This interview was conducted in German.
Barbara Wurm: Ich begrüße Carmen Spitta und bedanke mich sehr herzlich dafür, dass du bereit bist zu diesem einstündigen Gespräch, das uns mindestens genauso wichtig ist wie die Tatsache, dass wir den Film DAS FALSCHE WORT (1987) zeigen können. Ich bedanke mich auch bei dir, Gaby, dass Du so dahinter warst und bist und den Vorschlag gemacht hast, in Kooperation mit der Kinothek Asta Nielsen diesen Film zu zeigen. Es ist ein wichtiger historischer Moment und also großartig, dass die Vorführung stattfinden kann, dank Stefan Drössler vom Filmmuseum München und Dir, Carmen.
Carmen Spitta: Gott sei Dank!
BW: Ich möchte dich bitten zu beschreiben, wer Melanie Spitta war.
CS: Oh ja, das werde ich in letzter Zeit häufig gefragt. Wer war Melanie Spitta? Meine Mama. Es ist immer als Tochter nicht einfach, weil sie für mich eben meine Mama war. Sie war sehr streng, sehr hart auch in ihrer Art. Für sie war von Anfang an klar, dass sie diese Arbeit machen musste, das heißt in der Bürgerrechtsbewegung. Dort war sie schon seit 1971 tätig und war auch in den ganzen Gründungsverlauf des Zentralrates der Sinti und Roma involviert. Sie hat sich zu ihrer Aufgabe gemacht, ihr Lebenswerk war, darüber aufzuklären, was unseren Menschen, unserem Volk der Sinti im Dritten Reich Grausames angetan worden ist. Meine Großmutter, Mama Rosa, hatte ihr auch gesagt: „Liebes Kind, erzähle den Menschen da draußen, was man uns angetan hat, kläre auf.“ Und das war ihre Aufgabe, das war ihr Leben. Und, das muss man dazu sagen, als erste deutsche Sinteza, die so emanzipiert war, die sich nichts von der dominierenden Macho-Männergesellschaft hat sagen lassen. Sie wurde auch arg angefeindet, aber für sie war das ihre Aufgabe: aufzuklären und dazu beizutragen, dass unsere Menschen Wiedergutmachung bekommen haben, dass das Unrecht anerkannt wurde, denn es wurde ja vertuscht. Das machen Katrin Seybold und Mama ja auch sehr klar und deutlich in DAS FALSCHE WORT. Sie erklären mit Fakten. Und sogar in der heutigen Zeit sehen wir, nicht weit von uns, in Italien beispielsweise, wie immer noch geleugnet wird, dass der Holocaust an den Sinti stattgefunden hat. Aber Mama hat sich einen Panzer angelegt. Musste sie auch, um sich zu schützen. Manchmal war er zu hart, ich wusste auch, dass sie innerlich sehr zerbrechlich war. Das das merkte ich dann auch, als es mit ihr zum Ende ging. Diese Frau hat sich wirklich einen Schutzpanzer angelegt, aber auch, um die tiefen Enttäuschungen aus dem eigenen Volk oder der eigenen Community, wie man es heute nennt, zu ertragen. Damals habe ich das nicht verstanden, als Kind, als Jugendliche ja auch nicht. Aber jetzt verstehe ich es, weil ich ja selbst so eine Einzelkämpferin bin wie meine Mutter. Früher aber dachte ich immer: „Was hat sie denn? Warum regt sie sich jetzt wieder so auf und telefoniert Stunden über Stunden und versucht, da vehement was durchzuboxen?“ Und dabei hat sie immer wieder auch auf Granit gebissen. Das merke ich an mir auch.
Gaby Babić: Wie haben Melanie Spitta und Katrin Seybold sich kennengelernt? Als sie DAS FALSCHE WORT gemacht haben, hatten sie ja schon eine kleine Filmografie zusammen.
CS: So klein war sie nicht. Sie hatten schon drei Filme zusammen gemacht. Das war 1979, genau zu dem Zeitpunkt, als mein Vater das Okay bekommen hat, dass wir nach Argentinien gehen. Er bekam damals einen Job beim Deutschen Akademischen Austauschdienst. Und da hat Mama Katrin kennengelernt, jemand hatte Katrin auf Mama aufmerksam gemacht, und so kam sie nach Frankfurt und hier haben sie das dann wohl besprochen. Mama war immer sehr vorsichtig am Anfang und hat sich sehr skeptisch vorgetastet. Sie hat Katrin wohl auch lange auflaufen lassen, und dann gab es längere Gespräche.
Sie haben auf Augenhöhe zusammengearbeitet, haben sich gegenseitig auch Kraft gegeben und Mut weiterzumachen.
Ich habe Katrin auch kennengelernt, denn das ist bei uns die Tradition, dass man unsere Kinder mit einbezieht in das, was die Erwachsenen vorhaben oder tätigen werden. Und sie sagte zu mir auch: „Das ist eine Gadje, die möchte mit mir Filme machen, damit wir aufklären, was uns, was deiner Mama Rosa – so nannten wir meine Großmutter – und unseren Menschen für Gräueltaten angetan worden sind.“ Und dann sagte ich: „Ja, Mama, dann machst du das, weil Mama Rosa sich das auch gewünscht hat.“ Es war ja die Aufgabe meiner Mama und es hätte nichts gebracht, wenn ich als Kind gesagt hätte: „Nein, Mama, du kommst jetzt mit nach Argentinien.“ Ich wusste schon als 8, 9-jährige, dass es wichtig ist, weil wir nun mal allein waren, man hat uns ja fast komplett ausgerottet. Es waren nur noch eine Handvoll da, die überlebt hatten. So kam das dann zustande und es entwickelte sich daraus eine sehr gute und enge Freundschaft. Sie haben auf Augenhöhe zusammengearbeitet, haben sich gegenseitig auch Kraft gegeben und Mut weiterzumachen. Oftmals resignierte eine von den beiden. Dann hat die andere wieder gesagt: „Komm, wir packen das weiterhin an und wir schaffen das.“ Denn beide wurden ja immer wieder angefeindet von der Mehrheitsgesellschaft, der Dominanzgesellschaft, oder aus den Sinti-Reihen. Die beiden haben sich wirklich sehr, sehr gut zusammengefügt und ergänzt.
BW: Worauf bezogen sich die Anfeindungen?
CS: Ganz einfach: Wie kann eine deutsche Sinteza plötzlich Filme machen? Sie gehört doch hinter den Herd. Sie gehört nach Hause. Sie soll Wäsche waschen, kochen, für den Mann da sein, das Kind großziehen. Aber wie kommt sie dazu, sich jetzt mit Dingen zu befassen, für die die Männer zuständig sind? Und dann natürlich ist sie auch auf öffentliche Plätze gegangen, da gibt es auch noch Fotos, die zeigen die beiden als zwei emanzipierte Frauen, eine Deutsche und eine Sinteza, die politisch extrem engagiert waren und kein Blatt vor den Mund genommen haben. Mama sowieso nie. Und als sie dann den Film ES GING TAG UND NACHT, LIEBES KIND (1982) gedreht hatten, da ging es dann schon los, dass sie boykottiert wurden, durch unvollständiges Material, also unvollständige Filme, sie wurden in Auschwitz stehen gelassen, und sie haben trotzdem weitergemacht, auch Mama, todkrank wie sie war. Es musste immer wieder gestoppt werden oder verschoben werden. Sie lag ein halbes Jahr im Krankenhaus und konnte nicht weiterarbeiten. Durch Kontakte sind die beiden dann in die Archive gekommen. Das heißt, sie waren die ersten, die die „Zigeunerakten“ ausgehändigt bekommen haben. Das wurde auch geleugnet. Es hieß immer, der Zentralrat sei der Erste gewesen, aber man kann es ja nachlesen, wer zuerst diese Akten ausgehändigt bekommen hat. Und sie haben nun mal die Büchse der Pandora geöffnet und dann war das so ein Lauffeuer. Es war unfassbar, wie die beiden in den fünf Jahren der Recherchearbeit auch um ihr Leben Angst hatten. Ein Jahr lang wurden beide beschattet, auf Schritt und Tritt. Es kamen auch anonyme Anrufe, sie wurden abgehört – das muss man sich mal vorstellen! Die Drohanrufe kamen natürlich nicht nur vom Zentralrat, aber jeder weiß, wie er meiner Mutter den Tod gewünscht hat. Generell wurden in der damaligen Zeit auch die Altnazis alle unglaublich nervös, weil sie es ja zu leugnen versucht haben, und plötzlich kommen da zwei Frauen und gingen an so ein Pulverfass dran. Und das war schlimm, also für Mama, umso mehr, da sie todkrank war und ihr Leben am seidenen Faden hing von Geburt an, das wusste sie. Es war ihr immer wichtig, dass dieser Film zustande kommt, dass er zu Ende geführt wird, trotz der damit verbundenen vielen Kraftakte und Ängste. Und immer wieder diese Niederlagen und Emotionen, was sie auch in der Pressemappe geschildert hat, dass sie ihr Herz ins Tiefkühlfach legen musste, um all das emotional nicht zu sehr an sich ran zu lassen. Das war nicht einfach. Ich weiß, dass ich damals in München war und die erste, die im Schneideraum etwas von dem Film zu Gesicht bekommen hat. Man hat mich da hingesetzt und ich sollte gucken. Mir schossen die Tränen aus den Augen, ich weinte und sagte: „Da ist Papo, mein Großvater! Und da, da, da ist Mama Rosa!“ Und ich heulte, und ich merkte, wie sie „das Kind" nicht auffangen konnte und nur sah, wie ich emotional reagierte. Annette Dorn, die Cutterin, hat das beobachtet, ihr schossen auch schon fast die Tränen in die Augen. Und dann kam Katrin um die Ecke: „Wunderbar, super! Siehst du, wie das Kind reagiert? Der Film wird gut! Siehst du, Frau, das wird super.“ Und die Mama war außer sich vor Emotionen. Aber da war halt auch dieser Moment: Sie musste hart bleiben, um bloß mir nicht zu zeigen, dass es ihr auch zu nahe ging.
Bei Mama wurde dann deklariert, dass sie nur für die Übersetzung zuständig war und die Kontakte, und das stimmt nicht! Es war ihr Lebenswerk.
BW: Wahnsinn! So wie du das schilderst, hast du diesen Moment noch ganz vor dir.
CS: Es ist Wahnsinn. Wenn ich das so erzähle, dann habe ich die beiden auch vor mir. Ich habe Gott sei Dank eine sehr tolle Traumatherapeutin und kann heute den Namen Katrin Seybold auch in den Mund nehmen. Ich konnte es über Jahre nicht, weil sie mir ja die Trauer genommen und mich vor Gericht gezerrt hatte. Aber im Nachhinein geht es hier um die Arbeit meiner Mutter und die Arbeit der beiden Frauen. Und die haben Grandioses geleistet. Die sind wirklich über ihre Kräfte hinaus gegangen. Und was in den Jahren danach passiert ist, das ist halt leider so gelaufen. Zitat: Bei Mama wurde dann deklariert, dass sie nur für die Übersetzung zuständig war und die Kontakte, und das stimmt nicht! Es war ihr Lebenswerk.
GB: Während du sprachst, habe ich mich an die Szenen in ES GIND TAG UND NACHT, LIEBES KIND erinnert, wo deine Mutter die Interviews führt, im Gegensatz zu Das falsche Wort, in dem sie nicht zu sehen ist. Aber wir hören ihre Stimme, die ja wirklich ganz außerordentlich ist und sie hat so eine Qualität in der Konfrontation, aber trägt auch durch diesen Film. In ES GING TAG UND NACHT, LIEBES KIND, finde ich, sieht man, wie unglaublich schwer es war, diese Interviews zu führen mit den Frauen, die auch über Tabus sprechen.
Mama ist eine Ikone für viele unserer jungen Frauen, weil sie so viel bewegt hat.
CS: Da wurde sie auch angefeindet, gerade weil sie in der Wohnung von Wanda das Gespräch mit der Zeitzeugin geführt hat. Sie wurde von den Männern, von den Sintezas angefeindet, weil sie das Tabuthema ansprechen, obwohl sie es ja noch sehr feinfühlig und sehr respektvoll erklären. Und es ist ja heute noch so, dass diese Themen Tabus sind. Es wird zwar mehr darüber gesprochen, auch Zeitzeugen, die schon demenzkrank waren, haben über die Zwangssterilisationen gesprochen. Aber diese Themen, dieses Schamgefühl ist zu groß. Und ich habe ja ein Radiointerview in Freiburg gemacht, da habe ich lange überlegt, ob ich es wirklich machen soll, aber eine sehr gute Freundin von mir, die aus einer Täterfamilie kommt – ihr Großvater war einer der fiesen Ärzte – sagte zu mir: „So kann es nicht weitergehen. Ihr müsst dieses Tabu brechen, sonst werdet ihr weiterhin die Täter schützen!“ Und da hat sie vollkommen recht. Genau das wollte Mama auch damals machen: Darüber sprechen, über diese Wut und diese tiefe Trauer, die in unseren Frauen und Männern steckt, weil man sie zwangssterilisiert, ihnen die Haare abgeschnitten, sie vergewaltigt, missbraucht, misshandelt hat, ihnen allen Stolz genommen hat. Darüber muss man sprechen. Und ich glaube, wir sind in der heutigen Zeit auch an einem Punkt angekommen, an dem wir unseren Mund aufmachen müssen. Wir dürfen nicht weiter schweigen und zulassen, dass die Täter davonkommen. Wir sind an einem Zeitpunkt, da man die häusliche Gewalt, die es auch bei Sinteza und bei Roma gibt, ansprechen muss. Warum werden jetzt erst die Sinteza aktiv, die nicht mehr zu Hause sitzen bleiben, sondern wirklich endlich auf die Straße gehen wollen, und die laut werden, die sich dafür einsetzen, dass auch die Jugendlichen eine Bildung bekommen? Das hat Mama auch damals immer gesagt: „Es ist so wichtig, dass unsere Kinder nicht nur auf die Sonderschule kommen, sondern dass sie endlich mal einen richtigen Ausbildungsplatz bekommen“ und, und, und. Das sind Punkte, an denen ich merke, dass Mama damals, Ende der 1970er, Anfang der 1980er Jahre, was ins Rollen gebracht hat. Sie wusste, dass sie in Gefahr kommt, aber sie hat ja auch was hinterlassen, was ich jetzt auch in Berlin gesehen habe und an anderen Orten: Mama ist eine Ikone für viele unserer jungen Frauen, weil sie so viel bewegt hat. Das ist der Mama auch, glaube ich, gar nicht bewusst oder aber sie guckt von da oben vielleicht runter und sagt: „Ach Kind, du machst du schon.“ Das war ja immer ihre größte Sorge, dass ich eben nicht das Erbe antrete, weil ich damals als Kind und Jugendliche natürlich das alles nicht mehr hören konnte. Auch zu Hause nicht mehr: wenn man morgens, mittags, abends täglich nur mit Nazis, mit Rasseforschern, mit Dr. Mengele, Dr. Klein, Eva Justin, Robert Ritter, Sophie Ehrhardt, wie sie alle hießen, am Tisch sitzt – da wirst du doch irgendwann meschugge. Überall diese Akten, dieser Gestank von Akten. Ich brauche nur hier hinten aufzumachen, dann dreht sich mein Magen, denn hier sind ja noch ein paar Materialien. Das ist ja keine normale Kindheit! Sie, die beiden Frauen, waren natürlich voll in diesem Aufarbeiten, dieser Recherche, dieser Zusammenfügung des Puzzles. Da war kaum Zeit für Anderes oder Zeit für ein Kind, das muss ich auch dazusagen. Das ist nicht nur rosig gewesen.
BW: Die meisten der gerade namentlich von dir genannten Täter waren vermutlich nicht mehr am Leben. Aber gab es auch Interventionsversuche von Tätern?
CS: Wer auf jeden Fall Kontakt zu ihnen hatte, war Hermann Arnold. Er lebte noch, hat sich den Film angeschaut und war gegen ihn. Es gibt in der Pressemappe ein Zitat von ihm, in dem er sagt, man solle Gras über die Sache wachsen lassen. Er forschte noch akribisch weiter, obwohl er schon in Rente war. Ich hatte seine Akte in Berlin mal ausgehändigt bekommen und es war so perfide. Er hat alle, ob es Anna Mettbach war oder sonst jemand, noch akribisch aufgeschrieben, und er hat sich über den Film sehr negativ geäußert. Die Tochter von Robert Ritter hatte auch mit ihm Schriftverkehr und furchtbare Angst, dass der „böse Zigeuner“ erfährt, wer sie ist, denn dann könnten ja die „Zigeuner“ kommen und ihr was antun. Dieses Klischeebild hatten die Nazis immer noch in ihrem Kopf. Erst mal will man sie ausrotten und dann kriegt man sie nicht alle tot. Und dann zum Schluss hat man Angst vor dem „bösen schwarzen Zigeuner“ – jetzt habe ich alles in den Mund genommen, was man nicht soll! (lacht) Aber damit ihr versteht, was ich meine. Und es ist sehr, sehr schwierig gewesen. Für Mama auch: immer wieder diese Konfrontation in der damaligen Zeit. Die Generationen waren ja noch ganz anders. Damals wurde über das Thema ungerne gesprochen. Sie hat sich auch immer mit den Leuten vehement angelegt, die es leugnen oder nicht darüber sprechen wollten, die sagten, das sei doch viel zu viel.
Es geht nicht nur um diese Macht und darum, wer welche Position hat – hier geht es um die Erinnerung, die Totenehrung.
Mit mir hat man es auch so gemacht: „Jetzt lass doch mal endlich die Geschichte ruhen. Mach doch mal was anderes, Carmen.“ Und dann sage ich: „Nein, kann ich nicht. Ich bin die letzte noch Lebende in meiner Familie. Meine Familie wurde ausgerottet und das kann ich euch nicht in rosa Watte verpacken.“ Das ist mein Standardsatz. Die stehen ja nicht morgens auf und fragen sich, warum sie hier mutterseelenalleine sitzen, oder gehen abends ins Bett und fragen sich das oder werden nachts wach... Nein, die haben alle ihren Frieden, Freude, ihr Familiennest, meins aber wurde vernichtet. Ich war immer noch zu freundlich und zu lieb in dieser Geschichte, aber es ist so, ich kann nichts dafür, was ihr Deutschen meiner Familie angetan habt. Das habe ich die letzten Male, wenn ich in der Öffentlichkeit war, auch so gesagt. Aber nichtsdestotrotz habe ich auch gemerkt, dass es wichtig ist, diese Aufklärungsarbeit zu machen. Und für mich ist ganz wichtig, an Schulen zu gehen und mit den Jugendlichen zu sprechen. Also fürs kommende Jahr sind auch einige neue Projekte im Anlauf, bei denen ich ganz vehement sage: Hier muss etwas passieren. Es geht nicht nur um diese Macht und darum, wer welche Position hat – hier geht es um die Erinnerung, die Totenehrung. Es geht um die Geschichte, das, was man unseren Menschen angetan hat. Und ich sage immer: Ich bin es meinen Menschen schuldig. Meiner Familie, die keine Stimme mehr hat. Die Stimme gebe ich ihnen, solange ich noch lebe, und nicht irgendjemand anderes. Denn es ist mir auch schon vorgekommen, dass sich die Menschen die Geschichten aneignen oder sich gerne mit Melanie Spitta schmücken. Dann wollen sie alle die Tochter von Melanie einladen und schmusen um mich herum, ich aber höre raus, um was es eigentlich geht. Das mache ich ja auch nicht: Das ist Mamas und Katrins Arbeit, die ich mit Hochachtung respektiere und vor der ich mich verneige. Und ich kann mir nicht einen fremden Schuh anziehen, der mir nicht passt, sondern ich kann über mich erzählen und ich darf und kann für meine Familie sprechen. Aber ich würde mich niemals mit deren Leistungen schmücken, das könnte ich gar nicht.
BW: Ich habe versucht, den Film in seiner Dramaturgie nachzuvollziehen, er setzt ja mit der direkten Faktenaussage des Mordes an und man denkt also, man habe das Schlimmste gleich am Anfang hinter sich. Und das ist nicht so, weil es eigentlich immer schlimmer und niederträchtiger wird, die Tatsache dieser kollektiven Leugnung. Wobei die Leugnung erst der nächste Schritt ist, davor kommt ja die totale Normalisierung: Es wird einfach weitergemacht. In dieser deutschen Nachkriegsgesellschaft kommt es an keinem Punkt zu einer Selbsterkenntnis oder einer Selbstreflexion, die zu einer Umkehr aufruft, die von einem selbst kommt. Als du angefangen hast zu sprechen, hast du ja gesagt, was für ein Durchbruch das sei auch für die Sinti an den Punkt einer Wiedergutmachung zu kommen. Und in gewisser Weise ist der Film natürlich Teil davon. Aber hat sich denn für dich diese Wiedergutmachung jemals ereignet? Ist sie für dich überhaupt möglich? Ist das auch ein Thema, mit dem du gerade täglich kämpfst?
CS: Das ist eine sehr gute Frage. Gaby, du hast mich erlebt, als ihr den Film in Frankfurt gezeigt habt beim Remake-Festival 2023. Da konnte ich nicht ins Kino rein, ich habe Rotz und Wasser geweint, weil ich nach so vielen Jahren zum ersten Mal die Stimme meiner Mama wieder gehört habe. Jetzt ist es ganz anders. Jetzt merke ich, dass ich eine Kraft entwickelt habe, weil ich auch an mir arbeite. Das ist ja das unglaublich Wichtige und da müssten viele von uns, gerade aus der Sinti-Community, viel mehr Traumatherapie machen. Ich als Teil der dritten Generation bin unmittelbar damit aufgewachsen und das ist ganz, ganz furchtbar. Und bei mir ist es extrem, weil es kein anderes Thema gab. Wie bei vielen anderen Familien ist es ein Tabuthema gewesen, darüber wurde am Tisch und in der Familie nicht gesprochen. Man wusste zwar, dass etwas nicht stimmt, aber es passierte nichts. Und ich konfrontiere die Menschen. Ich konfrontiere mein Umfeld. Viele ertragen es nicht, was für eine Entwicklung ich gemacht habe. Deutsche Freunde sagen es mir nicht direkt, aber ich kriege es über Ecken zu hören: „Carmen, das tut dir alles gar nicht gut. Wenn du von den Veranstaltungen kommst, bist du immer fix und fertig.“ Ja, aber das ist normal, denn es ist ein Kraftakt. Aber wenn ich meine Stimme nicht erhebe, wird es keiner tun, und dann wird es irgendwann wirklich verschwinden. So ist es meine Aufgabe, aufzuklären und auch zu erzählen, denn ich brülle es ja auch raus, weil es ein tiefer, tiefer Schmerz ist. Zudem konfrontiere ich auch viele Menschen. Ich habe ja versucht, ein Ausstellungsprojekt zu machen, das ist fast 15 Jahre her, da bin ich gegen Granit, gegen verschlossene Türen gedonnert. Man hat sich über mich lustig gemacht, man hat mich nicht ernst genommen, man hat mich nicht wahrnehmen wollen. Bis vor ein paar Jahren haben sich die Leute, wenn ich über meine Geschichte erzählt habe, umgedreht, haben gedacht: „Was will die denn? Oh, wie unangenehm. Schon wieder diese Geschichte. Das wollen wir alles nicht hören,“ weil sie selbst sich nicht mit ihrer eigenen Geschichte auseinandersetzen. Und das ist ein ganz großes Problem. Nur dieses oberflächliche Keep smiling und Alles ist schick und Alles ist toll – das ist nicht die Realität! Gucken wir uns doch nur um. Wir sitzen selber hier in Deutschland auf dem Pulverfass und wissen nicht, wie es weitergeht, wenn dieser Verrückte in Amerika jetzt Präsident wird. Aber zurück zu mir. Bei Veranstaltungen wundere ich mich oft, was für Fragen uns gestellt werden. Gaby, kannst du dich noch erinnern? Dieser Mann, der sagte, er möchte so werden wie ein Sinte oder ein Roma und was er tun müsse, um so zu werden wie wir? Wir sind doch keine Exoten, die auf der Stirn stehen haben: Oh, bitte, macht uns nach. Wobei es genug gibt, die uns nachmachen. Das habe ich in Bozen selber erlebt. Da ist eine Professorin, die sich einsetzt für die Sinti und sich so anzieht und so eine Möchtegern-Sinteza ist und die mir kaum in die Augen schauen konnte. Plötzlich komme ich da um die Ecke, die Deutsch, Italienisch, Spanisch, Englisch spricht und Romenes ist und die erstmal um sich haut, und dann erzählt die da vor versammelter Mannschaft etwas über Zwangssterilisation. Das kann sie nicht machen, wenn ältere Sinti anwesend sind, einer auf dem Podium, ich auf der anderen Seite und hinten noch ein Sinto. Das ist ein absolutes No-Go! Obwohl sie vorher noch gesagt hat, dass sie dieses Thema nicht ansprechen würde. Hier muss unbedingt was passieren. Das heißt: Schulungen, Workshops und Aufklärung. Es bringt nichts, wenn ein Möchtegern Gutmensch sich jetzt hinstellt und glaubt (ich nehme das Wort jetzt mal in den Mund): „Der kleine Zigeuner, der ist ja dumm und hat ja keine Ahnung, den muss ich mal an die Hand nehmen.“ Und das finde ich ist fahrlässig und gefährlich, denn das tut uns überhaupt nicht gut. Gut, ich bin ein schlechtes Beispiel, weil ich sehr unabhängig und sehr emanzipiert bin und mir das alles nicht mehr gefallen lasse. Aber Wiedergutmachung: Es ist ganz schwierig, darauf die richtige Antwort zu finden, weil ich instrumentalisiert werde. Ich werde zensiert, ich werde bevormundet, man übergeht mich, man missbraucht meine Geschichte. Und dagegen täglich anzugehen ist unglaublich schwer. Das ist die Community, die so mit mir umgeht. Und die Mehrheitsgesellschaft.
BW: Gab es seinerzeit, auch seitens deiner Mutter, eine Diskussion zu dem Titel dieses Filmes DAS FALSCHE WORT der eigentlich vollständig heißt: DAS FALSCHE WORT- WIEDERGUTMACHUNG AN ZIGEUNERN (SINTI) IN DEUTSCHLAND? Heute würde es Fragen dazu geben. Zudem müsste man sagen, dass mit dem falschen Wort die „Wiedergutmachung“ gemeint ist und nicht die Fremdbezeichnung.
CS: Mama und Katrin Seybold haben schon länger darüber diskutiert. Aber Mama hat von vornherein gesagt, dass es da kein Aber gibt. Weil es ja genauso gewesen ist. Und so ist es ja auch noch in den Köpfen der Deutschen und nicht nur der Deutschen, sondern viele denken, der „Zigeuner“, der könne nix, der sei nix. Das typische Klischeebild ist halt: der, der die tolle Musik spielt, schöne Frauen, gerne auch halb nackig ums Lagerfeuer tanzend. Das ist in den Köpfen immer noch eingeprägt. Das gibt es immer wieder und häufiger. Und Mama hat ja auch ganz bewusst das Wort Zigeuner in den Mund genommen, um die Menschen zu provozieren. Das mache ich auch und es ist mir lieber, direkt und richtig, also links und rechts die Watschen zu verteilen, als drum herum oder so zu sprechen, dass man es selber gar nicht mehr versteht. Das passiert leider jetzt auch immer häufiger, weil viele von uns jetzt diese Allüren haben, dass sie wie ein Politiker sprechen wollen, aber sich selber nicht mehr verstehen. Da geht die Authentizität ja auch flöten. Also ich meine, entweder bleibst du bei deinen Wurzeln oder eben nicht. Natürlich gab es lange Abende in München oder in Frankfurt darüber, wie der Titel lauten soll. In dieser Zeit war ich gerade aus Argentinien zurückgekehrt und kam auf die Odenwaldschule. So war ich nicht oft dabei, wenn sie ihre Köpfe heiß diskutierten und überlegten, wie sie das Publikum am besten damit konfrontieren. Der Film wurde ja zum allerersten Mal in der Odenwaldschule gezeigt, vor den Jugendlichen. Ich war nicht dabei, weil das für mich als jugendliche Pubertierende ganz furchtbar war, dass die beiden an meiner Schule waren. Ich war regelrecht eifersüchtig, weil dann die Schüler aus der 13. Klasse meine Mama anhimmelten. Aber so war das nun einmal für mich in der Zeit! Katrin hatte immer gesagt, ich hätte nie Interesse gezeigt, aber das ist auch ein Selbstschutz gewesen. Denn wenn du nur damit aufwächst von klein auf... Und auch die Zeitzeugen, die ich noch kennengelernt habe in Düren, wenn die ihre Panikattacken hatten, das war für mich als Kind extrem. Ich habe die Ohren zugehalten, ich wurde rausgebracht in dieses furchtbare Treppenhaus, das waren damals diese Häuser, die noch Briketts hatten, diesen Gestank von Briketts habe ich heute noch in der Nase. Und diese dunkelgrauen Steintreppen, also so ganz etwas Dunkles, ganz furchtbar. Und dann war da die eine Tante, die ihre Panikattacken hatten, und diese ängstlichen Blicke von allen Familienangehörigen. Der Notarzt, der immer dann kam, um die Frau wieder irgendwie zu beruhigen. Das war damals halt so, das war etwas ganz Furchtbares für mich. Grauenhaft war auch die Erinnerung daran, wie unsere Männer... Meinen Großvater habe ich nie betrunken gesehen, aber den einen Sohn und auch die anderen. Die sind dann für drei Tage weggegangen und waren verschwunden. Und stocksteif, betrunken, im Unterhemd, ohne Hose sind sie dann wieder zurückgekommen. Sie haben gezockt und sich fast zu Tode gesoffen, um diese Gräueltaten, diesen Horror, den sie nicht mehr loskriegten, zu ersaufen. Ich habe einen Psychiater kennengelernt, in Imshausen, wo ich eingeladen war für die Freundeskreis-Gruppe. Da waren Schuldirektoren, Lehrer und er, Friedhelm der hat in Bad Hersfeld in der Psychiatrie ganz viele Sinti behandelt und hat mir dann auch erzählt, welche furchtbaren Ängste und Horror diese Zeitzeugen hatten, was die erlebt haben. Für sie war es der Alkohol, für die Frauen Tabletten und für die Jüngeren Drogen und die härtesten Sachen. Das hat sich so weiterentwickelt und das ist schlimm. Und ich das ist ja auch der Grund, warum ich mich mit diesem transgenerationalen, vererbten Trauma so intensiv auseinandersetze. Ihr müsst euch das vorstellen: Wenn ich nachts hier gelegen habe, wenn ich bei Mama war, dann konnte sie plötzlich nachts um drei in der Tür stehen und sagen: „Tita, schläfst du noch?“ „Mama, jetzt nicht mehr. Was ist denn?“ Und dann sagte sie: „Meinst du, ob unser Rudi doch noch lebt?“ Ja, danach kannst du auch nicht mehr schlafen. Ich habe auch oft gesehen, dass das Licht bei ihr im Zimmer an war, dann hat sie, weil sie nicht schlafen konnte, Kreuzworträtsel gelöst oder Namen alphabetisch aufgeschrieben, alle Mädchennamen und Jungennamen, weil ihr Kopf nicht zur Ruhe kam.
BW: Umso eindrucksvoller ist diese Ruhe, mit der der Film diese Aufarbeitung betreibt. Die Vielgestalt der Gesichter und der Menschen, die man in all ihren Lebenslagen sieht. Und dagegengestellt die Akten- und Identifikationsbilder. Und dagegen wieder die wunderbaren Fotos, manche gerettet und mit Spuren, andere schön gerahmt. Familienfotografien. Täterbilder.
CS: Ja, da hat sie auch eine Konfrontation gehabt mit den eigenen Leuten. Ich zeige auch die Bilder meiner Familie. Warum tue ich das? Ganz einfach: Ich kann einen Namen oder eine Nummer sagen, aber da hat man keinen Bezug zu. Wenn ich aber unseren Rudi zeige… Das habe ich in der Schule gemacht. Ich habe ihn vor meinem Platz aufgestellt, das haben die anderen Kinder gesehen. Das war ein großes Bild, wo er in der Schule sitzt und schreibt, schnieke angezogen, vor der Deportation. Denn nur abgemagerte Kinder oder Frauen oder Männer, das wollen wir nicht sehen. Wir waren Menschen voller Stolz, voller Kraft und nicht so, wie man es in den Filmen gezeigt hat, wo die Menschen so ausgemergelt aussahen. Und so habe ich an den Schülern gemerkt, dass die Kinder einen Bezug bekommen haben. Viele von uns aber sagen, man soll die Bilder von unseren Menschen nicht zeigen, weil man die anderen re-traumatisieren würde. Das stimmt nicht. Es ist so wichtig, es einfach zu zeigen, würdevoll. Es muss immer in Würde getragen werden. Und das hat Mama ja auch in dem Film sehr, sehr schön darstellen können. Ihr wurde oft gesagt, das sei nicht schön, das mache man nicht, man solle die Toten ruhen lassen. Ja, wenn ich das so höre und sehe, wie man immer mit Mama umgeht, dass kein Tag vergeht, wo nicht der Name Melanie Spitta fällt, dann sage ich immer: Oh Mama, irgendwann muss auch hier mal Ruhe hier sein, apropos, Gaby, 2025 ist ihr 20. Todestag. Ich habe schon überlegt, dass man da was machen müsste.
GB: Ja, vor allem auch in Frankfurt.
BW: Carmen, wir danken dir für dieses offene Gespräch. Du bist die Botschafterin und Vermittlerin dieses Films. Das ist der Auftrag, der mit dem transgenerationalen Trauma verbunden ist, damit diese Geschichte des Rassismus und der Nicht-Wiedergutmachung nicht einfach weitergeht.
CS: Ich sage immer, dass es so wichtig ist, dass man von uns was lernt. Das ist ein großer Wunsch von Mama gewesen und ein großer Wunsch von mir, dass man von uns was lernt und nicht uns immer versucht zu erziehen. Man hat uns schon das Rückgrat gebrochen, aber man muss jetzt nicht schon wieder anfangen oder über uns hinweg agieren. Wenn wir anwesend sind, wird auch über uns hinweg gesprochen. Das ist ganz, ganz furchtbar. Ich habe daher für das Gespräch nach dem Film Petra Rosenberg vorgeschlagen.