Wie definiere ich meine eigene Geschichte?
Seit zwanzig Jahren leidet eine enge Freundin von mir an unterschiedlichen Beschwerden: Depressionen, Zwangsneurosen, Angstzustände, Bulimie und seit Kurzem auch an einer schweren Depersonalisationsstörung. Ich habe miterlebt, wie sie sich durch eine Vielzahl von Treffen bei den Anonymen Alkoholikern und Aufenthalte in Entzugs- oder Rehabilitierungszentren gekämpft hat. Inzwischen hat sie eine wunderbare Teilzeitstelle gefunden und arbeitet auch als Künstlerin. Noch immer aber muss sie ständig gegen das Gefühl angehen, dass ihr Leben ein Film ist.
Vor drei Jahren nahm ich als Jurorin an einem Kunstfestival für Jugendliche teil. Unter den Darsteller*innen war eine einsam wirkende 16-Jährige, die den Monolog einer jungen Frau vortrug, die sich gegen einen älteren Menschen zur Wehr setzt, der sie missbraucht hat. Ich hatte nur eine Minute Zeit, um ihr Feedback zu geben, und war völlig sprachlos. Schließlich sagte ich: „Das war die beste Performance, die ich jemals erlebt habe“, und begann zu weinen. Auch sie weinte. Die anwesenden High-School-Schüler*innen im Publikum waren verwirrt.
In der Folge haben Helena Howard – so der Name dieser jungen Frau – und ich uns gemeinsam auf den Weg gemacht, um herauszufinden, wie man psychische Krankheiten und Zustände des inneren Chaos in eine filmische Form bringen kann. Das Ergebnis war nicht das, was wir erwartet hatten.
Zwei Jahre lang haben Helena und ich gemeinsam mit einer Gruppe talentierter Schauspieler anhand von Improvisationen MADELINE’S MADELINE entwickelt. Der Film geht der belasteten Beziehung zwischen der jugendlichen Madeline und ihrer ebenso ängstlichen wie dominanten Mutter nach. Madeline bemüht sich um Abgrenzung; sie findet Rückhalt in der Regisseurin Evangeline und in deren Theatertruppe. Die beiden kommen sich näher, während jedoch Evangeline Madelines kompliziertes Innenleben in das Theaterstück mit einbezieht, löst die begabte Madeline das Geschehen aus dem Theaterkontext heraus und stellt Fragen: Soll sie eine andere Version ihrer selbst akzeptieren oder ihre eigene Geschichte entwickeln?
Der Film entwickelt sich entlang Madelines subjektiver Perspektive und ihrer wandelbaren Vorstellungskraft – der Zuschauer fühlt, was sie fühlt. Kraft schöpft sie aus ihrer Kreativität und ihren Auftritten. Es war mir wichtig, dass Fantasie und Realität in MADELINE’S MADELINE Seite an Seite existieren, wie in Madelines Leben.
Ausgangspunkt des Films waren psychische Krankheiten sowie Dynamiken innerhalb der Familie. Es geht darum, die Komplikationen aufzuzeigen, die entstehen, wenn man eine Geschichte entwickelt, die auf dem Leben einer realen Person basiert. Der Film kommentiert seine eigene Vorgehensweise und damit das undurchsichtige Kräftespiel, das entsteht, wenn eine weiße Regisseurin mit einer jungen schwarzen Frau arbeitet. MADELINE’S MADELINE kreist um Themen wie Rasse, Privilegien und das Erzählen von Geschichten als solches. Es geht uns um Menschen, die darum kämpfen, ihre Identität selbst bestimmen zu können anstatt sie zugewiesen zu bekommen; um Menschen, die sich mit psychischen Krankheiten auseinandersetzen, und um Menschen, die zuhören.
Vor allem aber bitten wir die Zuschauer*innen, sich ein eigenes Bild von den Themen zu machen, um die es in dem Film geht. Sie entscheiden, wie sie mit der komplexen Widersprüchlichkeit von Madelines Wahrnehmungsfeld umgehen möchten, sie bestimmen, was und wer – wenn überhaupt – gewinnt. (Josephine Decker)