Aitmatow als Stichwortgeber: Aminatou Echard über ihren Film
Die Vorgeschichte
Als ich vor zehn Jahren im Flugzeug saß und zum ersten Mal nach Zentralasien flog, dachte ich an Karawanenhändler und wunderschöne Pferde. Ich war völlig ahnungslos losgefahren, im Gepäck nur ein Buch: „Dshamilja“ [unterschiedliche Schreibweisen des Namens sind den Übertragungen aus dem Russischen geschuldet; d. Red.] von Tschingis Aitmatow, seinem ersten auf Kirgisisch verfassten Roman aus dem Jahr 1958. Ich fragte mich, wie die Sowjetzeit wohl die Region verändert hatte.
Ich fand leere und in ihrer Überdimensioniertheit beeindruckende Räume vor. Im Verlauf meiner Reise spürte ich die repressive Atmosphäre in diesen autoritären Staaten mehr und mehr. In Usbekistan sind die Blicke der Menschen verstohlen, die wenigen Passanten auf den Straßen bewegen sich schnell, im Schatten der Häuser. Die Diktatur wird hier offensichtlich. Im städtischen Raum merkte ich, ganz unerwartet, welche Auswirkungen sie hat. In diesen immer größer werdenden Räumen, in den verlassenen und so sauberen Straßen überkam mich ein Frösteln. Aus diesem Grund suchte ich Menschen in Dörfern und Städten, die im Inneren ihrer zur Straße hin fensterlosen Häuser gut geschützt waren.
Die Männer, die nicht arbeiten, halten sich in den Teehäusern oder in den Räumlichkeiten der Ortsgruppen des Viertels auf, während die Frauen zu Hause sind. Ich kam in Häuser, die innen bunt und warm sind. Als Frau stand mir die Welt der Frauen offen.
Während ich meinen Film BROADWAY vorbereitete – der erste Teil meiner Arbeit in Zentralasien –, konnte ich freundschaftliche Beziehungen knüpfen und lernte viele starke, wunderbare Frauen kennen. Mir fiel auf, dass alle, egal wo ich hinkam, „Dshamilja“ kannten. Diese Figur, Dshamilja, und der Roman begleiteten mich mit der Zeit überallhin, und im Lauf meiner Reise begann DJAMILIA, der Film, in mir zu reifen.
Louis Aragon hatte mich zu „Dshamilja“ gebracht, und „Dshamilja“ brachte mich zu den kirgisischen Frauen. Da ich das Buch dabeihatte, ließen sie sich auf ein Gespräch mit mir ein. Alle hatten eine Beziehung zu diesem fast heiligen Text, alle kannten ihn, das war wirklich überwältigend. Und weil Aragon diesen Roman ins Französische übersetzt hatte, leuchtete es den kirgisischen Frauen völlig ein, dass ich das Buch dabeihatte. Es verschaffte mir Zutritt in die kirgisische Welt von innen her. Ihre Willenskraft und das Moderne an ihr machen aus Dshamilja eine für ihre Zeit ungewöhnliche Persönlichkeit, und dem Schriftsteller Aitmatow war es gelungen, mit „Dshamilja“ eine Verbindung zwischen mir und den Frauen herzustellen. Weil der Roman minutiös die innere Entwicklung jeder seiner Figuren schildert, gab es keine Barrieren: Ich konnte diese Erzählung mit allen teilen, und sie teilten die Erzählung mit mir.
Anders als BROADWAY, der ein Film der Außenwelt ist und sich auf die städtischen Räume und die Diktatur konzentriert, ist DJAMILIA, in der Geborgenheit der Häuser und in der Begegnung entstanden, ein Film der Innenwelt.
Das Konzept des Films
Der Film spielt in Kirgistan, im Westen des Landes, in den Regionen Ferghana und Talas. Er konzentriert sich auf die Welt die Frauen. Auch wenn Kirgistan das liberalste der zentralasiatischen Länder ist, mussten politische Themen tabu bleiben, damit die Protagonistinnen eine Kamera an sich heranließen und sich öffneten.
Damit die Frauen sprechen, selbst zu Hause, besonders mit Fremden, muss sichergestellt sein, dass die Angehörigen, Nachbarn, Dorfoberen oder Arbeitskollegen nichts davon mitbekommen, und das Thema muss von der Familie akzeptiert sein.
„Dshamilja“ war der Anknüpfungspunkt, der Stichwortgeber für die Gespräche. Diese fiktive Figur war gut geeignet für meine Begegnungen mit den kirgisischen Frauen. Ich hatte bei den Treffen stets eine zweisprachige Ausgabe von „Dshamilja“ auf Russisch und Kirgisisch dabei.
„Dshamilja“ als Objekt: Für manche war es das Buch als solches, das ein Gespräch auslöste. Einige konzentrierten sich auf den Text und die Figur, während andere schnell von „Dshamilja“ abschweiften und auf sich selbst zu sprechen kamen.
Dshamilja als Figur: Sie ist Fiktion, eine poetische und imaginäre Figur. Sie verkörpert die Freiheit, die Kraft, die Verwirklichung der eigenen Wünsche und das Verletzen der Regeln der Gemeinschaft. Dshamilja wird geliebt und gehasst. Sie weckt Träume, aber sie begeht auch Verrat und fordert ihre Freiheit. Die Kraft dieser Figur gründet in ihrer Modernität, die auch aus heutiger Sicht noch grenzüberschreitenden Charakter hat, und in diesem erstaunlichen Paradox, das sie gewissermaßen zur Personifikation Kirgistans macht.
Zu den Treffen mit den Frauen hat mich Shahnoza begleitet, eine 30-jährige kirgisische Dolmetscherin mit kirgisisch-usbekischen Wurzeln, meine Komplizin und Kurierin.
Die Frauen sprechen über den Platz der Frau in der Gemeinschaft, über die Regeln des Gemeinschaftslebens, über ihre Wünsche, ihre Träume, und sie sprechen über die Liebe; sie geben Privates preis.
Über ihre Erzählungen nähern wir uns der großen Geschichte, dem Ende der Sowjetära und der Gegenwart, die sie „Demokratie“ nennen, und der Bedeutung, die all dies für sie hat.
Mittels der Fiktion, der Poesie der Figur Dshamilja zeichne ich intime Porträts dieser Frauen und lasse darin die Komplexität der Welt, in der sie leben, aufscheinen. Ich möchte die Kraft dieser Frauen zeigen, den Kampf, mit dem sie sich Räume der Freiheit bewahren oder erobern, in einer Umgebung, die ihnen wenig Freiheit lässt, aber die sich verändert und die, wie Rana sagt, allmählich freundlicher wird.
Die Sprachen des Films
In Kirgistan leben verschiedene Völker, die größten sind die der Usbeken, Kirgisen und Russen. Da Kirgisisch und Usbekisch eng miteinander verwandte Sprachen sind, konnte ich gemeinsam mit Shahnoza jeden treffen, der Kirgisisch oder Usbekisch sprach: Kirgisische Kirgisen und usbekische Kirgisen verstehen sich sehr gut. Auch wenn fast alle Russisch können, drücken sich die meisten lieber in ihrer Herkunftssprache aus. Denn man sagt nicht die gleichen Dinge auf Russisch oder auf Kirgisisch-Usbekisch: Persönliches, Intimes, eine Beschreibung der inneren Gefühle drückt man lieber auf Kirgisisch oder Usbekisch aus, während alles, was analytisch, theoretisch ist, eher der russischen Sprache vorbehalten ist. Es ist passiert öfter, dass in einem Gespräch zwischen drei Sprachen gewechselt wird. Diese Besonderheit ist Teil des Films.
Zu den Treffen mit den Frauen nahm ich Shahnoza mit, die außer Kirgisisch, Usbekisch und Russisch auch Englisch spricht. Sie hat ihr Übersetzerstudium mit Bravour abgeschlossen, ist aber, weil sie früh geheiratet hat, wie die meisten Frauen in Kirgistan zu Hause geblieben und hat sich um die vier Kinder gekümmert, die sie binnen weniger Jahre zur Welt gebracht hat. Sie hat ihren Ehemann nicht selbst gewählt und verlässt das Haus niemals ohne Begleitung. Seit unserer ersten Begegnung gab sie mir zu verstehen, dass sie für den Film zur Verfügung stünde und alles dafür Notwendige tun würde. Die Begegnungen und der sehr enge und direkte Kontakt mit den Frauen waren möglich, weil meine Dolmetscherin das gleiche „Leben“ wie diese führte.
Die Frauen des Films
Der Film porträtiert Frauen im Alter von 15 bis 72 Jahren. Die Frauen, die älter als 30 sind, haben noch in der Sowjetunion studiert. Unter ihnen sind viele Ärztinnen, Lehrerinnen, Professorinnen, Schriftstellerinnen. Auch die Frauen auf dem Land haben die Schule besucht, schreiben und lesen gelernt und besitzen infolgedessen eine gewisse literarische Bildung. In der Sowjetunion galt das Studium als anerkanntes Mittel zum sozialen Aufstieg, und Frauen wie Männer wurden bestärkt, diesen Weg zu gehen. Dieser Umstand hat in gewisser Weise zur Gleichberechtigung zwischen Mann und Frau beigetragen, und Frauen genossen dadurch wesentliche Freiheiten. Auch wenn ihre Ehen arrangiert waren und die Traditionen respektiert wurden, konnten Frauen sich eine gewisse persönliche Unabhängigkeit bewahren, die respektiert wurde.
Es ist also dem sowjetischen Schulsystem zu danken, dass alle, die ich auf meiner Reise traf, „Dshamilja“ kannten, und dass ich mich auf den Feldern mit Frauen wiederfand, die eine ungewöhnliche Art und Weise hatten, ihre Geschichte zu erzählen und ihre Umgebung zu analysieren.
Es gibt heranwachsende Frauen (die noch nicht verheiratet sind), Schwiegermütter (Frauen, deren Sohn bereits verheiratet ist und die bei der Schwiegertochter leben), Schwiegertöchter (junge Frauen, die vor Kurzem verheiratet worden sind). Sie leben in Kleinstädten oder Dörfern. Alle kennen „Dshamilja“, entweder das Buch oder die russische Verfilmung von Irina Poplawskaja („Dzhamilya“) aus dem Jahr 1969. Viele haben das Buch mehrfach gelesen beziehungsweise den Film mehrfach gesehen.
Der Film DJAMILIA handelt von 14 Frauenfiguren.
Die Schwiegermütter: Nurzat, Laborantin; Zarifahon, Chefbuchhalterin; Mubarak und Masuda, zwei verwandte Landarbeiterinnen im Ruhestand; Bulbunhan, Landarbeiterin im Ruhestand; Mira und Djamila, Vertreterinnen der Zeit der „Demokratie“.
Die Schwiegertöchter: Rana, Literaturwissenschaftlerin; Mavluda, Englischlehrerin; Shahnoza, Kirgisisch-Dozentin; Gulchair und Dilhumar, die nicht arbeiten können und eine besondere Beziehung zum Geschriebenen haben.
Die Jugendlichen oder Noch-nicht-Verheirateten: Baktygul und Janna, zwei Gymnasiastinnen, die in einem Kollektiv junger Feministinnen aktiv sind; Dolbar, Büroangestellte, die ihren Arbeitsplatz nicht wechseln will, weil sie darauf wartet, dass ihr türkischer Freund zu ihr zurückkehrt; Schülerinnen aus der Klasse von Shahnoza.
Was von Dshamiljas Seele heute noch lebendig ist
In den letzten Jahren habe ich Veränderungen beobachtet, die sich in kürzester Zeit vollzogen haben; manche waren in den Unterhaltungen zu spüren, andere im öffentlichen Raum. Zwei Faktoren sind dabei besonders hervorzuheben: Die Schule kostet jetzt Geld, es gibt keine Schulpflicht mehr, und der Islam spielt wieder eine Rolle.
Auf dem Land sieht man nur noch wenige Mädchen in den Schulen, Jungen sind privilegiert. Der Analphabetismus nimmt zu, Bücher gibt es kaum noch, sie werden kiloweise verkauft oder zum Heizen benutzt. Rana und Zarifahon konstatieren eine neue Entwicklung: Immer mehr Mädchen werden verheiratet, bevor sie 17 Jahre alt sind. Shahnaza arbeitet mit ihrer Klasse daran, dass die Mädchen eine eigene Meinung entwickeln, dass sie „Ich will“ und „Ich will nicht“ sagen können, und dass Jungen wie Mädchen auf ihre Gefühle achten.
Im gesamten Land gibt es die Tradition der Brautentführung durch den zukünftigen Ehemann und seine Familie. Djamilia war bereits entführt worden. Obwohl diese Tradition seit 2013 schwer betraft wird, weicht sie nur langsam: Man muss dagegen klagen, und nur wenige Frauen tun dies. Je nach Region wird mindestens eine von zwei Frauen, die älter als 23 sind, entführt. Wenn die jungen Frauen eine arrangierte Ehe akzeptieren, dann fürchten sie, für die Vermählung entführt zu werden. Bulbunhan, Mira und Dilhumar sind entführt worden. Es gibt nur wenige, die sich einer solchen Ehe verweigern. Die jüngere Schwester von Dilhumar hat sich geweigert, und wir erfahren etwas über die damit verbundenen Konsequenzen.
Unter diesen Umständen sind Paare, die einander frei gewählt haben, äußerst selten. Dilbar ist die Einzige, die jemanden geliebt hat, sie spricht über die Liebe, über den sozialen Druck, weil ihr die Verbindung mit dem Mann, den sie geliebt hat, nicht erlaubt war. Die Frauen in Kirgistan sind einem enormen Druck ausgesetzt. Ich zeige weder die Entführung noch die arrangierte Ehe. Da aber die meisten Frauen, um die es in DJAMILIA geht, entführt oder durch ihre Eltern verheiratet worden sind, sind diese Themen im Film präsent.
Trotz dieser Umstände hat jede dieser Frauen eine besondere Energie und eine gewisse Widerständigkeit. Sie stellen nicht immer das gesamte System infrage, aber sie kritisieren es und arrangieren sich, um leben zu können. Davon erzählen sie, mit ihren Worten, sensibel und oft poetisch.
Was die Religion betrifft: In der Sowjetzeit verboten, gewinnt der Islam zunehmend an Bedeutung. Diese Renaissance der Religion ist zu komplex, um hier behandelt zu werden, viele verschiedene Faktoren spielen dabei eine Rolle. Und DJAMILIA handelt nicht von Religion. Aber allein auf der Grundlage meiner Beobachtungen in den Jahren 2006 bis 2017 habe ich einschneidende Veränderungen im öffentlichen Raum festgestellt. Die Kirgisen sagen, die Moscheen seien „wie Pilze“ aus dem Boden geschossen. In der Tat habe ich sie deutlich „wachsen“ sehen: Während es früher eine Moschee pro Stadt oder Dorf gab, hat binnen vier Jahren jedes Viertel eine eigene Moschee bekommen. Kein einsamer Ruf zum Gebet mehr, sondern ein Appell per Lautsprecher und im Chor mehrerer Moscheen.
Was die Frauen betrifft: Ich habe beobachtet, wie innerhalb von zwei Jahren plötzlich überall Kopftücher aufgetaucht sind. Im Ferghanatal ist das geblümte Kopftuch aus Sowjetzeiten durch ein einfarbiges Tuch ersetzt worden, das Kopf und Haare bedeckt.
Diese Eckdaten sind wichtig für das Leben dieser Frauen, deren Äußerungen im Zentrum des Films stehen. Man kann davon ausgehen, dass die Religion im patriarchalischen System immer größeren Einfluss gewinnt. Der Film zeigt dies auf der Bild- und auf der Tonebene: Wir sehen verschleierte Frauen und hören die Rufe zum Gebet. Die Frauen sprechen nicht über Religion, aber der Film lässt uns verstehen, welche Rolle und welchen Einfluss diese auf das Lebensumfeld der Frauen ausübt. Rana versucht in einer Sequenz die komplexen Beziehungen zwischen den nationalen und den familiären Traditionen sowie der Religion zu erklären.
Die Frauen, denen wir im Film begegnen, beschreiben Dshamilja, als würden sie über eine Freundin sprechen – manchmal mit Zweifeln, ein anderes Mal scheint die Nähe zu ihr sehr groß zu sein.
Sie sprechen über ihre Erziehung, über die Widersprüche zwischen dem, was sie denken, wovon sie träumen, und dem Raum, der ihnen als Frau zugestanden wird. Sie sprechen über die Liebe, über Lebensentscheidungen, darüber, wie wichtig es ist, den Mädchen den Wunsch zu vermitteln, zu studieren und woanders Erfolg zu haben, damit sich die ihnen gesetzten Grenzen allmählich verschieben. Sie erzählen, wie schwer es ist, ihren Gefühlen zu folgen, weil man diese in Kirgistan nicht ausdrücken darf. Sie sprechen über die Lebensbedingungen der Frauen, ihren Platz in der Gesellschaft, das patriarchalische System, die Autorität der Schwiegermütter, sie berichten von der Beziehung zwischen Schwiegertochter und Schwiegermutter, die so zentral in ihrem Leben ist, und sie erzählen von den Entführungen.
In gewisser Weise aber tragen alle diese Frauen etwas von Dshamiljas Seele in sich: Sie legen Wert darauf, ihre Meinung frei zu äußern, und nehmen sich auch das Recht dazu. Sie enthüllen, analysieren, kritisieren, sie erzählen von sich, formulieren ihren eigenen Standpunkt. Sie wissen um den Unterschied zwischen dem Platz der Frau und der Freiheit, das Leben, die Arbeit, die Liebe frei wählen zu können. Sie berichten genau, geben Persönliches preis.
Zur Vorgehensweise
Ich habe mit einer Super-8-Kamera gedreht, wie schon bei meinem letzten in Zentralasien entstandenen Film BROADWAY. Jede Filmrolle umfasst eine Dauer von etwa drei Minuten; jede Einstellung erfordert deshalb besondere Aufmerksamkeit. Ich muss auf kleinste Ereignisse reagieren können. Die Einschränkungen des Mediums prägen meine Anwesenheit an den Drehorten und meine Beziehung zu diesen Orten und den gefilmten Personen.
Ich verstehe die Dreharbeiten als beobachtende und am Alltag teilnehmende Tätigkeit. Um in der Lage zu sein, die Gesprächssituationen in angemessener Weise zu filmen, versuche ich, langfristige Beziehungen zu knüpfen, wie beispielsweise in der über Jahre gewachsenen Freundschaft mit Shahnoza oder den Bewohnern der kirgisischen Dörfer, in denen ich gedreht habe. Ich lasse mir Zeit, um das Vertrauen der Menschen zu gewinnen und um den Moment zu spüren, in dem sie das gemeinsame Arbeiten zu akzeptieren beginnen. Es geht mir darum, all die Informationen über sehr persönliche Dinge und das beharrliche Nachfragen so miteinander zu verbinden, dass die Art und Weise, in der die einzelnen Frauen sich jeweils zeigen, in den Hintergrund rückt.
Eine Videokamera hätten die in DJAMILIA mitwirkenden Frauen nicht akzeptiert, dafür hätten sie ihren Ehemann oder ihre Schwiegereltern um Erlaubnis bitten müssen – unmöglich für die meisten von ihnen. Man hätte mich in diesem Fall an die Frauen verwiesen, die als „Weise“ offiziell für das Dorf gesprochen hätten. Stattdessen versuchte ich deshalb, eine Gesprächssituation zu schaffen, die mir Zutritt zu der Gedanken- und Innenwelt dieser Frauen verschaffte.
Ich habe während der Arbeit an dem Film in drei verschiedenen Dörfern gelebt. In dieser Zeit ließ ich mich von den Begegnungen und vom Rhythmus der Tage leiten. Ich ließ die Ereignisse auf mich zukommen und ging oft im Wald spazieren. Kirov war das zweite Dorf, in seinem Charakter etwas städtischer und rund 15 Kilometer von Djalal Aba entfernt. Es hatte sich schnell herumgesprochen, dass die Französin mit ihrer neugierigen Kamera wiedergekommen war. In den Tagen nach meiner Ankunft kamen viele der Frauen zu mir, aus purer Neugier: weil eine ihrer Freundinnen mich getroffen hatte; weil die Außenwelt ihnen sonst keine Gelegenheit dazu gibt, ihren täglichen Rhythmus zu unterbrechen; weil sie Lust haben zu reden, dabei zu sein, und weil sie es in den Augen der Dorfbewohner dürfen – denn ich war allein, eine Frau und Fremde. Zu einigen anderen Frauen musste ich hingehen.
Die Dreharbeiten fanden in zwei Phasen statt. Während der Beobachtungsphase filmte ich die Begegnungen, die Orte allein. Daran schloss sich dann die Phase an, in der ich in Begleitung von Shahnoza aufzeichnete, was gesprochen wurde.
Die Bilder
Die Bilder und der Rhythmus jeder einzelnen Erzählung richten sich danach, was während dieser Begegnungen passierte. Ein filmisches Motiv zieht sich jedoch durch den ganzen Film: Ich habe jede meiner Gesprächspartnerinnen von vorne gefilmt. Manchmal durfte ich in ihren Häusern filmen, manchmal nicht. Der Schnitt jeder Erzählung verrät also etwas von der Begegnung, die manchmal sehr lebendig, manchmal etwas zäh geriet und getragen war von den Äußerungen und der Stimme der Frauen. Ich habe versucht, die Einstellungen und ihre Länge den Regeln und Zwängen der Traditionen anzupassen, um die es in den Gesprächen ging.
Die Figur einer jungen Frau, die ähnlich entschlossen ist wie Dshamilja, ist mit einer jungen Schauspielerin besetzt, die selbst eine Dshamilja sein könnte. Sie verknüpft die Fäden der Erzählung, führt uns von einer Begegnung zur nächsten.
Es gibt Stellen im Film, die ohne Worte sind, gewissermaßen eine freie Übersetzung des Textes und der Worte in Bilder.
Die Textur des Bildes
Das so entstehende Bild entspricht nicht dem Super-8-Format „von damals“. Die Nostalgie vergangener Zeiten sollte hier keine Rolle spielen. Es kommt mir auf die Sinnlichkeit dieses Filmmaterials an, mit seiner sich ständig wandelnden Stofflichkeit, die uns manchmal den Eindruck vermittelt, als entstehe das Bild direkt vor unseren Augen, als hätte unser Blick die Kraft, es lebendig werden zu lassen. Ich wollte die Realität dieser Frauen einfangen und von innen her sichtbar machen. Dieses Material erlaubt mir, das Dazwischen zu untersuchen: diesen Bereich, in dem man sich zugleich in der Wirklichkeit und im Material befindet, in der plastischen Präsenz. Das Filmmaterial lässt die Körper der Frauen und ihre Gesichter aufscheinen, ihre Körperhaltung, ihr Zögern oder ihre Präzisierungen durch Gesten. Man benutzt dieses impressionistische Material, das körnige Filmmaterial, die Intensität der Farben und der Kontraste mit ihren minimalen Varianten, als würde man Musik komponieren. Man beschreibt die Atmosphäre eines Ortes durch sein Licht, indem man mit Helligkeit und Dunkelheit operiert, um das Vorhandensein der Körper, ihre Bewegungen herauszuarbeiten.
Der Ton
Super-8-Film ist stumm und nicht synchron. Ich musste daher bei den Dreharbeiten den Ton im Voraus mitdenken. Es machte mir Spaß, die Szenen zu planen, die ich synchron haben wollte, und dann separat nur den Ton aufzunehmen; zu sehen, zu hören und den Schnitt vorab im Kopf zu haben, die Assoziationen von Ton und Bild, den Rhythmus, die Atemzüge vorauszuspüren.
Die Tonspur besteht aus einer Mischung von Geräuschen der Umgebung, aus Stimmen und Schweigen. In den öffentlichen Räumen ist das Schweigen gewaltig, man hört fast nichts. Wenn ein Lada vorbeifährt, ist die Ruhe danach so laut wie das vorbeifahrende Auto selbst. Dieser Effekt bildet einen Kontrast zu der Gegenwart der Stimmen. Flüsternd oder deutlich hörbar, vermischen sie sich mit den Geräuschen der Umgebung. Ich lege besonderen Wert auf diese Details, die die herrschende Ordnung untergraben und das Vergehen der Zeit zeigen sollen. Diese Details lassen sich im visuellen wie im akustischen Raum finden. Der Ton entspricht nicht immer der Erwartung, die durch das, was man sieht, geweckt wird – beispielsweise wenn auf den großen Boulevards der Sowjetzeit der Ruf zum Gebet ertönt.
Schnitt
An der Montage des Tons habe ich von dem Moment an, in dem ich mit dem Bildschnitt begann, gemeinsam mit Gil Savoy gearbeitet, der Toningenieur, Toneditor und Komponist ist. Abwechselnd habe ich allein und mit ihm zusammen geschnitten. Dabei haben wir Bild und Ton zusammengebracht oder Ton und Bild einander gegenübergestellt, um ein zusammenhängendes Ganzes zu schaffen. Am Ende überlagert das Bild nicht den Ton, auch nicht die Stimmen; die drei Register existieren miteinander, antworten einander, treiben den Film voran in einer zu Beginn gewollten Asynchronität bis zu einer am Ende völlig synchronen und realistischen Szene im Stil des Direct Cinema.
Der Roman
„Dshamilja“ ist ein kurzer Roman in kirgisischer Sprache aus dem Jahr 1958, geschrieben von Tschingis Aitmatow (1928–2008), einem der großen kirgisischen Autoren. Das Buch wurde in etwa 20 Sprachen übersetzt. „Dshamilja“ erschien zunächst in der Zeitschrift „Novy Mir“. Louis Aragon entdeckte den Roman dort und übersetzte ihn ins Französische. Aitmatow, damals ein junger Autor, wurde dadurch international bekannt.
Als das Buch erschien, kontrollierte das sowjetische Regime sämtliche Publikationen, um den Bereich von Schule und Ausbildung im Land zu beeinflussen. Paradoxerweise wurde der Roman ein Klassiker, obwohl die Hauptfigur Dshamilja alle bestehenden Regeln verletzt und die Autorität ihres Vaters wie des Dorfoberen infrage stellt. Der Roman wurde seit seinem Erscheinen mehrfach für Film, Theater und Ballett adaptiert. Obwohl nach 1990 in allen zentralasiatischen Republiken autoritäre Regime an die Macht gelangten, wurde der Roman nicht verboten. Er ist in den Schulen der Kaukasusrepubliken fester Bestandteil des Lehrplans, ähnlich wie die Romane Victor Hugos oder Gustave Flauberts in Frankreich.
Die Handlung des Romans
„Dshamilja“ ist eine Liebesgeschichte, laut Aragon „die schönste Liebesgeschichte der Welt“. Im Vorwort zu dem Buch schrieb er: „Deshalb habe ich diese Geschichte übersetzt, wider alle Vernunft und in einer Zeit, die allem, was mich quält, entzogen wurde.“
Die Erzählung spielt im ländlichen Kirgistan zur Zeit der Sowjetunion während des Zweiten Weltkriegs. Die 20-jährige Dshamilja ist mit Sadyk verheiratet. Beide haben sich bei einem Pferderennen kennengelernt, bei dem Dshamilja gegen ihn gewonnen hatte. Sadyk fühlt sich vor den anderen Jungen gedemütigt und entführt sie, um sie zu heiraten. Am Tag nach der Hochzeit zieht Sadyk in den Krieg und lässt Dshamilja allein bei seiner Familie zurück. Sie arbeitet auf den Feldern und kümmert sich gemäß den Anordnungen ihrer Schwiegermutter um den Haushalt. Der Chef der Kolchose lässt sie gemeinsam mit Danijar und Said täglich einen Karren mit Getreidesäcken zum Bahnhof bringen, die für die Soldaten an der Front bestimmt sind. Danijar, ein Soldat, ist verletzt von der Front zurückgekehrt; Said, der Schwager von Dshamilja, ist noch ein Kind und der Erzähler der Geschichte. Mit jeder Fahrt zum Bahnhof intensiviert sich die Beziehung zwischen Dshamilja und Danijar. Said spürt, was sich in den Seelen der beiden abspielt, wie ihre Gefühle füreinander wachsen. Die Erzählung endet damit, dass die Liebenden fliehen.
Dshamilja widersetzt sich den Traditionen und Vorgaben für das Verhalten einer Schwiegertochter. Sie ist spontan und fröhlich, sie zeigt ihre Lebensfreude, statt sie zu verbergen. Sie singt, rennt, blickt den Männern in die Augen. Diese Lebenskraft, die sie bis zur Flucht und zum Verrat ihrer Gemeinschaft treibt, ist außergewöhnlich. Als Dshamilja ihr Begehren entdeckt und zu verstehen beginnt, beschließt sie, ihr Leben nach ihren eigenen Vorstellungen zu leben, egal um welchen Preis. In dieser Hinsicht ist sie ein moderner Mensch und verkörpert für kirgisische Frauen noch immer eine gewisse Form der Freiheit und einen schwer zu realisierenden Traum.
Durch seine Figuren ist der Roman zeitgebunden, aber er wühlt die Seelen seiner Leser bis heute auf und lässt die Menschen Fragen stellen. Aragon schreibt in seinem Vorwort: „Dennoch ist hier alles Kampf des Alten mit dem Neuen. Allerdings wird uns dieser Kampf hier – und das macht die Größe dieser Erzählung aus – vor allem als innerer, als seelischer Kampf gezeigt.“
(Aminatou Echard)