Im Jahre 1959 errichten die Bauarbeiter der neuen brasilianischen Hauptstadt Brasília die Stadt Vila Amaury, um dort selbst mit ihren Familien zu leben. Ihre Unterkünfte zimmerten sie aus Reststoffen der nahegelegenen Baustelle zusammen. Die Ansiedlung wuchs schnell, bis sie ein Jahr später mit einem künstlichen See geflutet wurde, der einen Ausgleich für das trockene Klima der Region schaffen sollte. Diese Geschichte wird in AFTERWATER nicht erzählt, doch an dieser Stelle beginnt mein Film. Auf Tauchgängen in den flachen Gewässern des Lago Paranoá, wo die Überreste der Stadt noch immer zu sehen sind, machte ich Aufnahmen für zwei meiner früheren Projekte. Menschen, die diese Bilder sahen, erzählten mir im Gegenzug ihre eigenen Geschichten von anderen Seen, von denen sie wussten, dass sich an ihrem Grund ebenfalls Ruinen verbargen. So nahm mein neues Filmprojekt, See für See, langsam Formen an.
George Evelyn Hutchinson war Ökologe, Zoologe und Biologe. Er gilt als Begründer einer völlig neuen akademischen Disziplin, der Limnologie, die sich mit den physikalischen, biologischen und chemischen Eigenschaften von Seen und anderen Binnengewässern befasst. Sein diesbezügliches Schlüsselwerk trägt den Titel „A Treatise on Limnology“ und wurde in vier Bänden in den Jahren 1957 bis 1993 publiziert. Darin schreibt er: „In Jahren oder Menschenleben gemessen hat es den Anschein, als ob Seen dauerhafte Merkmale von Landschaften seien. Doch in geologischen Zeiträumen betrachtet, haben sie nur eine begrenzte Lebensdauer, entstehen vielfach durch Naturkatastrophen und versiegen und sterben still und ohne viel Aufhebens.“
Wie stellt man sich etwas vor, das zugleich nah und unerreichbar scheint, den Elementen unterworfen und an dessen Wasseroberfläche nur ein glänzender Spiegel zu sehen ist?
Durch die Begegnung mit Hutchinsons Werk verwandelte sich mein ursprüngliches Filmprojekt über versunkene Siedlungen und untergegangene Geschichten in einen Film über Seen im Allgemeinen, in ihrer Eigenschaft als Biotope, aber auch als Hort der Fantasie. Wie stellt man sich etwas vor, das zugleich nah und unerreichbar scheint, den Elementen unterworfen und an dessen Wasseroberfläche nur ein glänzender Spiegel zu sehen ist? Eine Flut von Ideen strömte auf mich ein. Mir kam Miguel de Unamunos „Nivola" aus dem Jahre 1931 in den Sinn. In „San Manuel Bueno, mártir“, erzählt er die Geschichte eines fiktiven Dorfes am Ufer eines Sees nach dem Vorbild des Lago de Sanabria in Zamora. Angeblich soll sich an dessen Grund eine versunkene Stadt befinden, in der alle Probleme und Krisen, die das Leben über der Wasseroberfläche bestimmen, bedeutungslos sind. Oder auch Theodor Fontanes Roman „Der Stechlin“, den er in den Jahren 1895 bis 1897 schrieb und der untrennbar mit dem gleichnamigen See in Brandenburg verbunden ist. Es gibt slawische Volksmärchen über Wassergeister, die Gedichte von Wislawa Szymborska und die Bücher von Anna Tsing.
Angesichts dieser unterschiedlichen Strömungen, die mich in alle erdenklichen Richtungen zogen, kam mir die Idee, einen Film so flüssig wie Wasser selbst zu machen. Ich wollte mit einer Geschichte beginnen und sie nahtlos in eine andere überfließen und durch Analogien, Reime und Echos immer weiter auseinanderdriften lassen. Ich nutzte die Filmkunst als Mittel, um eine Vielzahl von Arten, Sprachen, Materialien, Zeitebenen und Möglichkeiten des Zusammenseins zu erfassen. Ich wechselte von der Gegenwart in die Vergangenheit in die Zukunft, vom Digitalen zu Analogfilm zu Videos, von Gemeinschaft zu Gemeinschaft und Körper zu Körper, die durch eine bestimmte Art von Landschaft treiben: eine reflektierende Oberfläche, auf die Bilder und Geschichten projiziert werden. Auf ihr, an ihrem Rand und um sie herum haben wir Freund*innen – auch aus meinen früheren Filmen – und Schauspieler*innen aus völlig anderen filmischen Universen und Tänzer*innen versammelt, ohne in diesem Moment zu wissen, ob unser Werk narrativ, experimentell oder etwas völlig anderes sein sollte. Es waren flüssige Bilder. Ausgehend von der Erfahrung, im kalten Wasser zu treiben, und von dem besonderen Gefühl, von allem berührt zu werden, begibt sich dieser Film auf die Suche nach Verbindungen zwischen dem, was wir sind, was wir vergessen haben und was wir noch nicht sehen können.
Es waren flüssige Bilder
Als wir dabei waren, unseren Film im März 2020 fertigzustellen, ging ich tanzen. Wenige Tage später sollten solche Aktivitäten durch die Ausbreitung von Covid-19 für die kommenden Jahre nicht mehr möglich sein. Umgeben von Tausenden von Körpern im Takt der Musik, eingehüllt in dampfende Luft, sorgenvoll und doch ahnungslos über das, was vor uns lag, schoss mir ein Gedanke durch den Kopf: Zeit ist ein Rätsel und die Antwort ist jetzt. Nach diesem letzten Tanz hatte ich das Gefühl, als sei alles außer der Zeit stehengeblieben. Wenn ich heute über AFTERWATER nachdenke, dann scheint der Film nicht aus einer anderen Zeit zu kommen, sondern von der Zeit selbst zu handeln, von Wasser und Zeit, von dem Gefühl, dass das Wasser knapp wird und dass die Zeit knapp wird. Wohin können wir gehen? Was sollen wir tun?
Dane Komljen
Übersetzung: Kathrin Hadeler
Zitiertes Werk:
G. E. Hutchinson: „A Treatise on Limnology. Volume I: Geography, Physics and Chemistry“, John Wiley and Sons: New York, 1957.