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Iracema

IRACEMA ist ein Anagramm von AMERICA - also ein Amerika, das auf dem Kopf steht.

Die Form des Films ist erstaunlich. Es handelt sich deutlich um einen Spielfilm, aber zugleich ist seine Erscheinung vollkommen dokumentarisch, obwohl die Hauptfiguren offensichtlich fiktive Charaktere sind. Bodanskys virtuos geführte Handkamera bewegt sich durch reale Schauplätze und folgt einer rudimentären Geschichte, an der sich die Wirklichkeit zugleich bricht und enthüllt. Ich vermute, dass Bodanskys Studium an der Hochschule in Ulm, an der Alexander Kluge und Edgar Reitz Film unterrichteten, ihn mit dem Realitätshunger infiziert hat, von dem eine ganze Generation von Filmstudenten nachhaltig geprägt wurden. 

Die Sonde, mit der hier die brasilianische Wirklichkeit untersucht wird ist Iracema, ein indigenes Mädchen von 15 Jahren, das nach langer Flussfahrt von seiner Familie in der Hafenstadt Belem ausgesetzt wird - so ist ein Mund weniger zu stopfen. Zum ersten Mal in einer großen Stadt, saugt sie fasziniert Menschenmassen und Märkte, religiöse Festivitäten und weltliche Vergnügungen ein. Ein Ordnungssystem dafür hat sie ebensowenig wie Geld oder auch nur eine Idee, wie dies zu beschaffen wäre. Jedem Sinneseindruck gegenüber offen, ist sie zugleich in keiner Weise gewappnet für das Überleben in dieser für sie neuen Welt. Sie lernt Männer kennen, der Schritt in die Prostitution folgt unmittelbar und wird zur Geschäftsgrundlage ihrer Existenz. Iracemas Erleben und Erdulden wird dem Film zum Sinnbild für die vergewaltigte Natur und die bedrohte Urbevölkerung Brasiliens, deren Lebensgrundlage durch die bis heute fortschreitende Ausbeutung des Amazonasgebiets in jeder Weise bedroht ist. (Inzwischen hat die Klimaänderung durch die Abholzungen im Jahr 2024 - 50 Jahre nach der Uraufführung des Films - ein Maß erreicht, das unter anderem Brasiliens Rolle als einer der wichtigsten Kaffeeproduzenten der Welt bedroht: die Kaffeesträucher verdorren, weil es nicht mehr regnet.)

Auch die Arbeiter, die die „Transamazonica“ immer weiter in den Urwald treiben, kommen nicht wirklich auf ihre Kosten. Sie schuften sich zu Tode, während die Profite aus dem Landraub in den Konzernzentralen in den Städten hängenbleiben. Es wäre interessant zu berechnen, wieviel Wohlstandsanteil der europäischen Nutzer der dort entnommenen Rohstoffe auf die Kosten derer geht, die wir in IRACEMA an den Straßenrändern sitzen oder auf den Baustellen schuften sehen. Das ist freilich nicht Gegenstand des Films, der sich jeder weiteren Schlussfolgerung enthält und den Weg seiner Hauptfigur eher zu einer überzeitlich gültigen Passion verdichtet. Das wache Kameraauge Jorge Bodanskys registriert die kleinste ihrer Regungen, zeichnet jedes Detail ihrer ärmlichen Behausungen auf, wird Zeuge jeder Demütigung und noch der kleinsten Reaktionen, die die täglichen Enttäuschungen auf ihrem Gesicht für einen Moment widerspiegeln. Am Ende bleibt Iracema sich selbst überlassen am Strassenrand zurück -  ihr Leben wie ihr Körper ist ein Wegwerfartikel geworden. 

IRACEMA wurde 1974 für die Redaktion „Das kleine Fernsehspiel“ des Zweiten Deutschen Fernsehens produziert und im Mai 1975 erstgesendet. Später lief der Film auf der Semaine de la Critique des Filmfestivals in Cannes und auf weiteren Festivals, gefolgt von einer internationalen Kinoauswertung. Das 16mm-Originalnegativ des Films und das Magnetband der Tonmischung blieben im Archiv des ZDF bewahrt und konnten durch das Engagement der Archivarin Kerstin Eberhard für die Digitalisierung und Restaurierung zur Verfügung stehen. Eine Kürzung von ungefähr vier Minuten, die vor der Sendung vorgenommen wurde und nur den Ton betraf, konnte auf Basis des bei den Filmemachern verbliebenen Tonnegativs wieder in den Film eingefügt werden.

Martin Koerber

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