Celluloid Corridors Remixed
Eine Filmrolle wickelt sich in einen Strom von Zelluloidbewusstsein ab, in einen anderen Strang, der sich durch ein anderes Labyrinth in eine andere Zeit erstreckt. Durch Leben, Orte, Medien, Geschichten und Politik gezogen, ist der Zelluloidstrang paradoxerweise endlich, endet in einer runden Dose/einer Videokassette/einer CD/einer Festplatte, bringt eine Narration in das Chaos, projiziert Linearität/Vernunft. Während man in einem „lebendigen“ Filmarchiv steht, das seinen Standort zwischen einem früheren Krematorium und einem Friedhof gefunden hat, kommt einem José Saramagos „Alle Namen“ in den Sinn, besonders eine Schlüsselszene, in der der Protagonist einen labyrinthischen Friedhof betritt; es ist die Endstation einer langen, obsessiven, unorthodoxen Suche nach einer geheimnisvollen Frau. Ein mystischer Schäfer geht auf dem Friedhof herum und tauscht Grabsteine und Schilder aus in dem Versuch, allen Toten die gleichen Chancen zu geben, Besuch zu bekommen/für immer verloren zu sein. Der Protagonist gelangt an eine gesperrte/offene Straße. Kinogeschichte fängt hier an! Ich stehe an der Kreuzung, drei Tage nach dem Memorial Day, an dem das Porträt des großen haitianischen Journalisten Jean Dominique hier im Kino gezeigt wurde. Das Medium Film ist ein heiliges Medium. Wie eine Séance hat es die Kraft, die Toten heraufzubeschwören, les morts, l’Esperits, die unsichtbaren Welten. Denn es war der senegalesische Filmemacher Djibril Diop Mambéty, der einmal gesagt hat: „Kino ist Magie im Dienste der Träume, ist ein Geschenk unserer Vorfahren, die über dreitausend Jahre hinweg dafür gekämpft und den Weg geebnet haben.“ Filmdosen umgibt eine bestimmte Stille. In einem Archivraum sehen sie in ihrer robusten Form und Farbe nahezu identisch aus, und zwar so sehr, dass die Reihen von Rollen einer Wand/einem Durchgang gleichen. Ist es denkbar, dass ein Film zwischen diesem Zeitpunkt und dem Zeitpunkt seiner Premiere stirbt? Wo ein neues Stadium auf ihn wartet; Wiederauferstehung in Endlosschleife, während er das Reich der Untoten betritt. Leute sprechen über den Tod des Kinos: Student*innen, Cinephile, Wissenschaftler*innen, die Akademie, Kinobesucher*innen, die Jugend. Aber bevor wir diese Geschichte beerdigen, vor ihrem unausweichlichem Tod, sollten wir die Filmgeschichte öffnen, mit ihren Fluchtlinien, mit all ihren unerwarteten Mutationen und Abschweifungen. Wer hat das Kino erfunden? Kinogeschichte fängt hier an! Was geschah im Goldenen Zeitalter Hollywoods, seiner Blüte in den Hollywood Hills? Hollywood steht in der Schuld der uralten Grabstätten, aus denen es entstand. Den durchscheinenden Zelluloidstreifen mit bloßem Auge zu erkunden, bedeutet, ihn zu sehen und gleichzeitig durch ihn hindurchzusehen. Ein Film verweist sowohl auf sich selber als auch auf ein größeres Bild. Die Einzelbilder enthüllen Abbildungen, und zwischen den Einzelbildern kann ein Zusammenhang hergestellt werden. Dort, wo die Wände der Welt dünn werden und das Nichts durch den Riss einsickert. Wie beim Betrachten eines DNS-Strangs birgt es das Versprechen, man habe nach dem Aufwickeln mit etwas Fantasie/Nachforschung Zugriff auf Informationsschichten, persönliche und umfassendere Geschichten, die eine bestimmte Filmkopie im Laufe ihres Lebens/Nachlebens erlebt hat. Eine Geschichte der Wiederauferstehungen. Ich möchte von den Göttinnen des Kinos besessen sein. In der Zeitlosigkeit der Archivmentalität haben wir den Raum, von den Filmen zu sprechen, die uns betrachtet haben. Bilder können sich an ihre vergangenen Leben erinnern, als Abschnitte eines Kontinuums, bevor sie herausgeholt, isoliert, angeeignet/gefangen genommen wurden. Erinnert sich ein Schwarz-Weiß-Film an seine originale farbige Existenz? Wir müssen diesen Aberglauben und die archaische Vorstellung beibehalten, dass das Kino eine Seele hat, einen „gros bon ange“, dass das Kino Seelen hat, einen „petit bon ange“, und dass es alchemistische Reaktionen gibt, wenn Zelluloid und das Licht der Linse aufeinandertreffen, und das Unbekannte, im Tanz bis ans Ende aller Zeiten.
(Dice Miller, Mohamed A. Gawad, Berlin, 2018)