Dekolonisiert diesen Ort
Michele Faguet über Laura Horellis Plakatinstallation „Namibia Today“
Im Juli 2016 erkannte das Auswärtige Amt der Bundesrepublik Deutschland in einem lang erwarteten Zugeständnis die fast vollständige Vernichtung der Herero und Nama im heutigen Namibia unter der deutschen Kolonialherrschaft des frühen 20. Jahrhunderts als Völkermord an. Bilaterale Verhandlungen über die Art der Wiedergutmachung dieses Verbrechens sind im Gange, aber Nachkommen von Überlebenden haben in New York eine Sammelklage eingereicht, um Entschädigungszahlungen zu fordern. Unterdessen hat eine Ausstellung zum deutschen Kolonialismus im Deutschen Historischen Museum Berlin kürzlich die These untermauert, dass die deutsche Herrschaft in Deutsch-Südwestafrika – mit ihren Konzentrationslagern, Zwangsarbeit und medizinischen Experimenten –, die bisher aufgrund ihrer Dauer von kaum mehr als 30 Jahren als unbedeutend angesehen wurde, eine grausame Blaupause für den Holocaust lieferte, drei Jahrzehnte bevor die Nazis an die Macht kamen. Berlins Kunstwelt hat sich dieser Episode deutscher Geschichte ebenfalls angenommen: In einer von den Sophiensälen in Zusammenarbeit mit dem KW Institute for Contemporary Art ausgerichteten Veranstaltung las die kubanisch-amerikanische Künstlerin und Autorin Coco Fusco Aussagen Einheimischer aus dem sogenannten „Blue Book“ (1918), das grausame Augenzeugenberichte des Massakers zusammenträgt.
Vor diesem Hintergrund hat die in Finnland geborene und in Berlin lebende Künstlerin Laura Horelli ein späteres und weniger bekanntes Kapitel der deutsch-namibischen Beziehungen aufgegriffen: Getrieben von dem Wunsch, sich vom moralisches Erbe des deutschen Kolonialismus sowie von der von ihr als neokolonialistisch wahrgenommenen Afrikapolitik Westdeutschlands zu distanzieren, finanzierte und druckte die ostdeutsche Regierung während der 1980er-Jahre die englischsprachige Zeitschrift der South West Africa People’s Organisation (SWAPO) – der namibischen Freiheitsbewegung, die die Unabhängigkeit des Landes von Südafrika 1990 herbeiführte, im selben Jahr, in dem die DDR aufhörte zu existieren. Horelli hat sich dieser Geschichte bedient und ein öffentliches Kunstwerk geschaffen, benannt nach der Zeitschrift „Namibia Today“, das von der Neuen Gesellschaft für Bildende Kunst in Berlin als Teil ihres Programms Kunst im Untergrund in Auftrag gegeben wurde.
Eine Reihe von Plakattafeln, die an den Wänden der U-Bahnstation Schillingstraße auf der Karl-Marx-Allee angebracht sind, zeigen die Titelblätter der zwischen 1980 und 1985 in der DDR produzierten Zeitschrift neben darauf bezugnehmenden, in Form von Collagen gestalteten Texten und Bildern. Eine zeigt den SWAPO-Vorsitzenden und späteren namibischen Präsidenten Sam Nujoma mit Fidel Castro beim sechsten Gipfeltreffen der Bewegung der Blockfreien Staaten in Havanna neben einem Ausschnitt des Impressums der Druckerei Fortschritt aus Erfurt. Ein anderes, das SWAPO-Soldaten in Ausbildung auf einem abgeschossenen südafrikanischen Militärhelikopter sitzend zeigt, ist gepaart mit einem Foto von Vertretern der Druckerei, die die Korrekturfahnen überprüfen.
Weitere sorgfältig durchdachte Kompositionen visualisieren eine Reihe von Mikrogeschichten, die die Aufmerksamkeit der Künstlerin weckten, wie jene der sogenannten Ossis von Namibia – Hunderte namibischer Kinder, die in der DDR ausgebildet wurden, um die zukünftige Elite eines unabhängigen Landes zu werden, nur um nach dem Fall der Berliner Mauer unvermittelt in eine Kultur zurückgeschickt zu werden, die zu verstehen sie kaum ausgerüstet waren. Eine andere konzentriert sich auf die Spende von hochwertigem Papier des finnischen Friedenskomitees, durch das sich „Namibia Today“ von anderen zu dieser Zeit in Ostdeutschland gedruckten Zeitschriften abhob. In einem der collagierten Bilder hat Horelli in einem Schwarz-Weiß-Foto die Kleider und Schürzen eines rein weiblichen Buchbinderinnenkollektivs koloriert. Die verspielte Geste betont die oft mit der DDR-Kultur assoziierte schäbige Ästhetik der späten 1970er-Jahre, während sie gleichzeitig darauf hinweist, dass die von Horelli gefundenen Archivdokumente fast ausschließlich von Männern bevölkert sind.
Ausgestellt unter der ikonischen Karl-Marx-Allee mit ihrer stalinistischen Architektur, die einst die Parteielite beherbergte (und in der die Künstlerin derzeit selbst wohnt), liefern die 18 Plakatwände einen bildlichen Nachweis des proletarischen Internationalismus, der ein kleines, ethnisch homogenes Land hinter dem Eisernen Vorhang dazu brachte, revolutionäre Bewegungen in Afrika und in anderen Regionen der Welt zu unterstützen. Die Installation bewegt sich vom Pathos des Memoirs weg, das charakteristisch ist für viele von Horellis Arbeiten – für die sie auf autobiografische Details wie ihre Kindheit unter finnischen Entwicklungshelfern in Nairobi zurückgegriffen hat –, hin zum Komfort des Archivs, um sich, wenn auch nur indirekt, zu den gegenwärtigen moralischen und ideologischen Auswirkungen von vernachlässigten oder unterdrückten Geschichten zu äußern. Ebenso wie sich Deutschland mit seinen kolonialen Verbrechen konfrontiert, erinnert die Künstlerin öffentlich an einen helleren Moment in der deutschen Geschichte inmitten eines Aufschwungs des Rechtspopulismus, der in den Teilen des Landes am weitesten verbreitet ist, die sich historisch am stärksten unterlegen fühlten, nämlich dem ehemaligen Osten. Es ist deswegen nicht unbedeutend, dass „Namibia Today“ entlang einer U-Bahnlinie ausgestellt wird, die vom Alexanderplatz aus nur in Richtung Osten fährt, in Gegenden, wo die sozialistische Solidarität mit der Entwicklungswelt weitgehend einer Anti-Flüchtlingsrhetorik gewichen ist, die von Angst und ökonomischem Eigennutz angetrieben wird. Horellis Umwidmung von Werbeflächen, die die Schnittstellen der Geschichte Namibias und Ostdeutschlands in den Blick nimmt, weist darauf hin, dass nicht nur eine andere Vergangenheit möglich ist, sondern auch eine andere Zukunft.
„Namibia Today“ war von Februar bis Oktober 2017 in der U-Bahnstation Schillingstraße in Berlin zu sehen.
Michele Faguet ist Autorin und Redakteurin und lebt in Berlin.
(Michele Faguet: „Decolonize This Place: Michele Faguet on Laura Horelli’s ,Namibia Today‘,“ in: „Artforum“, September 2017)