Der „Schwarze Marsch“ von 1975
Eigentlich könnte ich mich bereichert fühlen durch meine beiden gegensätzlichen „Herkünfte“. Aber die Liebe zwischen Osten und Westen steht oft unter einem schlechten Stern, besonders in den unruhigen Zeiten von heute. Ich denke über die Welt um mich herum nach und habe dabei die so tief mit Frankreich verbundene Idee der Freiheit im Kopf – in ihrem umfassendsten Sinn.
Ich fühle mich arm, wenn ich auf die Länder jenseits des Mittelmeers blicke, in denen die Freiheit sich nicht durchsetzen kann. Mein Film handelt von diesen Gegensätzlichkeiten und Grenzen.
Ich mache Filme, weil es nicht akzeptabel für mich ist, dass ein Mann oder eine Frau zu einer isolierten Marionette in den Händen einiger weniger wird, die über ihr Schicksal entscheiden. Deshalb könnte man das folgende Zitat von Jorge Amado als eine Art Zusammenfassung meines Films verstehen: „Die Welt ist ein Ort, an dem die legitimen Interessen des Staates da enden, wo niedere Beweggründe von Menschen ins Spiel kommen.“
APATRIDE zeigt Figuren, die nicht frei entscheiden können. Der Film bezieht sich auf das folgende Ereignis – vielleicht aber auch auf ein ganz anderes: Im Jahr 1975 traf Algerien die willkürliche, auf keiner gesetzlichen Grundlage beruhende, unmenschliche Entscheidung, Zehntausende von Marokkanern auszuweisen, deren Familien teilweise seit mehreren Generationen in Algerien gelebt hatten. Die meisten Betroffenen wurden ihres Besitzes beraubt, Familien getrennt. Jener „Schwarze Marsch“ war ein Angriff auf die menschliche Würde, die Menschen abhandenkommen kann, wenn man ihre Identität infrage stellt.
Ich wollte keinen Dokumentarfilm zu diesem Thema drehen, sondern die geschichtlichen Hintergründe einer persönlichen Geschichte beleuchten. Ich möchte mit diesem Film einen skandalösen politischen Akt weder rechtfertigen noch erklären, sondern ein Nachdenken über unsere Gesellschaft anstoßen, die ein feiger und ängstlicher Zeuge entsetzlicher Vorgänge ist. Es gibt nur Grenzen, die unserer Menschlichkeit gesetzt sind. (Narjiss Nejjar)
Gespräch mit Narjiss Nejjar: „Ich habe versucht, die Grenzen der Menschenwürde neu zu definieren“
Gabriela Seidel-Hollaender: APATRIDE basiert auf einem historischen Ereignis im Jahr 1975, als die damalige algerische Regierung die willkürliche Entscheidung traf, Zehntausende von Marokkanern, die seit mehreren Generationen im Land lebten, zu vertreiben. Was steckt hinter diesem Konflikt?
Narjiss Nejjar: Diese Vorgeschichte des Films ist kein politisches Manifest meinerseits, sondern eine Reflexion, ein Ans-Licht-Bringen eines menschlichen Dramas. Dieses Drama ist verbunden mit kilometerlangem Stacheldrahtzäunen, die bestimmte Menschen (die Ärmsten) in ihrer Freiheit einschränken und den Mächtigen den Weg zu noch größerem Einfluss ebnen. Wie ist eine friedliche Zukunft möglich, wenn ein Teil der Weltbevölkerung ausgeschlossen bleibt?
Wie ist die politische und soziale Situation zwischen Marokko und Algerien heute?
Ich bin Filmemacherin, und wenn ich traurig bin, weine ich, indem ich einen Film mache. Der politischen Analyse setze ich eine Haltung der „engagierten Poesie“ entgegen, weil dieser Grenzkonflikt eine übergeordnete Dimension hat und seine Bedeutung weit über die spezifische Situation zwischen Marokko und Algerien hinausreicht.
Ist das Leben Ihrer Protagonistin Hénia eine wahre Geschichte? Wo haben Sie sie getroffen?
Ja, ich habe Männer und Frauen getroffen, die diese Demütigungen erleiden mussten: Familien wurden auseinandergerissen, Kinder von ihren Müttern getrennt, Eigentum wurde konfisziert. Und was noch schlimmer ist: Einige von ihnen wurden staatenlos.
In Ihrem Film finden Sie Bilder, die den Betrachter das Gefangensein und die Sehnsucht der Protagonistin spüren lassen. Was war Ihr visuelles Konzept für diesen Film?
Ich wollte, dass man mit Hénia atmet, dass man ihren emotionalen Erschütterungen möglichst nahe kommt. Ich wollte die Zuschauer mit dem erstickenden, angstauslösenden Rahmen konfrontieren, in dem Hénia sich befindet, mit den Gegensätzen ihres inneren und äußeren Daseins, dem Gefühl, unter freiem Himmel gefangen zu sein.
Die Geschichte von APATRIDE wird mit minimalistischen Dialogen erzählt, wodurch die Situation und die inhärenten Konflikte noch intensiver wirken. Wie haben Sie das Drehbuch entwickelt?
Ich mag das Geräusch der Stille. Es duldet keine Abweichung von dem, worum es geht, und zwingt den Zuschauer zur Selbstbeobachtung. Dialoge verwässern manchmal die Kraft, die entsteht, wenn man innehält. Deshalb richte ich meine Kamera auf winzige Bewegungen meiner Figuren, um besonders intensive Momente einzufangen. Um von Verzweiflung zu erzählen, braucht man keine Worte.
Der Film verdeutlicht auf beeindruckende Weise patriarchalische Strukturen. Gleichzeitig sehen wir eine starke weibliche Protagonistin – obwohl sie fast sprachlos ist. Woher nimmt Hénia ihre Kraft und ihren Mut?
Hénia wendet sich in Richtung Vergangenheit. Ihre Geschichte hat die Dynamik einer Handlung, die sich rückwärts bewegt. Wenn man nach vorne gehen will, muss man vor allem verankert sein, mit seiner Ursprungsfamilie verbunden und eine eigene Identität haben. Hénia ist wie ein Phantom, sie ist von dem Verlust ihres „Heimatlandes“ besessen. Ihre Bewegung ist kaum greifbar, sie existiert nur, weil sie das Objekt der Begierde der Männer um sie herum ist. Ihre Existenz als Frau ist eine doppelte Strafe, weil sie mehr „Körper“ als „Geist“ ist. Erst als sie nichts mehr zu verlieren hat, kann sie gewinnen.
Hénia ist eine Kriegerin, die nicht aufgibt. Zu Beginn des Films sagt sie: „Meine Mutter hat immer gesagt, dass nur die Sonne die Grenzen überschreitet, ohne dass die Soldaten schießen.“ Diesen Satz versucht Hénia zu widerlegen, auf die Gefahr hin, ihr Leben zu verlieren. Mit jedem Schritt, den sie unternimmt, um die Grenzen zu überwinden, gewinnt sie ein Stück Würde und trotzt denen, die versuchen, sie zu versklaven. Hénia ist wie ein Schilfrohr, das sich biegt, aber niemals bricht.
Die Französin Lise empfindet Sympathie für Hénia. Sie verkörpert eine offenere Welt, die sie mit der jungen Frau teilen möchte. Gleichzeitig aber macht Lise deutlich, wie groß die Unterschiede zwischen ihrem und Hénias Leben sind und wie eng das Gefängnis ist, in dem Hénia leben muss. Diese Konstellation spricht Bände über die unterschiedlichen Lebensumstände in diesen Ländern. Aber auch Lise erleidet Demütigungen. Warum haben Sie sich entschieden, sie am Ende aufgeben zu lassen?
Die Konfrontation dieser beiden Frauen zeigt den Abgrund, in dem die Welt sich heute befindet. Unaufhörlich pochen Frauen, ob sie aus Patagonien kommen oder aus unserer näheren Umgebung, auf ihr Recht, respektiert zu werden. Es ist ein schwieriger Weg dorthin. Ich habe mit APATRIDE versucht, die Grenzen der Menschenwürde neu zu definieren.
Das Thema des Films scheint mehr denn je aktuell zu sein. Denken Sie, dass das Problem der Staatenlosigkeit eines Tages gelöst werden kann?
Ich bin Optimistin. Ohne ein humanistisches Bewusstsein gibt es keine Zukunft!
(Interview: Gabriela Seidel-Hollaender, Januar 2018)