Ein Herz aus Beton
Mit INTERCHANGE haben wir versucht, das Leben entlang eines imposanten Highways einzufangen. Auf Grundlage unserer Kenntnisse in der Fotografie haben wir uns für eine farbintensive Bildgestaltung mit großer Tiefenschärfe entschieden. Zudem haben wir die sorgsam konstruierten Szenen mittels der Montage ganz bewusst temporeich rhythmisiert: Ein kleines Mädchen sitzt allein auf einer Schaukel, hinter ihr rauschen Sattelschlepper vorbei; auf dem grasbewachsenen Mittelstreifen des Highways flattert im Wind die Vermisstenanzeige für einen Hund – niemand interessiert sich dafür; Bewohner der Stadt, junge und alte, rauchen gedankenverloren Zigaretten, während sie auf den Bus warten, der entweder kommt oder auch nicht; ein Hupkonzert, quietschende Reifen auf der Fahrbahn und ächzende, knarzende Lastwagen bilden den Soundtrack des Films.
Der Highway, den wir in INTERCHANGE zeigen, dient mehr als Strukturprinzip für den Film denn als sein Thema: ein riesiges Herz aus Beton, dessen Arterien die Umgebung und deren Bewohner überziehen – und den Rahmen für eine ausführliche Betrachtung von Menschen und ihrem Umfeld im postindustriellen Zeitalter bilden. (Brian M. Cassidy, Melanie Shatzky)
Gespräch mit Brian M. Cassidy und Melanie Shatzky: „Und das alles angesichts von Autos, die im Stau stehen“
Ansgar Vogt: Wo genau ist Ihr Film angesiedelt?
Brian M. Cassidy, Melanie Shatzky: In Montreal und Umgebung.
Was war der Ausgangspunkt für Ihren Film?
Wir entdeckten eines Tages zufällig eine Stelle, von der aus man einen besonderen Ausblick auf ein Autobahnkreuz hat, dessen Abriss bevorstand. Das Autobahnkreuz selbst kannten wir, aber diese Perspektive darauf war neu für uns. Der harte, eindrucksvolle Kontrast zu den Menschen, die in der unmittelbaren Nähe davon leben, faszinierte uns. Unser Vorhaben war von Anfang an als Filmprojekt gedacht, aber als eines, das sich stark auf unseren Hintergrund als Fotografen stützt.
Wie haben Sie die Protagonisten des Films kennengelernt?
Überwiegend haben wir uns auf unsere Intuition verlassen. Wir waren gleichermaßen auf der Suche nach Landschaftsräumen, Menschen und Objekten, die wir filmen wollten – ohne dabei einem dieser Parameter höhere Priorität beizumessen als einem anderen. Für die Porträts suchten wir Menschen, die eine tiefe Verwurzelung mit ihrer Umgebung vermittelten, gelegentlich aber auch solche, die etwas orientierungslos wirkten, wie zum Beispiel den älteren Mann, den man telefonieren sieht, während der Verkehr vorbeirauscht. Die meisten unserer Protagonisten haben wir auf unseren Spaziergängen durch die Wohngegenden in der Nähe des Highways kennengelernt.
Abgesehen von einer einzigen Szene gegen Ende des Films sprechen die Protagonisten in INTERCHANGE nicht.
Die nonverbale Herangehensweise gehörte von Anfang zur Konzeption dieses Films. Dass man irgendwann doch jemanden sprechen hört, soll daran erinnern, dass Menschen eine Stimme haben, dass sie handlungsfähig sind.
Wie gestaltete sich die Arbeit mit den Protagonisten? Wie sind Sie bei der Inszenierung vorgegangen, zum Beispiel in der Szene mit dem jungen Mann, der einen Ventilator in der Hand hält?
Die Protagonisten sind insofern in Szene gesetzt, als wir ihnen gesagt haben, wo und wie lange sie stehen oder sitzen sollen. Überwiegend haben wir die Menschen ganz in der Nähe der Orte gefilmt, an denen wir ihnen auch begegnet waren. Der Mann mit dem Ventilator fuhr gerade auf seinem Fahrrad vorbei und hielt dabei das defekte Gerät in seiner Hand. Als wir ihn sahen, sprachen wir ihn an und fragten, ob er kurz für eine Filmaufnahme zur Verfügung stünde. Er stimmte zu, wir filmten ihn – und dann war er auch schon wieder weg.
Auf welchen Überlegungen basiert die Ton- und Bildgestaltung?
Auf der Tonebene sind natürliche und gestaltete Elemente miteinander vermischt. Wir haben versucht, ein Spektrum von Geräuschen anzulegen, das widergibt, was während der Dreharbeiten sichtbar und hörbar war. Gleichzeitig hatten wir aber auch die Absicht, diese Eindrücke zu verdichten und zu dramatisieren. Die Landschaftsräume sind gewissermaßen der Motor des Films. Daher haben wir uns für eine möglichst große Schärfentiefe entschieden, um sämtliche Bildelemente detailliert erkennbar zu machen. Unsere Absicht war es, den Betrachter in die Räume des Films mit hineinzunehmen und ihn einzuladen, selbst zu bestimmen, wohin er seine Aufmerksamkeit jeweils richtet.
Welche Bedeutung hat der Song „Déjà“ von Paul Colline und Paul Maye für Sie, den Sie am Ende von INTERCHANGE verwenden?
Das Lied drückt Wehmut aus, und es gab uns die Gelegenheit, etwas von uns persönlich durchschimmern zu lassen: von unseren Gedanken zum Thema Zeit, zum Älterwerden, aber auch darüber, wie wir bisher gelebt haben – und das alles angesichts von Autos, die im Stau stehen.
(Interview: Ansgar Vogt, Januar 2018)