Sarajevo, die versehrte Stadt
„Denn wir sind wie Baumstämme im Schnee. Scheinbar liegen sie glatt auf, und mit kleinem Anstoß sollte man sie wegschieben können. Nein, das kann man nicht, denn sie sind fest mit dem Boden verbunden. Aber sieh, sogar das ist nur scheinbar.“ (Franz Kafka, „Die Bäume“)
DRVO ist ein Film über die zyklische Wiederholung von Menschlichkeit im Fluss des Lebens. Er handelt von einer Routine, die nie vergisst, dass die Gegenwart auf den Tod zugeht. Es ist ein kalter und nächtlicher, flussartiger Film.
Ein alter Mann aus einer belagerten Stadt durchquert nachts auf einem kleinen Boot die winterliche Landschaft und erblickt ein Kind, das sich unter einem kahlen Baum am Flussufer bei einem kleinen Feuer ausruht; am Flussufer unter einem kahlen Baum trifft ein Kind, das aus Furcht vor dem Krieg geflohen ist, einen alten Mann. Eine Spiegelung, eine Wiederholung, bei der ein alter Mann sich mit sich selbst und seinen Erinnerungen aussöhnt und ein Kind Wärme und Hoffnung findet, am Leben zu bleiben, während der Fluss einfach seinem Lauf folgt.
In einer Februarnacht im Jahr 2013 landete ich das erste Mal in Sarajevo. Die Stadt war von Schnee bedeckt, und ich war allein. Ich kam in meiner Unterkunft an, einem Studentenwohnheim in Bjelave. Langsam realisierte ich, dass ich in Osteuropa ankam, im Osteuropa nach dem Fall der Berliner Mauer – ich glaube, ich hatte mir aus Kieslowskis Filmen ein Bild von jener Zeit und jenem „Europa“ konstruiert. Während ich den Hügel hinaufstieg, fiel weiterer Schnee auf die verlassenen Straßen.
Die Gebäude wirkten alle gleich: Rauch stieg aus den Schornsteinen, die Türen waren groß und schwer, die Korridore des Wohnheims waren breit, die Zimmer waren alle gleich, die Fenster groß, und auf allen Einzelbetten lagen die gleichen beigen Decken. Vom Fenster meines Zimmers konnte ich das Tal sehen, die weiße Stadt und die Lichter auf dem gegenüberliegenden Berg, dem Bistrik Kula. Sie wirkten wie Sterne an einem sehr niedrigen Himmel. Auf der Suche nach einem Restaurant ging ich den Hügel hinunter. Die verlassene Straße führte mich ins Stadtzentrum. Zum ersten Mal befand ich mich in einer verschneiten Stadt. Die Kälte vermittelte ein starkes Gefühl von Frieden.
Übermächtige Berge
Die Gebäude waren von Einschusslöchern übersät. Ich dachte über den Krieg nach, über das Gefühl, eingeschlossen zu sein. Während ich auf die Berge schaute, fühlte ich mich bedrückt. Dieses Gefühl verließ mich nie. Ein ruhiges, friedliches Gefängnis, geschaffen aus der Kraft seiner Umgebung. Es war, als verknüpften sich die Erinnerungen an die Fernsehbilder und Zeitungsfotos vom Krieg der 1990er Jahre unauflöslich mit der Gegenwart.
Ich war hierhergekommen, um Film zu studieren und Filme zu drehen. Aber angesichts der Geschichte der Stadt fühlte ich mich machtlos. Ich fühlte mich nicht in der Lage zu filmen. Die Vergangenheit, die Gefühle der Menschen dieser Vergangenheit gegenüber waren mir unverständlich. Wie lebten die Menschen ihren Alltag in all den Jahren der Belagerung?
Dieser Winter war lang; Schnee und Eis verschwanden erst Ende April. Eines Morgens musste ich nach Ilidža, in einen Bezirk, der westlich von der Innenstadt liegt.
Ich durchquerte die gesamte Stadt, und je weiter ich kam, umso deutlicher waren die Spuren des Krieges sichtbar: zerstörte und verlassene Gebäude, heruntergekommene Viertel, besonders traurige Gesichter und bettelnde Straßenkinder. Ich überquerte eine Brücke über die Bosna. Das Wasser floss durch die verschneite Landschaft, und ich erblickte einen Baum, neben dem etwas Rauch gen Himmel stieg. Ich fand es seltsam, dass jemand sich im Schnee, neben einem Fluss, aufwärmen wollte. Zum ersten Mal aber konnte ich hier fotografieren.
Eine dunkle Gestalt trat aus der weißen Landschaft hervor, neben dem kahlen Baum. Erst später, als ich mir die Fotos anschaute, erkannte ich, dass es kein Feuer gab. Der Dunst, den ich für Rauch gehalten hatte, entstand an der Mündung der Miljacka in die Bosna durch den unterschiedlichen Säuregehalt des Wassers der beiden Flüsse.
Aber das Bild setzte sich in mir fest. Die dunkle Silhouette im Schnee neben einem Baum, die sich am Flussufer aufwärmen wollte.
Die Fotos hatten keinen zeitlichen Bezug, ich hätte sie auch zu einem anderen Zeitpunkt aufnehmen können. Während ich sie betrachtete, stellte ich mir vor, die Silhouette wäre die eines alten Mannes. Langsam vermischte sich dieses Bild in meiner Vorstellung mit den Bildern des Krieges und der zerstörten Gebäude, mit dem Eindruck einer von den Bergen erdrückten Stadt. Ich stellte mir vor, dieser Mann hätte auch während des Zweiten Weltkriegs oder in den Jahren der Belagerung der Stadt in den 1990er Jahren dort gestanden.
Die Idee eines Menschen, der in seiner Stadt zwei Kriege erlebt hat, wurde zu einer Obsession für mich. Die Idee zu diesem Film entstand aus jenem Bild.
„Wofür halten Sie mich?“
„Er denkt über die Vergangenheit nach. Er sagt sich: Ich werde von den Jahrhunderten gespeist, ich lebe eingetaucht in die Geschichte anderer Menschen. Und seine Seele erleidet einen Schlag wie aus Urzeiten.
Aber er ist eine verlorene Seele, ein Unschuldiger im Höllenfeuer. (...)
Wofür halten Sie mich, fragt er vielleicht, was ich suche, ist Liebe.
Und immer auf diese Art, immer: unbegreifliche Städte mitten auf Erden oder riesige Wiesen, auf denen einen die Furcht befällt. Wiesen für Kühe, nicht für einen Dichter, der von einer schmerzvollen Unschuld zerrissen wird.
Er schreibt keine Gedichte mehr und fragt die Menschen nicht nach ihren Namen. Einer vollständigen Verdammnis geweiht, geht selbst sein Name im Land verloren. Nun beobachtet er den gefräßigen Frieden der Tiere, die Dinge, die Unbewegtheit. Ich gehe fort, stellt er sich vor. Städte brennen, Felder werden Irrsinn. Ein Dichter muss fortgehen, scheiden, sich trennen. Ein Dichter muss einzig sein. Die Hölle lässt das nicht zu. Manchmal bedauert er: Ich fühle mich, als hätte ich die Wüste durchquert; ich weiß nichts.“
(Herberto Hélder, „Os passos em volta“, dt.: „Die Schritte ringsum“)
Die Geschichte zeigt sich als Geräusch
DRVO beruht auf der Beziehung des physischen Wesens, der körperlichen Kraft eines Mannes, zu dem Krieg, der ihn umgibt, aber auch zur Schroffheit der Natur, für die der unaufhörlich fallende Schnee steht. Außerdem auf dem Moment, in dem ein Kind sich dem Krieg alleine stellen muss mit einer Unschuld, die in ein paar Augenblicken Zärtlichkeit in Zorn, Schönheit in Wut und Anmut in Raserei verwandelt.
Diese Gesten der Stärke erinnern uns daran, dass ein Mensch auch ohne Hoffnung stark bleiben kann, wenn er die Grundlagen für sein Überleben und das der Menschen um ihn herum zu sichern versucht. Eine Wiederholung von Gesten und Bewegungen, bei der die Gegenwart als Erinnerung auftritt, die Wirklichkeit als innere Landschaft und die Natur als Kulisse für die kreisförmige Bewegung der Zeit.
Die Figuren in DRVO beschränken sich auf Ibro – der in zwei unterschiedlichen Altersstufen vorkommt – und seine Mutter. Alle anderen Figuren können wir nur im Off wahrnehmen, durch den Ton, sodass Ibro in einsamer Konfrontation verbleibt, sodass die Landschaft aus Bergen und Schnee, die ihn stets zu überwältigen scheint, noch monumentaler wirkt. Ibro glaubt kaum an die menschliche Existenz: Er lebt allein, in dem Haus, in dem er aufgewachsen ist, mit seinem Hund. Aber er verbringt seine Tage mit dem sich wiederholenden Ritual der Suche nach Wasser für sich und seine Straßennachbarn, stets begleitet von seinem Hund.
Der Krieg umgibt ihn, unsichtbar, eine drohende Präsenz inmitten von Stille und Gewehrschüssen. Jeden Tag dasselbe. Er macht das Seil los, mit dem das Boot am Ufer festgebunden ist, und ergreift die Ruder. Im Hintergrund wird die Stadt kleiner. Die Stille des Schnees wird nur vom Klirren der aneinanderstoßenden Wasserflaschen unterbrochen.
Der Kontrastreichtum der Bilder unterstreicht die Macht des Schnees und die Beschreibung des Flusses, Schatten betonen jeweils die Schlüsselelemente der Bilder. Die langen Sequenzen halten die Figuren in der Zeit, im Raum und in der Natur fest, während die Geschichte sich als Geräusch, in inneren Bewegungen zeigt. Der Ton wurde rekonstruiert, sodass ein zweites Band von Bildern entsteht. In diesem Band hat das Nicht-Gezeigte eine Präsenz, die das Bild erweitert, die Zeit komplexer macht, den Spiegeleffekt vervielfacht und den Zuschauer verunsichert. (André Gil Mata)