Cinema Diaspora
Zu einem Zeitpunkt, da neonationalistische und neofaschistische Bewegungen erneut versuchen, eine homogene weiße Nation zu schaffen, steht CINEMA OLANDA FILM nicht nur für eine andere Art von Kollektivsubjekt, sondern arbeitet auch aktiv an dessen Verwirklichung. Zentral sind dafür die Dreharbeiten. Die räumlichen und sozialen Gefüge Wendelien van Oldenborghs haben nichts mit den Feindbildern der Alt-Right zu tun, jenen „Safe Spaces“, die von verweichlichten und privilegierten Student*innen bevölkert werden, die sich vor den Herausforderungen des wirklichen Lebens drücken (wie Rassismus und Sexismus, vermutlich). Zum Glück bleibt man hier von den Trollen der Alt-Right verschont. Mit homogenen Räumen hat man es aber trotzdem nicht zu tun, eher schon mit unreinen, in denen Prozesse der (Trans-)Subjektivierung stattfinden können. Die Drehorte bringen ihre eigenen Geschichten mit. Das Setting von CINEMA OLANDA FILM – die modernistische Kirche Saint Bavo, die der Architekt Harry Nefkens in Pendrecht erbaut hat, einem von Lotte Stam-Beese geplanten Stadtviertel in Rotterdam – ist ein solcher Ort. Dass eine politisch linke Architektin wie Stam-Beese im Zuge ihrer modernistischen Stadterweiterung in Rotterdam einer katholischen Kirche einen derart zentralen Platz einräumte, ist dem historischen Kompromiss der „wederopbouw“-Jahre – der Jahre des Wiederaufbaus – geschuldet, in denen die religiösen (protestantischen oder katholischen) „zuilen“ (Säulen oder Stützen) eine letzte Blüte erlebten, bevor in den 1960er-Jahren ihr Verfall beginnen sollte. Seitdem wurden überall in den Niederlanden zahlreiche Nachkriegskirchen eingerissen oder umgewidmet. Dass Saint Bavo nach wie vor als Kirche in Betrieb ist, hat nicht zuletzt mit Migrant*innen zu tun, die unter anderem aus den (früheren) niederländischen Kolonien in der Karibik stammen. 2003 entzündete sich an der Banlieu-artigen Situation junger Migrant*innen im Rotterdamer Viertel Pendrecht eine Debatte über einen „spreidingsbeleid voor kansarme allochtonen“ – einen „Verteilungsschlüssel für benachteiligte Migrant*innen“, um der „Gettoisierung“* entgegenzuwirken. In einem bizarren historischen Twist handelt es sich bei „spreidingsbeleid“ um exakt denselben Terminus, der in den späten 1970er-Jahren die Verteilung von Migrant*innen aus Surinam über das Stadtgebiet von Rotterdam und auf verschiedene Hostels bezeichnete.
CINEMA OLANDA FILM setzt sich mit historischen Ereignissen und den historischen Figuren Lotte Stam-Beese und Otto Huiswoud auseinander. Huiswoud, ein in Surinam geborener, in New York lebender Kommunist, unterhielt enge Beziehungen mit Kunst- und Kulturschaffenden, besonders mit Lyriker*innen. Wie Stam-Beese verbrachte auch Huiswoud in den frühen 1930er-Jahren einige Zeit in der Sowjetunion. CINEMA OLANDA FILM besteht aus einer einzigen Sequenz, die mit den gleitenden Bewegungen eines Krans beginnt, dann auf eine eher holprige Handkamera übergeht und sich schließlich vom Platz vor der Kirche in das Gebäude hineinbewegt. Jemand verliest geschichtliche Daten, die Kamera fängt Gespräche und Balgereien ein, sie streift junge Gitarristen, die „Indo-Rock“ spielen (eine von jungen Migrant*innen aus dem früher holländischen Ostindien/Indonesien geschaffene Musikrichtung), bewegt sich entlang weiterer Gespräche zu einer Lesung von Langston Hughes’ Gedicht „Democracy“, bis sie schließlich bei der Performance einer jungen Band angelangt ist. Unter den Vorlesenden und Sprecher*innen befinden sich die Publizistin Lizzy van Leeuwen, die Künstlerin Patricia Kaersenhout sowie Mitchell Esajas vom New Urban Collective, das Teile von Otto und Hermina Huiswouds Aufzeichnungen verwaltet. Die Unterhaltung dreht sich um Archivdokumente, beispielsweise alte Ausgaben von „The Negro Worker“ oder eine Ausgabe von Roy De Cavaras und Langston Hughes’ Fotoessay „The Sweet Flypaper of Life“, das Hughes Hermine Huiswoud gewidmet hatte.
Wie schon frühere Arbeiten van Oldenborghs, beispielsweise MAURITS SCRIPT, ist auch CINEMA OLANDA FILM von einer Dialektik zwischen Textdokumenten und Gesprächen geprägt, die von ebenjenen Dokumenten ausgehen. Eine Arbeit wie PROLOGUE: SQUAT / ANTI-SQUAT**, die sich auf eine nicht ganz so weit zurückliegende Vergangenheit konzentriert wie CINEMA OLANDA FILM und eher auf gelebte Erinnerung setzt, ist dagegen von weniger stark struktuierten Gesprächen bestimmt. Trifft man in vielen von Van Oldenborghs Filmen – darunter eben CINEMA OLANDA FILM – auf Szenen, in denen jemand aus Publikationen oder Archivdokumenten vorliest, sieht man in PROLOGUE Roel Griffioen und Khadija al Mourabit mit Büchern wie „De stad is van ons“ (ein Manifest des belgisch-libanesischen Aktivisten Dyab Abou Jahjah) und „The City is Ours“ (ein von unterschiedlichen Autoren verfasster Sammelband über Hausbesetzungen). Und doch: Auch hier wird der Inhalt eher diskutiert als deklamiert.
Das gedruckte Wort ermöglichte moderne Emanzipationsbewegungen. Das gilt für den Marxismus ebenso wie für den Kampf gegen den Kolonialismus. Dabei versteht es sich von selbst, dass viele Protagonist*innen des Antikolonialismus sich auf den Marximus bezogen, darunter Otto Huiswoud. Für Huiswoud lag die prägende Erfahrung jedoch nicht in der industriellen Produktion im Kernland des Kapitalismus, sondern in der kolonialen Ausbeutung.*** Tagtägliche körperliche Erfahrung von Ausbeutung und Unterdrückung steht am Anfang der Entwicklung eines kritischen und aktiven Standpunkts. Um diese Erfahrung aber zu begreifen und zu kanalisieren, braucht es eine intensive Auseinandersetzung, braucht es Lektüre und Diskussion. Zu einer Zeit, in der ein neuer Analphabetismus nur noch ein biopolitisches Werkzeug unter vielen ist, ist es ein leichtes, den Verlust des gedruckten Wortes nostalgisch zu beweinen. Van Oldenborghs Arbeit ist da weniger sentimental. Sie überführt das geschriebene und gedruckte Wort in den akustischen und sozialen Raum einer post-gutenbergschen Welt. Texte werden hier in Auszügen verhandelt, sie werden zitiert, de- und rekontextualisiert – und dabei debattiert.
(Sven Lütticken: „Cinema Diaspora“, in: Lucy Cotter (Hg.): „Wendelien van Oldenborgh“, Berlin 2017, S. 102–104)
*Pendrecht stand in diesen Diskussionen oft beispielhaft für jene innerstädtische Hölle, die mit einem solchen „spreidingsbeleid“ verhindert werden soll. Vgl. www.mario-bosch.nl/pendrecht-vitaal.htm.
**Auch Teil der Installation „Cinema Olanda“ im Niederländischen Pavillon der 57. Biennale von Venedig 2017.
***Vgl. Regis Debray, „Socialism: A Life Cycle“, in: „New Left Review“, Juli/August 2007, S. 5–28.