WATCHING THE DETECTIVES
Einer der besten Experimentalfilme des Jahres wird an einigen der üblichen Orte nicht zu sehen sein. Kenner*innen müssen gut nach ihm Ausschau halten (oder seinen Macher notfalls direkt kontaktieren, warum nicht?). WATCHING THE DETECTIVES, Chris Kennedys durch Crowdsourcing finanzierter Dokumentarfilm voller Pseudofakten und Zweideutigkeiten, die unser bester Freund – das Internet – uns so bereitwillig zur Verfügung stellt, sollte überall zur Aufführung kommen. Er ist ein Film von genau jener Sorte, die Kurator*innen und Programmer*innen vorgeben, zu wollen: Er ist rigoros, intelligent, formvollendet und beschäftigt sich mit jüngster Geschichte, um eine vertrackte gegenwärtige politische Situation zu illustrieren.
WATCHING THE DETECTIVES besteht ausschließlich aus Posts der Internetseite Reddit, die unmittelbar nach dem Bombenanschlag auf den Boston Marathon in einigen einschlägigen Diskussionsforen online gestellt wurden. Nach ersten Textnachrichten, die von flapsig bis bestürzt reichten, startete die eigentliche „Action“. Eine Gruppe selbst ernannter Reddit-Web-Detektive begann, von Polizei- und Verkehrskameras stammende Fotos des Tatorts auszuwerten, auf denen sie die vermeintlichen Täter zu entdecken hoffte. Jeder in der Menge, der einen Rucksack dabei hatte, nicht auf die Marathonläufer*innen achtete oder (wie könnte es anders sein) dunkle Haut hatte, wurde im Reddit-Gerichtshof zur verdächtigen Person.
Natürlich hätten diese übereifrigen Superschnüffler falscher nicht liegen können. Zunächst verdächtigten sie jeden, der einen schwarzen Jansport-Rucksack trug, dann fiel ihr Verdacht auf den vermissten Collegestudenten Sunil Tripathi (der sich umgebracht hatte, wie sich später herausstellte), und erst als die tatsächlichen Polizisten das Netz um die Tsarnaev-Brüder zugezogen hatten, einigten sich auch die Hobbyermittler auf sie als Täter. Kennedy verfolgt dieses kollektive Missgeschick in chronologischer Reihenfolge und gibt uns so eine kondensierte Version der Echtzeithysterie eines Internetmobs, der sich selbst zum Hilfssherrif ernannt hat.
Der Film erzählt in schnellem Tempo, lässt jedoch die nötige Zeit für Analysen. Und er ist so voller Texte, Fotos, Bildunterschriften und Diagramme, dass man sehr schnell vergisst, dass man einen Stummfilm ansieht. Kennedys Entscheidung für die Bildebene und gegen Ton ist weise, der Film bleibt so im rein visuellen Modus des Internets und baut seine Spannung im Stil einer langsam eskalierenden Panikattacke auf. Der sanfte Fluss von Staub und Kratzern auf dem 16-mm-Material, auf dem der Film vorgeführt wird, trägt zum Eindruck des Bewegungsdrangs im Werk bei. WATCHING THE DETECTIVES schreitet in treibender Geschwindigkeit voran, auch wenn man das kaum bemerkt.
Warum wird Kennedys Film also nicht öfter gezeigt? Nun, es ist noch früh, und ich vertraue darauf, dass er in den kommenden Monaten seinen Weg durch die Festivals antreten wird. Dennoch: Der Film ist meisterhaft und könnte nicht relevanter sein. Erst in dieser Woche, im Zuge der (grundsätzlich begrüßenswerten) Versuche, die Drecksäcke auf dem „Unite the Right March“ in Charlottesville zu identifizieren, passierte ein Fehler. Kyle Quinn aus Arkansas war nicht einmal in der Nähe der Demonstration, aber eine dieser in Charlottesville versammelten Blähungen in Menschengestalt sah ihm ähnlich genug, um die Interneträcher glauben zu lassen, die beiden seien dieselbe Person. Was also bleibt, ist die Frage: Wer überwacht die Detektive?
(Michael Sicinski: „Watching the Detectives“ in: Letterboxd, 05.07.2017, URL: https://letterboxd.com/msicism/film/watching-the-detectives-1/)