Die unglaubliche Reise des Seins
Will man sich gewählt ausdrücken, so ließe sich EU SOU O RIO von Anne und Gabraz als Film eines neuen kinematografischen Genres beschreiben: als Spektralfilm, der sich rund um den „neo-konkreten“ Künstler und Junkie Tantão (den Spitznamen hat ihm seine Schwester schon in Kindertagen verpasst) entwickelt und zu einer ausufernden und kontemplativen Offenbarung wird. Es geht hier mehr um die Freiheit des Seins, wie sie dem kreativen Akt zugrunde liegt, als um ein Pro oder Kontra zu synthetischen Drogen. „Ist es das wert? Oder nicht?“, heißt es rhetorisch in den kathartischen Lyrics eines der Songs von Tantão, der 1983 zusammen mit Márcio Bandeira und Lui die Post-Punk-Band Black Future gegründete.
Der Film zieht seine Betrachter*innen in den Bann und verschluckt sie. Für eine Weile begleiten wir Carlos Antônio Mattos, so Tantãos tatsächlicher Name, in seinem Alltag, einen Mann, der daran glaubt, dass „ein Künstler nicht stirbt, sondern sich selbst umbringt“. Die Erzählung suspendiert die Realzeit zugunsten eines unheimlichen und kosmischen Gefühls der Verkörperung einer Aura-Seele, die das Auge der Kamera und den „Voyeurismus“ des Publikums hinter sich lässt. „Musik ist aus Wasser gemacht. Wir sind in der Wasserkrise“, sagt Tantão.
EU SOU O RIO zeigt die Hyperaktivität, die Geschwätzigkeit, das „frittierte Hirn“, die idiosynkratische Paranoia jenes Mannes, dem hier Tribut gezollt wird. Der Film legt Tantãos Leben zunächst einmal nur offen dar, ohne es auf irgendeine Art und Weise zu beurteilen: eine synästhetische Erfahrung, in manchen Momenten ebenso mitten hineinzielend wie in Bruchstücken erzählt, mit einer stilisierten Sprache – beispielsweise in der ersten Einstellung, in der man nichts weiter hört (zu einem monochromatischen Bild im Stil von Derek Jarmans BLUE) als ein zerfleddertes, hyperbolisches Durcheinander aus Wörtern, Stimmen, Diktionen, Redewendungen, einzelnen oder aus dem Kontext gerissenen Sätzen, längst verinnerlichten Phrasen und eher „unbehaglichen“ Verben.
Und/oder: der Zoom der Kamera, die so nahe herankommt, dass sie Teil der Figuren selbst wird und Paula Gaitans SUTIS INTERFERÊNCIAS und A NOITE ebenso umschließt wie OS MONSTROS von Alumbramento oder TRANSEUNTE von Eryk Rocha. Und/oder: die Körnung eines digitalen Bildes, das immer noch dunkel ist, beinahe unsichtbar, und uns gerade so schon etwas zu erkennen gibt. Dieser Spielfilm – sein Innerstes nach außen gestülpt, von der Dunkelheit in den glasklaren Klang hinein, von der Unsichtbarkeit in den Fokus der Aufmerksamkeit gerückt (in dem Sinne, dass „mein Freund einen Film über mich macht“) –, dieser Film also, er teilt auf schizophrene Art und Weise etwas mit in seiner Unruhe und in seiner freien und offenen Verfasstheit, voller Absicht amateurhaft gehalten und mit der Intimität des Selbstgemachten.
Es geht um die Suche nach der Hellseherei. Es geht darum, einen Menschen zu zeigen, der „nicht gerne schläft“ und der sich so lange widersetzt, bis er in der Beschleunigung seine eigene Form der Stille erreicht. Alles hineingepackt in ein Wochenende mit diesem seit den 1980er-Jahren ikonischen Untergrundmusiker und bildenden Künstler aus Rio de Janeiro. Und Tantão schafft es – er spricht mit seinen Gemälden, er spricht mit seinen imaginären Freunden, die ein Teil von ihm sind. Wie viele Tantãos verstecken sich in Tantão? EU SOU O RIO ist ein Film sowohl über ihn als auch für ihn, ein Film, der ihm auf eine Art durch den Alltag folgt, die ebenso zeigt wie wiederholt: sein Vergrößerungsglas, mit dem er Fotos auf Facebook betrachtet, seine Zigaretten, das Kokain. Dieser Film ist Tantãos eigene Realityshow im Stile Andy Warhols. Es geht um seinen Stellenwert, darum, geliebt und umsorgt zu werden, und darum, seiner Kunst Ausdruck zu verleihen. „Das ist die Beglaubigung großer Kunst“, sagt Tantão.
Sind alle Geschichten wichtig? Muss jeder ein Darsteller in seinem eigenen Film sein? Ja! Jedes Mal begeben wir uns als Zuschauer*innen auf eine Reise, wir folgen seiner bizarren Vorstellung von einer flüssigen, „ehrlichen“ Kunst, welche sich die Ränder des Daseins als Form erschließt. EU SOU O RIO ist konkret und abstrakt zugleich. Der Film zeigt uns, dass jeder Künstler „missverstanden“ wird, solange er in seinen Tagträumen und seiner Faulheit nur „vorproduziert“; und ebenso, dass es für einen kreativen Kopf nur eine Logik gibt: eben die eigene Logik des Kreativen – er und seine Floppy Disks und seine unbeholfene Art zu laufen.
Dies ist Tantãos ureigenes BEING JOHN MALKOVICH, gedreht von Spike Jonze und geschrieben von Charlie Kaufman – eine Reflexion in farbigem Glas. Der Wahnsinn, sich selbst zu verlassen und bei neuen Ichs anzukommen, erscheint hier plötzlich menschlich, ebenso das Zurückkehren zum Ursprung und zum ersten Ich. Ist das zu irre für dich? Wer noch nie so etwas getan hat, soll sich bitte melden; zumindest, wenn er oder sie eine Künstler*in-Denker*in ist.
In EU SOU O RIO geht es nicht um die Stadt Rio de Janeiro. Es geht um die Strömungen jener Hirn-„Wasser“ selbst, die sich permanent in einer „Krise“ befinden. Sie schließen die Stadt mit ein, als Szenario und Übergang, in Form spontaner Aktionen derer, die die „versteckte“ Kamera nicht bemerken, während Tantão seine Bilder für den „realen Realismus [des Geldes]“ verkauft. Alles hier richtet sich gegen Normalisierung, Mittelmäßigkeit, die Passivität der Resignation und die ach so bequeme Apathie, die sich wie ein Alp auf unsere Wünsche, Begehren, Träume und die Chance auf Neues legt. Um es kurz zu machen: Es ist unmöglich, nicht Tantão sein zu wollen – und zwar wegen der Einzigartigkeit, Besonderheit und Individualität, die sich einstellt, wenn man Viele in Einem ist.
(Fabricio Duque: „A incrível Viagem do Ser“ in: „Vententes do Cinema“, 21.11.2017, URL: http://vertentesdocinema.com/2017/11/21/critica-eu-sou-o-rio/)