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Rudolf Thome ist Filmemacher. Seine Filme MADE IN GERMANY UND USA (1974), TAGEBUCH (1975), DAS MIKROSKOP (1988), TIGERSTREIFENBABY WARTET AUF TARZAN (1998) hatten ihre Weltpremieren im Forum.

2000 war sein Film PARADISO - SIEBEN TAGE MIT SIEBEN FRAUEN im Wettbewerb der Berlinale zu sehen. Den vorliegenden Text schrieb er zur BESCHREIBUNG EINER INSEL (Forum 1979, Ko-Regie mit Cynthia Beatt). Er erschien auf dem Forum-Filmblatt des Films.
 
Der Dokumentarfilm RUDOLF THOME - ÜBERALL BLUMEN von Serpil Turhan wird im diesjährigen Forum als Special Screening uraufgeführt.

1. François Truffaut sagt in DIE AMERIKANISCHE NACHT, daß das Filmemachen am Anfang die Realisierung eines kühnen Traumes sei, dann (wegen der Schwierigkeiten, die sich dem ursprünglichen Plan in den Weg stellen) zu einem fortlaufenden Kompromisseschließen werde und damit ende, daß man froh sei, den Film überhaupt zu einem Ende zu bringen. Dieser Weg von der anfänglichen Begeisterung zu Nüchternheit und Sachlichkeit, welche schließlich in Resignation und Gleichgültigkeit münden, ist für den Filmmacher nicht zwangsläufig. Er ist vor allem bedingt durch die Arbeit mit einem „Drehbuch", durch die vorherige, detaillierte Festlegung dessen, was bei den Dreharbeiten entstehen soll. Aus der Perspektive des im Kinosessel sitzenden Zuschauers sieht das Resultat der Bemühungen des Filmmachers dementsprechend aus: er sieht „Kino" — bunte, sich bewegende Bilder, denen es im besten Falle gelingt, ihn für eineinhalb Stunden das wirkliche Leben draußen vergessen zu lassen. Die Mehrzahl der Filme, die zur Zeit in unseren Kinos laufen, ist nicht so, daß sie uns „vom Stuhl reißen". Und auch die besten wirken auf merkwürdige Weise flach, steril und künstlich. In ihnen gibt es nichts Lebendiges mehr. Wenn das letzte Bild auf der Leinwand erloschen ist, ist auch der Film tot.

Woran liegt das? Sind die Filme der 70er Jahre soviel schlechter als die der vergangenen Jahrzehnte? Das könnte so sein, ist aber ziemlich unwahrscheinlich. Weitaus wahrscheinlicher ist eine Veränderung unserer Sehgewohnheiten, unseres Rezeptionsverhaltens. Wäre es nicht denkbar, daß das Fernsehen nicht nur unser Freizeit-Konsum-Verhalten verändert hat und damit die Kino-Industrie zumindest in diesem Lande an den Rand des Abgrunds gebracht hat, sondern daß es auch unsere Bedürfnisse, die Anforderungen, die wir an das stellen, was wir im Kino sehen, verändert hat? Was sind denn die aufregendsten Sendungen im Fernsehen in den letzten Jahren gewesen? Fußballspiele, Boxkämpfe und live gesendete Talk-Shows: Abbildungen, Widerspiegelungen von etwas, was im gleichen Augenblick, in dem wir es sehen, stattfindet. Wir werden in diesen Sendungen zu Zuschauern und auch Beteiligten (wir haben in manchen Talk-Shows die Möglichkeit, aktiv zu werden, indem wir den Sender anrufen) eines Prozesses, von dem keiner mit Sicherheit weiß, wie er ausgehen wird. Mit dieser grundsätzlichen Offenheit und Authentizität einer Fernseh-Live-Sendung muß sich der Filmmacher und die Filmindustrie, soweit es die außerhalb Hollywoods noch gibt, heute auseinandersetzen.

2. Beim Filmemachen ohne Drehbuch, ohne ein vorher schriftlich festgelegtes Gerüst, sieht die Situation des Filmmachers wesentlich anders aus. Er arbeitet nicht nur an einem Film, wo alles, was getan wird, nur zum Scheine, zur Täuschung (durchaus nicht im negativen Sinne) des Zuschauers getan wird, wo am Ende einer Szene mit der Kamera fast auch die Darsteller „ausgeschaltet" werden. Er arbeitet mit seinen „Darstellern" an einem wirklichen Projekt mit allen Risikofaktoren des wirklichen Lebens, welches auch unabhängig vom Laufen der Kamera ausgeführt werden muß.

Es gibt keinen klaren Anfang und kein klares, eindeutiges Ende. Es gibt nicht das Verhältnis von schon Gemachtem zum noch zu Machenden, ein Verhältnis, das sich im Laufe der Dreharbeiten eines herkömmlichen Films nach einem Drehbuch unaufhörlich zuungunsten des Letzteren verschiebt und das den Filmmacher, denkt er an das, was er am Anfang im Kopfe hatte und an die Kompromisse, die er gemacht hat, zwangsläufig deprimiert.

Dreht man ohne Drehbuch, existiert nur das, was getan ist, und der Zeitraum, den als Drehzeit zu nützen, man mit seinen Mitarbeitern vereinbart hat. Das täglich belichtete Filmmaterial basiert nicht auf Szenen, die man selbst (oder ein anderer) sich vorher ausgedacht hat, und die man nun recht und schlecht in filmbare „Wirklichkeit" umgesetzt hat, sondern auf einer Tätigkeit, die die Darsteller auch ohne Kamera an diesem Tage ausgeübt hätten, auf ihren konkreten Bedürfnissen und Wünschen, Stimmungen und Gefühlszuständen. Die von einem ohne Drehbuch filmenden Team gefilmten Szenen sind im Original, ein einmaliger, nicht wiederholbarer Abschnitt eines Stückchens der Wirklichkeit, nicht die Wirklichkeitskopie eines beschriebenen Blattes Papier — einer Drehbuchseite.

Die Energie und Kraft aller daran Mitarbeitenden ist direkt in das Arbeitsprodukt geflossen, nicht in einen Umsetzungsprozeß.

Bei einem Film, der nach einem Drehbuch gedreht wird, wird der größte Teil der Arbeitsenergie davon aufgesogen, für die im Drehbuch beschriebenen Personen, Schauplätze und Gegenstände Entsprechungen aus der Wirklichkeit zu finden. Man sucht manchmal tage-, wochen- oder sogar monatelang nach einem bestimmten Schauspieler, nach einem bestimmten Drehort usw. Beim Filmen ohne Drehbuch ist das, was die Kamera abbilden soll, in der Regel schon da. Das wichtigste Problem, das hier auftaucht und auf das sich alle Beteiligten konzentrieren, ist, ob die Personen etwas anderes machen sollen als das, was sie sonst (ohne die Anwesenheit der Filmkamera und der sie bedienenden Techniker) auch machen würden: das Problem der Relation von Fiktion und Wirklichkeit.

3. Was ist ein „dokumentarischer Spielfilm?" Der Begriff, der in den letzten Jahren immer häufiger aufgetaucht ist (und formal eine contradictio in adjecto ist) hat zwei verschiedene Bedeutungen. Die erste bezeichnet einen Dokumentarfilm mit einer einfachen Spielhandlung (vielleicht muß man NANOOK, DER ESKIMO von Robert Flaherty — 1921 — bereits dazu zählen, weil die meisten seiner Szenen gestellt sein sollen). Die zweite Bedeutung — und das ist die jüngere und wichtigere —bezeichnet einen Spielfilm, der mit Methoden des Dokumentarfilms gedreht worden ist.

Der Dokumentarfilm gibt etwas in der Wirklichkeit Vorhandenes wieder, ist also ein direktes Abbild von Ausschnitten der Realität. Seine Kunst besteht darin, da man die ganze Wirklichkeit nicht wiedergeben kann, wie er diese Ausschnitte auswählt und wie er sie zusammenfügt, so daß zumindest der Eindruck einer Totalität entsteht. Der Spielfilm gibt etwas Gemachtes, etwas Fiktives wieder, ist also im Falle des realistischen Films eine „doppelte Widerspiegelung" (Lukács) der Wirklichkeit. Seine Methode ist indirekt. Seine Faszination basiert auf der Spannung zwischen dem fiktiven, erfundenen Charakter der Gegenstände, der Personen und ihrer Handlungen, die er abbildet und der Authentizität alles im Film Abgebildeten (alles, was von der Filmkamera abgebildet wird, muß auf irgendeine Weise wirklich sein, muß geschehen sein, damit die Linse der Kamera es abbilden konnte). Von dieser Spannung hat der Spielfilm bisher gelebt.

Durch den zigtausendfachen Gebrauch dieser Verfahrensweise hat sie sich im Lauf der Zeit immer mehr abgenützt, ist zu einer bloßen akademischen Pflichtübung geworden, ist die Wirksamkeit fast erloschen. Der konventionelle Film versucht, das Publikum zu fesseln, indem er ihm immer neue Gegenstände vorsetzt (die abzubilden, sich vorher noch niemand getraute). Und er versucht das Publikum durch die Art, wie er diese Gegenstände darstellt, in einer Eskalation von Gewalt und Grausamkeit zu schockieren, zu reizen und aus der Fassung zu bringen. Die technisch am perfektesten gemachten Filme heute verläßt der Zuschauer in einem Zustand dumpfer Betäubung.

Als vorläufig letzte Etappe in dieser Entwicklung bietet sich der dokumentarische Spielfilm als ein möglicher Ausweg an.

4. Der dokumentarische Spielfilm bildet etwas ab, was wirklich geschieht. Seine Schauspieler müssen, da es kein Drehbuch gibt, das ihnen sagt, was sie zu tun und zu sagen haben, im Augenblick des Drehens erfinden, was sie tun und sagen. So wie wirkliche Personen im alltäglichen Leben. Da jedoch auch das Alltagsleben als Ganzes nicht wiedergegeben werden kann, müssen Ausschnitte festgelegt werden (wie im Dokumentarfilm). Diese Ausschnitte sind der Rahmen, an den sie sich halten müssen. Aber eine andere Begrenzung gibt es für sie nicht. Ich habe zwei Filme in dieser Art, MADE IN GERMANY UND USA (1974) und TAGEBUCH (1976), gemacht.

Mein Prinzip war es in diesen Filmen, so wenig Fiktion wie möglich in das, was ich gefilmt habe, hineinzubringen. Fiktion ist beim improvisierten, dokumentarischen Spielfilm nur eine Art von Medizin, die dem Patienten, den Schauspielern, erst dann verabreicht wird, wenn eine ernsthafte Krankheit vorliegt, wenn der Ablauf der Geschichte ins Stocken zu geraten scheint. Wobei ich Geschichte nicht wörtlich verstanden wissen will. Eine Geschichte im üblichen Sinne wird sowieso nicht erzählt. Denn Geschichte heißt ja, daß das, was erzählt wird, schon vergangen, schon vorher festgelegt ist.

5. Beim Drehen eines improvisierten, dokumentarischen Spielfilms formieren sich Wirklichkeitsausschnitte zu verschiedenen „Reihen", deren „Schnittpunkte" nicht festgelegt werden, deren Bedeutung offen — oder besser noch — variabel bleibt. Diese in freier Assoziation — und aus der Zusammenarbeit mehrerer Personen — entstandenen „Reihen" bilden von Drehtag zu Drehtag im Bewußtsein des Filmmachers und seiner Mitarbeiter ein immer komplizierteres (und für den nicht am Entstehungsprozeß Beteiligten unübersichtlicheres) Bezugssystem, in dem sich zurechtzufinden und das zu verdichten — so wie eine Spinne ihr Netz immer feiner und enger webt — bei allen Beteiligten eine immer intensivere Begeisterung auslöst. Also genau die entgegengesetzte Situation wie die von Truffaut beschriebene.

Die Tatsache, daß es während der gesamten Drehzeit, bis zum letzten Drehtag offenbleibt, ob nicht an diesem Tage eine Szene entstehen wird, die die Bedeutung alles Vorangegangenen über den Haufen werfen wird und die alles bisher Geschehene, Erarbeitete und Erlebte in einem neuen Licht erscheinen lassen wird, ist eine Herausforderung an die Phantasie jedes an diesem Prozeß Beteiligten.

Da solche Szenen mehrmals während der Dreharbeiten entstehen, können die Mitarbeiter, die darauf nicht vorbereitet sind, sehr leicht Schwindelgefühle bekommen und — vorübergehend — jede Orientierung verlieren. Der einzige Fixpunkt, an den sie sich halten können, ist dann das Ende der vereinbarten Drehzeit. Daher hat bei dieser Art des Filmens die Länge dieser vorher vereinbarten Arbeitszeit und auch das zur Verfügung stehende Negativmaterial eine so große Bedeutung.

6. Der improvisierte, dokumentarische Spielfilm gibt dem Filmmachen und seinen Mitarbeitern die Freiheit, die die Ausübenden anderer Künste immer schon für sich in Anspruch genommen haben. Die „freie Tätigkeit der Phantasie", schreibt Hegel, ist die „Quelle der Kunstwerke". Der Filmmacher ist nicht mehr nur damit beschäftigt, einen in seinem eigenen oder in einem anderen Kopf erfundenen Film in Töne und Bilder umzusetzen, zu „realisieren". Er ist nicht mehr nur ein Realisator, sondern er macht etwas, wo vorher nichts war.

Und das auf diese Weise spontan entstandene Produkt kann vielleicht auch das Feuer der Begeisterung widerspiegeln, das zu seiner Entstehung führte, und wenn überhaupt, gelingt e vielleicht dieser Art von Filmen wieder, daß ein Funke davon auf das Publikum überspringt.

Der Filmmacher, der diese Methode benutzt, arbeitet nicht nach einem fertigen, in sich abgeschlossenen Modell (wie es ein Drehbuch darstellt), sondern setzt einen Prozeß in Gang, dessen Wesen es ist, das, was gemacht werden soll, zu suchen, in dem Modell und Gestalt (Werk) zusammenfallen, in dem das Auszudrückende und der Ausdruck, Inhalt und Form, eins werden.

7. Diese Art des Filmemachens verfährt analog zur Wissenschaft. Wie jene will der Filmmacher etwas herausfinden, was er vorher nicht wußte. Diese Art des Filmens ist ein Abenteuer, eine Forschungsreise ins Unbekannte (es spielt dabei natürlich keine Rolle, wo der Film gedreht wird). Der Filmmacher will herausfinden, wie sich Menschen verhalten und dies darstellen. Wenn man den Begriff „Ethnographie“ nicht nur auf fremde, „primitive“ Völker, sondern auf sein eigenes bezieht, habe ich im Grunde schon mit MADE IN GERMANY UND USA und TAGEBUCH‚ ethnographische Spielfilme‘ gemacht. Es scheint mir nur konsequent, daß ich nach diesen beiden Filmen versuche, den eingeschlagenen Weg fortzusetzen, indem ich die Methode des Filmemachens, die ethnographische, jetzt zum Thema, zum Gegenstand, meines neuen Films mache.

Und hätte ich bei jenen Filmen noch die Wahl gehabt, mit oder ohne Drehbuch zu filmen (da mir die Personen und ihre Verhältnisse vertraut waren), so bleibt mir bei dem geplanten neuen Film keine andere Möglichkeit, denn ich kenne die Bewohner von Ureparapara nicht und weiß auch nicht, wie sich Europäer verhalten, wenn sie mit einer derartig fremden Welt konfrontiert werden. Alles, was ich hier erfinden könnte, wäre Lüge und Scharlatanerie.

Filmkritik Nr. 245, Mai 1977, S. 226 - 229

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