Jean-Michel Frodon: Eine "Dokumentarfilmreihe" der "Cahiers du cinéma" zu präsentieren, beinhaltet ein Paradox. Aber es handelt sich um ein Paradox, das uns gefällt. Paradox ist es deshalb, weil die "Cahiers du cinéma" seit ihrer Entstehung die Trennung zwischen Dokumentarfilm und Fiktion angefochten haben. André Bazin, Jean-Luc Godard, Jean-Louis Comolli, Serge Daney, um nur diese großen Namen zu nennen, haben immer auf der dokumentarischen Natur jeder Fiktion und dem fiktionalen Gehalt jedes Dokumentarfilms beharrt. Dokumentarfilm und Fiktion sind die beiden Pole, die das gesamte kinematografische Feld magnetisch zusammenhalten. Diese Feststellung wurde vor allem in letzter Zeit bedeutsam, in Zusammenhang mit den unzähligen Fragestellungen, die sich aus den "Zwischenkategorien" wie dem Essayfilm, dem gefilmten Tagebuch, dem Recherchefilm ergeben. Die neuen digitalen Techniken haben das Problem noch erweitert. – Doch das ist gut so! In letzter Zeit wurde in den "Cahiers du cinéma" viel über die dokumentarische Dimension des zeitgenössischen Kinos nachgedacht und über die Bedeutung der Aufnahmetechnik beim Abbilden von Realität – sei es durch klassische oder neueste digitale Mittel des Kinos. Wir haben darin immer den Beweis einer Vitalität der zeitgenössischen Praktiken gesehen. Heute wie gestern ist es möglich, das gesamte Kino von seinem dokumentarischen "Pol", d.h. ausgehend von den Filmen zu hinterfragen, die am nächsten um diesen Pol kreisen.
Wir präsentieren 17 neue Filme (die ältesten sind um die zehn Jahre alt), die von mehreren Generationen von Filmemachern in einer großen Vielfalt von Stilen, Herangehensweisen und Methoden gedreht wurden. Gut die Hälfte der Filmemacher würde die Bezeichnung "Dokumentarfilmer" ablehnen, während andere sie stolz einfordern. Alle 17 sehr unterschiedlichen Filme haben wir in den "Cahiers du cinéma" geschätzt und verteidigt. In manchen agieren die Filmemacher äußerst diskret (z.B. Raymond Depardon oder Nicolas Philibert), andere stehen im Zentrum des Projekts (Alain Cavalier); oder der Film entsteht komplett aus einer Reflexion heraus (wie bei Chantal Akerman), oder aus der Montage bei Olivier Zabat, aus Befragungen bei Creton oder Malek und Soulier, aus dem Interview, das bei Comolli oder – auf eine ganz andere Art – bei Lanzmann zum Verständnis beiträgt, aus der plastischen Herangehensweise bei Florent Marcie, dem Spiel mit Empathie und Distanz bei Ariane Doublet, oder aus dem Blick, der bei Claire Simon dramaturgisch wirkt. Der Film entsteht aus der zugleich intimen wie auch extrovertierten Beobachtung bei Mazuy und Reggiani, aus einem ganz einfachen Abenteuer von Podalydès (Vater und Sohn) oder dem von Robert Kramer wiedergefundenen Weg auf den Spuren einer in der Gegenwart gesehenen Vergangenheit, oder aber aus zeitgenössischer Arbeit, die, erneut ganz unterschiedlich, von zeitgeschichtlichen Dokumenten ausgehend von Hervé Leroux und Henri-François Imbert gezeigt wird: Jedes Dispositiv ist so einzigartig, dass das Etikett "Dokumentarfilm" vielleicht nur ein Vorwand ist, um Filme vorzustellen, die wir beeindruckend finden.
Sollte man darüber hinaus noch auf die Fülle der behandelten Themen hinweisen? Zum einen die Geschichte, die aber in der Gegenwart erlebt und gedacht wird, egal ob es sich um den Spanischen Bürgerkrieg (Imbert), um die Shoah (Lanzmann), den Vietnamkrieg (Kramer), den Krieg in Afghanistan (Marcie), in Ex-Jugoslawien (Zabat) oder um das Erbe revolutionärer Kämpfe (Le Roux) handelt; zum anderen große gesellschaftliche Themen, sei es die Justiz (Depardon, Comolli), die Delokalisierung von Firmen (Malek und Soulier), die Situation auf dem Land (Doublet, Creton), Wahnsinn und Psychiatrie (Philibert), der Status von Kultur (Mazuy). Es kann sich hierbei genauso gut um die Entdeckung der Natur handeln (Podalydès) oder das Entdecken der Umwelt aus der Sicht von Kindern (Simon) wie auch um eine Reflexion über den eigenen Platz in der Geschichte und im Raum (Akerman, Cavalier).
Wir haben selbstverständlich jeden der Filme um seiner selbst willen gemocht. Sieht man sie zusammen, scheint uns, dass sie, sowohl durch die Art ihrer Inszenierung als auch durch ihre Themen, einen fruchtbaren Kontext herstellen, in dem Reflexionen über die zeitgenössische Beziehung zur Realität und ihrer Repräsentation, zur Geschichte in all ihrer Vielfalt und zu Körpern möglich werden.
Die Fragen, die das Kino an das Virtuelle, an die reale Zeit, an den elektronischen Datenstrom stellt, führen, neben der Qualität jedes Films – seiner Schönheit, seiner Emotion, seiner Komik – dazu, dass dieses Programm als Ganzes hofft, etwas zum Verständnis unserer Welt beizutragen. Und genau das gefällt uns. (Jean-Michel Frodon, „"Cahiers du cinéma")
Die 17 ausgewählten Filme versammeln neben großen Namen und Filmen berühmter Regisseure auch aktuelle Arbeiten hierzulande bislang unbekannter FilmemacherInnen, die erstmalig in Deutschland zur Aufführung kommen. Wir freuen uns sehr, dass wir – dank der großzügigen Unterstützung des Bureau du cinéma der Französischen Botschaft – zahlreiche Gäste begrüßen dürfen: Alain Cavalier, Chantal Akerman und den Chefredakteur der "Cahiers du cinéma", Jean-Michel Frodon, der am 13. und 14. Januar in das Programm einführen wird.