„Es gibt Werke, die gewinnen, wenn sie nicht verstanden werden.“ – Simon Leys
Fernando Birri ist als Person recht bekannt, womöglich bekannter als seine Filme. Er war Gründer wichtiger Filmschulen in Argentinien und Kuba und nachdem er sein Studium in Italien beendet hatte, machte er Filme, die ihre Zeit prägten wie „Tire Dié” (1960) und „Los inundados” (1962). Auch wenn seine späteren Werke nie wieder die Höhe seines Frühwerks erreichten, so blieb sein Name doch immer mit dem „Neuen Lateinamerikanischen Film” verbunden. Das ist etwas, das vielen Regisseuren im Laufe der Filmgeschichte passiert: Einige erfolgreiche Titel überstrahlen den Rest ihrer Filmografie. Dennoch ist ORG (mit diesem Begriff assoziert man heute Internetdomains, seinerzeit spielte er auf die Begriffe Organ, Orgasmus und Orgie an) mehr als ein vergessener Film. Es ist ein Film, der die besten Arbeiten seines Autors übertrifft und vielleicht sogar seine Gedanken über das Kino selbst. In Birris Worten: „Es ist der einzige Film aus meinem gesamten Werk, den ich für mich selbst gemacht habe.“
Die Synopsis des Films, einer sehr eigenen Adaption von Thomas Manns „Die vertauschten Köpfe”, lässt den Wahnsinn der Handlung erahnen, (es ist eine wahre Herausforderung für die Zuschauer, der Erzählung zu folgen), aber sie ist nur eine Art Wegweiser für die zahlreichen anderen exzessiven Bestandteile, aus denen sich ORG zusammensetzt.
„Einige Jahre nach der Explosion eines Atompilzes, hilft der Schwarze Grrrr seinem Freund, dem Weissen Zohoom seine Geliebte Shuick zu erobern; ein Liebesdreieck entsteht. Einige Zeit danach befragt der eifersüchtige Zohoom eine elektronische Wahrsagerin über seine Frau und den Freund, erhält die Bestätigung seines Verdachts, und schneidet sich, völlig verzweifelt, den Kopf ab. Grrrr – der Freund, der Schwarze – tötet sich ebenfalls, als er ihn tot findet. Die Frau – Shuick – entdeckt die beiden und versucht sich eine Klippe herunterstürzen, wird aber von der elektronischen Wahrsagerin daran gehindert, die die beiden Freunde wieder zum Leben erweckt. Shuick ist wieder mit den beiden vereint, aber ihre Köpfe sind vertauscht (Einschub: versehentlich oder nicht?), und schnell kommt es zwischen den beiden Körpern zum Streit darum, wer nun die Frau bekommt. Ist der Mann sein Kopf oder sein Geschlecht? Das ist die Frage, die der Film offen lässt.“
Wie gesagt, bietet ORG noch eine Reihe weiterer bemerkenswerter Details: Die Produktion begann bereits im Jahre 1968 (das ist kein Zufall) und erstreckte sich über zehn Jahre, acht Monate und vierzehn Tage. Produzent und Protagonist ist Terence Hill (bekannt durch seine Figur Trinity, die er in Dutzenden von Spaghetti-Western verkörperte). Im Nachspann des Films sind sechs Kameraleute aufgeführt (unter ihnen einige Unbekannte, aber auch Größen der Branche wie Ugo Piccone und Mario Vulpiani). Der Film ist drei Personen gewidmet, deren Namen sowohl Spuren legen als auch Verwirrung stiften: Georges Méliès, Wilhelm Reich und Ernesto „Che“ Guevara. Er zeigt Archivmaterial von Jean-Luc Godard, Herbert Marcuse, Jonas Mekas, Glauber Rocha und Roberto Rossellini.
Auch wenn das wie ein sinnloses Delirium wirken mag, waren Fernando Birris Beweggründe sehr konkret: einen Zustand absoluter Freiheit zu erreichen, etwas machen, an das niemand glaubte, einen Film, der so frei war, dass seine einzelnen Filmrollen sogar in beliebiger Reihenfolge gezeigt werden konnten (eine Idee und eine narrative Form, die aus dem Roman „Rayuela“ von Julio Cortázar stammt) und aus dem sich das Publikum jederzeit ausklinken konnte, um etwa eine Zigarette zu rauchen oder auf die Toilette zu gehen und sich danach wieder in das Erlebnis zu stürzen. Ein experimenteller Spielfilm, dessen Umgang mit Ton und Bild äußerst originell war, fest davon überzeugt, dass Verrücktheit und Strenge Hand in Hand gehen können, ein Film, der die herkömmlichen Vorstellungen von Kamera und Schnitt über den Haufen wirft. Wie üblich in jener Zeit, wurde ORG von einem Manifest begleitet, in dem von „KoSmunismus, einem kosmischen Kommunismus, für ein kosmisches, delirierendes, proletarisches Kino“ gesprochen wurde. Kurz gesagt handelt es sich um einen Film voller Widersprüche, um das wahnsinnige, freie und egoistische Werk eines realistischen Regisseurs, der bis dahin Film als soziales Werkzeug aufgefasst hatte und jetzt die Zuschauer ermunterte, den Saal zu verlassen, wenn ihnen der Film nicht gefiel, weil, zumindest dieses Mal, das Publikum unwichtig war.
ORG bleibt bis heute ein eigenartiges Objekt und gleichzeitig ein Dokument seiner Zeit. Ein Werk, das wie ein Science-Fiction B-Picture mit Guy Debord wirkt, eine Begegnung zwischen den Prämissen seiner Zeit und einer erstaunlichen Freiheit. Nach all den Jahren ist ORG bis heute ein Geheimnis, über das immer noch viel zu sagen und zu schreiben bleibt, ein Geheimnis voller Widersprüche innerhalb der Filmgeschichte und noch mehr innerhalb der Filmografie und der Ideale seines Regisseurs. Von wie vielen Filmen kann man das schon sagen?