragen sind. Zu all diesen Themen lieferte die 3. Ausgabe von “It all depends” vielfältige Spuren eines Nachdenkens mit und in Bildern und gleichzeitig über das Bildermachen und -sammeln selbst.
(1) Valentin Yves Mudimbe: The Invention of Africa, Indiana University Press 1988.
(2) Achille Mbembe: Kritik der schwarzen Vernunft, Suhrkamp 2014, S. 105. (Critique de la raison nègre, 2013)
(3) Chaplin selbst hatte Sympathien für den Kommunismus, war aber kein Parteimitglied. Dennoch geriet er ins Visier des House of Unamerican Affairs und verließ die USA im Jahre 1952, als sein Rückreisevisum zurück gehalten wurde.
(4) Das Voiceover in französischer Sprache und die Untertitel auf Englisch weisen indirekt auf die privilegierte Position der Sprachen der ehemaligen Kolonialherren hin – auch in post-kolonialen Zeiten. In Guinea-Bissau gibt es insgesamt 18 Landessprachen, doch Portugiesisch ist aktuell immer noch Amtssprache. An den Schulen wird häufig auch Französisch gelehrt.
(5) In der Diskussion hieß es jedoch, dass die Grenzen zwischen Senegal und Guinea-Bissau „künstliche“ (weil koloniale) Grenzen seien, da dieselben ethnischen Gruppen in beiden Gebieten leben. Hier könnte sich noch eine längere Diskussionen von Grenzen anschließen, die immer „künstlich“ und nie „natürlich“ und darüber hinaus historisch in Bewegung sind. Dennoch ist es natürlich entscheidend, wer Grenzen bestimmt, sie bewacht und verteidigt.
(6) Trinh T. Minh-ha: “Speaking Nearby,” Interview with Nancy Chen, in: Visual Anthropology Review, Vol. 8, #1, Spring 1992, 87.
(7) Claude Lévi-Strauss: Traurige Tropen. Aus dem Frz. Suhrkamp 1978 (Tropiques Tristes, 1955).