Permanente Animation
LA CASA LOBO entstand Bild für Bild mithilfe der Digitalfotografie. Zugleich erweckt der Film den Eindruck, er sei in einer einzigen Einstellung gedreht. Und das, obwohl sich alle seine Gestaltungselemente in einem Zustand ständiger Veränderung befinden. Wie in einem Traum, in dem eine Person sich den äußeren Merkmalen einer anderen anpassen kann, nehmen die Geschichte und die Figuren des Films verschiedene Beschaffenheiten an. Alle Veränderungen des Hauses, der Figuren und Gegenstände machen deutlich, dass die Realität des Films permanent im Entstehen begriffen ist.
Die Figuren werden auf zwei verschiedene Arten gezeigt: zum einen als animierte Wesen aus Papier, Pappe, Malerkrepp und Farbe; zum anderen als animierte Zeichnungen an den Wänden des Hauses. Die Animation zeigt nicht nur, wie sich die Figuren bewegen, sondern auch, wie sie erscheinen, verschwinden und sich ständig aufs Neue verwandeln.
Auch das Haus bewegt und verändert sich permanent. Man könnte diese Veränderungen als Erdbeben interpretieren, als Träume oder auch als Manifestationen des eigenen Willens, den das Haus entwickelt. Wir sehen, wie das Haus zerstört, umgestaltet und wieder aufgebaut wird. Diese Veränderungen werden durch Wandzeichnungen und -gemälde umgesetzt, durch echte Risse und Löcher, mit denen die Wände versehen werden, und durch Bewegung, Zerstörung und Veränderung des Mobiliars.
Die Tonebene setzt sich aus den Stimmen der Figuren, Umgebungsgeräuschen, künstlich erzeugten Geräuschen und Gesang zusammen. Diese Elemente verschmelzen zu einer Tonstruktur, die die Grenzen zwischen den verschiedenen Elementen in Unordnung bringen soll. Der Film verbindet Einflüsse aus Walt Disneys Kinderfilmen mit Elementen des Horrorfilms. LA CASA LOBO entwickelte sich als Kunstinstallation in mehreren Etappen und an zahlreichen öffentlichen Orten wie Museen, Kulturzentren und Kunstgalerien .
Die Obsessionen Chiles
LA CASA LOBO wurde aus einer Idee heraus geboren, die wir in verschiedenen Kurzfilmen praktiziert haben, indem wir uns als Regisseure Rollenspiele ausdachten. Wenn wir Filme machen, schlüpfen wir am liebsten in die Haut eines anderen. Für uns ist das eine Form des Nachdenkens darüber, wie Vorstellungen von Identität entstehen. In LA CASA LOBO waren wir inspiriert von dem Fall der Colonia Dignidad, einer von der Außenwelt abgeschottet lebenden Sekte, die 1961 von Deutschen im Süden von Chile gegründet wurde. Sie war berüchtigt wegen der Schreckensherrschaft ihres Anführers Paul Schaefer und wegen dessen enger Zusammenarbeit mit dem Pinochet-Regime. Wir stellten uns vor, Filmproduzenten in dieser Kolonie zu sein. Was wäre geschehen, wenn Paul Schaefer, der Anführer dieser Sekte, eine Art Walt Disney gewesen wäre? Was für eine Geschichte hätte er erzählt?
Für uns sind unsere Filme Rituale, Beschwörungen, Zauberformeln. LA CASA LOBO stellen wir uns als eine Beschwörung vor, in der ein Bewusstsein versucht, ein anderes zu unterdrücken; als eine Projektion sämtlicher Obsessionen der Sekte und vermutlich auch Chiles: Gehorsam, Glaube, Rasse und die Beziehung zur Außenwelt.
Als wir gemeinsam an unseren ersten Kurzfilmen arbeiteten, wussten wir nicht, ob wir einen Kurzfilm drehten oder eine Videoarbeit schufen, ob eine Arbeit entstand, die eher von der Handlung vorangetrieben wurde oder die formal abstrakt war. Wir wollten einfach audiovisuelle Arbeiten herstellen, bei denen das Organische, das Material und das Gewagte den Kern der Geschichte ausmachen.
Wir wollten mit LA CASA LOBO einen Film machen, der permanent auseinanderfällt und sich dann selbst wieder zusammensetzt. Wir mögen das Organische, Zufällige, Flüchtige, das sich ständig Entwickelnde im Gegensatz zum Präzisen, Kontrollierten und Definierten. Wir versuchen uns vorzustellen, dass alles Material ist und deshalb transformiert, montiert und durcheinandergebracht werden kann; nicht nur die Objekte, die Umgebung, die Körper, sondern auch die Ästhetik und die Geschichte.
Mit LA CASA LOBO haben wir einen Film realisiert, dessen einzelne Elemente –Schönheit, Angst, Chaos und die eigentliche Geschichte – sich im permanenten Zustand der Veränderung befinden. Erzählt wird die Geschichte einer jungen Frau, die sich in einem Haus versteckt, zugleich aber handelt diese Geschichte von einer physischen und geistigen Welt, die auseinanderfällt, sich selbst zerstört und immer wieder erneuert.
LA CASA LOBO ist ein Tier im Zustand unablässiger Mutation. Der Film bewegt sich auf dieselbe Art und Weise, wie das Haus es tut: Er verliert seine Richtung und erzählt schließlich die Geschichte jener neuen, unbekannten Straße. (Cristóbal León und Joaquín Cociña)
Gespräch mit den Regisseuren: „Das chilenische Militär basiert auf der preußischen Disziplin“
Wie seid ihr dazu gekommen, einen Film über die Colonia Dignidad zu machen?
Cristóbal León: Dieses Thema ist endlos, und der Ort hat mich schon seit Langem beschäftigt. Als Kind war ich dort einige Male mit meinen Eltern in einem Restaurant. Aktuell ist die Colonia Dignidad in den Medien sehr präsent. Inspiriert hat mich aber auch das Grauen in europäischen Kindermärchen, das ich mit der politischen Realität Lateinamerikas verbinden wollte. Im Falle der Colonia Dignidad kommen diese beiden Elemente in fast karikatureskem Ausmaß zusammen. Konkret kamen wir auf die Idee für den Film, als wir in Deutschland waren.
Joaquín Cociña: Tatsächlich entwickeln wir unsere Filme immer bewusster auf der Grundlage des Schreckens, der in Chile herrscht. Die Colonia Dignidad steht in einer Verbindung zu Deutschland, aber nicht dem Deutschland von heute. Das chilenische Militär basiert auf der preußischen Disziplin. Der chilenische Schriftsteller Roberto Bolaño hat in seinen Romanen reale ebenso wie fiktive Verbindungen zwischen der intellektuellen Elite Chiles und den Nationalsozialisten beschrieben. Wir haben uns auch mit den Veröffentlichungen Miguel Serranos über die Anden beschäftigt und in einem Video versucht, seine Ideen anschaulich zu machen – auch wenn wir seine Ansichten nicht teilen.
Geht es euch in euren Arbeiten und auch mit LA CASA LOBO darum, die Realität zu unterminieren?
Joaquín Cociña: Mich langweilt Kunst, bei der klar zu erkennen ist, ob jemand für oder gegen etwas ist. Mir gefällt es, uns in Schwierigkeiten zu bringen; momentan spiele ich diese Rolle jedenfalls. Dazu gehört auch, Dinge zu sagen, die nicht bequem sind.
Cristóbal León: Die Geschichte von LA CASA LOBO war ursprünglich nur eine Idee, erst später wurde die Colonia Dignidad zum Thema.Joaquín Cociña: Ohne diese Hintergrundinformationen hätte die Entwicklung der Geschichte etwas Beliebiges gehabt. Erst sie geben der Konzeption einen Sinn. Es gibt etwas Größeres und Wichtigeres als Details und die Arbeit an sich. LA CASA LOBO ist als Kunstinstallation in Etappen und gewissermaßen nomadisch entstanden: Die einzelnen Phasen des Projekts habt ihr in Museen und Galerien gezeigt. Wie war es für euch, eine so komplexe Arbeit vor einem Publikum zu realisieren?
Cristóbal León: Das hat uns auf der einen Seite etwas abgelenkt, aber andererseits gab es dadurch auch schon erste Reaktionen auf unseren Film. Wir haben an zehn verschiedenen Orten gearbeitet, und in mehreren Ländern.
Joaquín Cociña: Wir wollten, dass dieser Film in all seinen Komponenten Kunst ist und voller Leben. Da war es für uns die einfachste Lösung, die Produktion dorthin zu verlegen, wo wir sie auch präsentieren.
Cristóbal León: Wir haben jede Phase der Arbeit genutzt und versucht, diese Prozesse im Film sichtbar zu machen.
Habt ihr eine spezielle Arbeitsmethode?
Cristóbal León: Wir ziehen es vor, alles möglichst überschaubar zu halten. Wir machen keine Probeläufe. Mich nervt „professionelles“ Arbeiten in dem Sinne, dass man tun muss, was von einem erwartet wird. Zu planen langweilt mich. Wir arbeiten so, wie es sich für uns am besten anfühlt. Wir verbringen viel Zeit damit, das zu tun, was uns gefällt.
(Interview: Isabel Mardones Rosa, Goethe-Institut Chile, Juli 2016)