Forum expanded Talk and Show
Episode 2: Materiality - Conversations
08.02. 14:00 - 17:00 Hamburger Bahnhof - Museum für Gegenwart (freier Eintritt)
Seltene Filme gibt es relativ häufig auf Filmfestivals zu sehen. Tatsächlich einzigartig ist jedoch, wenn die Arbeit eines Künstlers präsentiert wird, der in den vergangenen 45 Jahren stetig Filme, Fotografien und ästhetische Theorien produziert, diese jedoch nie der Öffentlichkeit präsentiert hat.
Forum expanded präsentiert: Stupide Strukturen, Glückliche Strukturen: Filme, eine Installation und eine Ausstellung von Ludwig Schönherr. Der deutsche Künstler Ludwig Schönherr begann in den späten 1950ern mit Malerei und Fotografie. Mitte der 1960er verlagerte sich sein Interesse von den bildenden Künsten zum Film. Zwischen 1967 und 1970, einer hochproduktiven Periode für den europäischen Experimentalfilm im Allgemeinen, drehte Schönherr zahllose kurze Super8- und 16mm-Filme, die spezifische technische und ästhetische Aspekte des Mediums, sowie dessen Verhältnis zur Repräsentation erforschten. Im Besonderen ging es um den Zoom, den Einsatz flackernder Farben und die Darstellung von Gesichtern. Ungefähr zur gleichen Zeit kaufte Schönherr sich seinen ersten Schwarzweißfernseher und produzierte eine lange Serie von "Elektronischen Filmen" – in Einzelbildern abgefilmte Fernsehbilder, unterbrochen von flackernden Farben. Diese wunderschöne und zeitlose Serie markiert den Startpunkt einer lebenslangen Fokussierung Schönherrs auf die Allgegenwart des Fernsehens und populäre kulturelle Bilder des modernen Alltags. Zu Schönherrs Werken gehören auch zahlreiche Fotos und Fotocollagen von Fernsehbildern. Fragt man ihn nach seiner Faszination für das Fernsehen, witzelt Schönherr: "Das Leben im Fernsehen ist viel interessanter als das echte Leben draußen."
Mitte bis Ende der 1970er, im Zuge mehrerer New York-Besuche, produzierte Schönherr einen erstaunlichen 107-stündigen Film auf Super8, ein "visuelles Tagebuch" aus Impressionen der Stadt, ihrer Einwohner und ihrer Fernsehkultur. Mitte der 1980er stellte er ein ähnlich überwältigendes Portrait von Hamburg her. Der 60minütige Film Das unbekannte Hamburg (1983-88) – das einzige mit öffentlicher Förderung finanzierte Werk des Künstlers – durchsetzt sorgsam kadrierte Einstellungen mit stummen Close-Ups von Ballerinas des Hamburger Ballets – Bilder, die an Andy Warhols Screen Tests erinnern. Neben Fernsehen und Stadtlandschaften sind auch die Ballerinas immer wiederkehrende Objekte von Schönherrs Blick, sowohl im Film als auch auf Fotografien. (In den 1960er Jahren schrieb Schönherr sogar selbst zwei Ballette.)
Das vielseitige Schaffen des Künstlers wurde begleitet von der Entwicklung immer neuer prägnant formulierter Theorien zu Film, Fernsehen und Fotografie. Die meisten dieser ein bis zweiseitigen Theorien befassen sich mit den formalen Strukturen, die der Organisation von Bildern in den jeweiligen Medien zugrundeliegen. Schönherrs Interesse an Form und Struktur in Praxis und Theorie vermeidet den Hang zum trockenen Akademikertum und die wichtigtuerische Humorlosigkeit, die das Denken vieler seiner Zeitgenossen im Bereich des formalen oder strukturellen Films bestimmt. Neben seinen eigenen Projekten war Schönherr regelmäßig in die Arbeit anderer Künstler und Freunde involviert. Er filmte Aktionen von Otto Mühl, fotografierte Performances von Nam June Paik oder Jack Smith, dem wegweisenden Underground-Künstler und steuerte 1979 einen Film zu Dieter Roths Hamburger Ballett bei.
Dass Schönherr seine Arbeiten nie in der Öffentlichkeit präsentiert hat, ist zu gleichen Teilen der Bescheidenheit und Eigenwilligkeit des Künstlers wie der Tatsache geschuldet, dass sein Werk sich einfacher Kategorisierung entzieht. Schönherr hat sich seinen eigenen Weg zwischen Fluxus und formalem Film gebahnt, seine Arbeiten sind weder streng strukturalistisch noch purer Pop.
Der Filmwissenschaftler und Forum expanded Gast-Kurator Marc Siegel hat in enger Zusammenarbeit mit Ludwig Schönherr Beispiele aus vier Jahrzehnten künstlerischer Arbeit ausgewählt, die unter dem Titel Stupide Strukturen, Glückliche Strukturen nun zum ersten Mal präsentiert werden. Das Programm umfasst drei Filmprogramme, die Installation Sonata für vier Fernseher (1969-70) im Filmhaus und eine Ausstellung von Fotos, Filmen, Objekten und Texten aus dem gesamten Schaffen Schönherrs.
Filmprogramm #1
Zoom Doku Deutschland 1967-69, Super8, 18 Minuten
Das unbekannte Hamburg Deutschland 1983-88,
16mm, 60 Minuten
Filmprogramm #2
Face I und II Deutschland 1968/69, Super8, 9 Minuten
New York. Ein visuelles Arbeitstagebuch Deutschland 1976-79,
Super8, 60 Minuten
Filmprogramm #3
New York. Ein visuelles Arbeitstagebuch Deutschland 1976-79, Super8, 720 Minuten
Marc Siegel ist wissenschaftlicher Mitarbeiter im Sonderfoschungsbereich “Kulturen des Performativen” an der Freien Universität Berlin. Als freischaffender Kurator präsentierte er im Rahmen von Forum expanded 2007 Underground Übersee: Von Jack Smith und Andy Warhol nach Zanzibar. Er ist Mitbegründer der Künstlergruppe CHEAP.