4. Der dokumentarische Spielfilm bildet etwas ab, was wirklich geschieht. Seine Schauspieler müssen, da es kein Drehbuch gibt, das ihnen sagt, was sie zu tun und zu sagen haben, im Augenblick des Drehens erfinden, was sie tun und sagen. So wie wirkliche Personen im alltäglichen Leben. Da jedoch auch das Alltagsleben als Ganzes nicht wiedergegeben werden kann, müssen Ausschnitte festgelegt werden (wie im Dokumentarfilm). Diese Ausschnitte sind der Rahmen, an den sie sich halten müssen. Aber eine andere Begrenzung gibt es für sie nicht. Ich habe zwei Filme in dieser Art, MADE IN GERMANY UND USA (1974) und TAGEBUCH (1976), gemacht.
Mein Prinzip war es in diesen Filmen, so wenig Fiktion wie möglich in das, was ich gefilmt habe, hineinzubringen. Fiktion ist beim improvisierten, dokumentarischen Spielfilm nur eine Art von Medizin, die dem Patienten, den Schauspielern, erst dann verabreicht wird, wenn eine ernsthafte Krankheit vorliegt, wenn der Ablauf der Geschichte ins Stocken zu geraten scheint. Wobei ich Geschichte nicht wörtlich verstanden wissen will. Eine Geschichte im üblichen Sinne wird sowieso nicht erzählt. Denn Geschichte heißt ja, daß das, was erzählt wird, schon vergangen, schon vorher festgelegt ist.
5. Beim Drehen eines improvisierten, dokumentarischen Spielfilms formieren sich Wirklichkeitsausschnitte zu verschiedenen „Reihen", deren „Schnittpunkte" nicht festgelegt werden, deren Bedeutung offen — oder besser noch — variabel bleibt. Diese in freier Assoziation — und aus der Zusammenarbeit mehrerer Personen — entstandenen „Reihen" bilden von Drehtag zu Drehtag im Bewußtsein des Filmmachers und seiner Mitarbeiter ein immer komplizierteres (und für den nicht am Entstehungsprozeß Beteiligten unübersichtlicheres) Bezugssystem, in dem sich zurechtzufinden und das zu verdichten — so wie eine Spinne ihr Netz immer feiner und enger webt — bei allen Beteiligten eine immer intensivere Begeisterung auslöst. Also genau die entgegengesetzte Situation wie die von Truffaut beschriebene.
Die Tatsache, daß es während der gesamten Drehzeit, bis zum letzten Drehtag offenbleibt, ob nicht an diesem Tage eine Szene entstehen wird, die die Bedeutung alles Vorangegangenen über den Haufen werfen wird und die alles bisher Geschehene, Erarbeitete und Erlebte in einem neuen Licht erscheinen lassen wird, ist eine Herausforderung an die Phantasie jedes an diesem Prozeß Beteiligten.
Da solche Szenen mehrmals während der Dreharbeiten entstehen, können die Mitarbeiter, die darauf nicht vorbereitet sind, sehr leicht Schwindelgefühle bekommen und — vorübergehend — jede Orientierung verlieren. Der einzige Fixpunkt, an den sie sich halten können, ist dann das Ende der vereinbarten Drehzeit. Daher hat bei dieser Art des Filmens die Länge dieser vorher vereinbarten Arbeitszeit und auch das zur Verfügung stehende Negativmaterial eine so große Bedeutung.
6. Der improvisierte, dokumentarische Spielfilm gibt dem Filmmachen und seinen Mitarbeitern die Freiheit, die die Ausübenden anderer Künste immer schon für sich in Anspruch genommen haben. Die „freie Tätigkeit der Phantasie", schreibt Hegel, ist die „Quelle der Kunstwerke". Der Filmmacher ist nicht mehr nur damit beschäftigt, einen in seinem eigenen oder in einem anderen Kopf erfundenen Film in Töne und Bilder umzusetzen, zu „realisieren". Er ist nicht mehr nur ein Realisator, sondern er macht etwas, wo vorher nichts war.
Und das auf diese Weise spontan entstandene Produkt kann vielleicht auch das Feuer der Begeisterung widerspiegeln, das zu seiner Entstehung führte, und wenn überhaupt, gelingt e vielleicht dieser Art von Filmen wieder, daß ein Funke davon auf das Publikum überspringt.
Der Filmmacher, der diese Methode benutzt, arbeitet nicht nach einem fertigen, in sich abgeschlossenen Modell (wie es ein Drehbuch darstellt), sondern setzt einen Prozeß in Gang, dessen Wesen es ist, das, was gemacht werden soll, zu suchen, in dem Modell und Gestalt (Werk) zusammenfallen, in dem das Auszudrückende und der Ausdruck, Inhalt und Form, eins werden.
7. Diese Art des Filmemachens verfährt analog zur Wissenschaft. Wie jene will der Filmmacher etwas herausfinden, was er vorher nicht wußte. Diese Art des Filmens ist ein Abenteuer, eine Forschungsreise ins Unbekannte (es spielt dabei natürlich keine Rolle, wo der Film gedreht wird). Der Filmmacher will herausfinden, wie sich Menschen verhalten und dies darstellen. Wenn man den Begriff „Ethnographie“ nicht nur auf fremde, „primitive“ Völker, sondern auf sein eigenes bezieht, habe ich im Grunde schon mit MADE IN GERMANY UND USA und TAGEBUCH‚ ethnographische Spielfilme‘ gemacht. Es scheint mir nur konsequent, daß ich nach diesen beiden Filmen versuche, den eingeschlagenen Weg fortzusetzen, indem ich die Methode des Filmemachens, die ethnographische, jetzt zum Thema, zum Gegenstand, meines neuen Films mache.
Und hätte ich bei jenen Filmen noch die Wahl gehabt, mit oder ohne Drehbuch zu filmen (da mir die Personen und ihre Verhältnisse vertraut waren), so bleibt mir bei dem geplanten neuen Film keine andere Möglichkeit, denn ich kenne die Bewohner von Ureparapara nicht und weiß auch nicht, wie sich Europäer verhalten, wenn sie mit einer derartig fremden Welt konfrontiert werden. Alles, was ich hier erfinden könnte, wäre Lüge und Scharlatanerie.
Filmkritik Nr. 245, Mai 1977, S. 226 - 229