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93 Min. Englisch.

Madeline ist manchmal Katze, manchmal Schildkröte. Aber auch wenn sie Madeline ist, weiß man nicht, ob sie Madeline gerade nur spielt. In den Augen ihrer besorgten Mutter (Miranda July) ist sie ein verletzliches Wesen, dessen psychische Störung nach Fürsorge verlangt und nach medizinischer Behandlung. Auf der Bühne aber, im Theaterworkshop der bis ins Extrem fordernden, manchmal leichtsinnigen Evangeline (Molly Parker), ist Madeline stark, beeindruckend, eine Naturgewalt.
Auch Josephine Decker verlangt ihrer fantastischen Darstellerin Helena Howard alles ab. Ihr dritter Spielfilm lotet die ebenso heilsamen wie potenziell destruktiven Kräfte der Performance, des Spiels mit Identitäten und Rollen aus. Wie Madeline selbst bleibt auch Madeline’s Madeline stets zweideutig. Muss man wirklich festlegen, was psychische Krankheit ist und was einfach das Aufbegehren eines Teenagers? Die Grenze zwischen Liebe und übertriebener Obhut definieren? Wo liegt in einem legitimen künstlerischen Prozess, in dem jeder gibt und nimmt, die Schwelle zur Ausbeutung? Gibt es überhaupt Kreativität ohne Zerstörung? (Christoph Terhechte)

Josephine Decker wurde 1981 London geboren. Nach einem Bachelor-Studium der Vergleichenden Literaturwissenschaft und des Kreativen Schreibens an der amerikanischen Princeton University studierte sie Literatur-, Film- und Politikwissenschaft sowie Musik in Buenos Aires, Argentinien. 2003 begann sie, eigene Kurzfilme zu drehen. Heute arbeitet Josephine Decker als Drehbuchautorin, Regisseurin, Cutterin und Produzentin. 2017 drehte sie in Berlin den VR-Film The Nothing is Coming.

Wie definiere ich meine eigene Geschichte?

Seit zwanzig Jahren leidet eine enge Freundin von mir an unterschiedlichen Beschwerden: Depressionen, Zwangsneurosen, Angstzustände, Bulimie und seit Kurzem auch an einer schweren Depersonalisationsstörung. Ich habe miterlebt, wie sie sich durch eine Vielzahl von Treffen bei den Anonymen Alkoholikern und Aufenthalte in Entzugs- oder Rehabilitierungszentren gekämpft hat. Inzwischen hat sie eine wunderbare Teilzeitstelle gefunden und arbeitet auch als Künstlerin. Noch immer aber muss sie ständig gegen das Gefühl angehen, dass ihr Leben ein Film ist.
Vor drei Jahren nahm ich als Jurorin an einem Kunstfestival für Jugendliche teil. Unter den Darsteller*innen war eine einsam wirkende 16-Jährige, die den Monolog einer jungen Frau vortrug, die sich gegen einen älteren Menschen zur Wehr setzt, der sie missbraucht hat. Ich hatte nur eine Minute Zeit, um ihr Feedback zu geben, und war völlig sprachlos. Schließlich sagte ich: „Das war die beste Performance, die ich jemals erlebt habe“, und begann zu weinen. Auch sie weinte. Die anwesenden High-School-Schüler*innen im Publikum waren verwirrt.
In der Folge haben Helena Howard – so der Name dieser jungen Frau – und ich uns gemeinsam auf den Weg gemacht, um herauszufinden, wie man psychische Krankheiten und Zustände des inneren Chaos in eine filmische Form bringen kann. Das Ergebnis war nicht das, was wir erwartet hatten.
Zwei Jahre lang haben Helena und ich gemeinsam mit einer Gruppe talentierter Schauspieler anhand von Improvisationen MADELINE’S MADELINE entwickelt. Der Film geht der belasteten Beziehung zwischen der jugendlichen Madeline und ihrer ebenso ängstlichen wie dominanten Mutter nach. Madeline bemüht sich um Abgrenzung; sie findet Rückhalt in der Regisseurin Evangeline und in deren Theatertruppe. Die beiden kommen sich näher, während jedoch Evangeline Madelines kompliziertes Innenleben in das Theaterstück mit einbezieht, löst die begabte Madeline das Geschehen aus dem Theaterkontext heraus und stellt Fragen: Soll sie eine andere Version ihrer selbst akzeptieren oder ihre eigene Geschichte entwickeln?
Der Film entwickelt sich entlang Madelines subjektiver Perspektive und ihrer wandelbaren Vorstellungskraft – der Zuschauer fühlt, was sie fühlt. Kraft schöpft sie aus ihrer Kreativität und ihren Auftritten. Es war mir wichtig, dass Fantasie und Realität in MADELINE’S MADELINE Seite an Seite existieren, wie in Madelines Leben.
Ausgangspunkt des Films waren psychische Krankheiten sowie Dynamiken innerhalb der Familie. Es geht darum, die Komplikationen aufzuzeigen, die entstehen, wenn man eine Geschichte entwickelt, die auf dem Leben einer realen Person basiert. Der Film kommentiert seine eigene Vorgehensweise und damit das undurchsichtige Kräftespiel, das entsteht, wenn eine weiße Regisseurin mit einer jungen schwarzen Frau arbeitet. MADELINE’S MADELINE kreist um Themen wie Rasse, Privilegien und das Erzählen von Geschichten als solches. Es geht uns um Menschen, die darum kämpfen, ihre Identität selbst bestimmen zu können anstatt sie zugewiesen zu bekommen; um Menschen, die sich mit psychischen Krankheiten auseinandersetzen, und um Menschen, die zuhören.
Vor allem aber bitten wir die Zuschauer*innen, sich ein eigenes Bild von den Themen zu machen, um die es in dem Film geht. Sie entscheiden, wie sie mit der komplexen Widersprüchlichkeit von Madelines Wahrnehmungsfeld umgehen möchten, sie bestimmen, was und wer – wenn überhaupt – gewinnt. (Josephine Decker)

Produktion Krista Parris, Elizabeth Rao. Produktionsfirma Parris Pictures (New York, USA). Regie, Buch Josephine Decker. Kamera Ashley Connor. Montage Josephine Decker, Harrison Atkins. Musik Caroline Shaw. Sound Design Martin Hernandez, Alejandro Quevedo. Ton Dennis Rainaldi. Production Design Charlotte Royer. Mit Helena Howard (Madeline), Miranda July (Regina), Molly Parker (Evangeline), Okwui Okpokwasili (Krankenschwester), Sunita Mani (Max), Felipe Bonilla, Lisa Tharps (Laura), Curtiss Cooke (George), Reynaldo Piniella (Jaime), Myra Lucretia Taylor (Kaila).

Weltvertrieb Visit Films

Filme

2005: Naked Princeton (29 Min.). 2008: Bi the Way (85 Min., Co-Regie: Brittany Blockman). 2011: Me the Terrible (11 Min.). 2014: Butter on the Latch (72 Min., Forum 2014), Thou Wast Mild and Lovely (76 Min., Forum 2014). 2017: The Nothing is Coming (10 Min.). 2018: Madeline’s Madeline.

Foto: © Ashley Connor

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