Traumspiel und Dokumentarfilm
Ushimado ist die Heimatstadt der Mutter meiner Frau Kiyoko Kashiwagi. Aus diesem Grund sind wir dort häufig zu Besuch und haben bei diesen Gelegenheiten einige Fischer kennengelernt, die dort leben. Im November 2013 drehten wir schließlich den Film OYSTER FACTORY auf der Insel.
In den vergangenen zehn Jahren habe ich Dokumentarfilme gedreht, bei denen es mir vor allem um das Beobachten ging. Ich nehme spontan meine Kamera zur Hand und beobachte und belausche damit die Realität um mich herum. Dabei verbiete ich mir, im Vorfeld zu recherchieren, Themen zu definieren oder ein Drehbuch zu schreiben. Ich erlege mir diese Regeln – meine „Zehn Gebote“ – auf, um vorgefasste Meinungen zu vermeiden und um etwas jenseits meiner Erwartungen zu entdecken.
Auch das MINATOMACHI-Projekt entstand ohne vorherige Planung. Während wir in der Umgebung von Ushimado Landschaftsaufnahmen für OYSTER FACTORY machten, trafen wir zufällig den Fischer Wai-chan beim Arbeiten an der Küste. Er erinnerte mich an die Geschichte „Der alte Mann und das Meer“, und ich fing an, ihn zu filmen. Dann fing Kumi an, sich ins Bild zu drängen. Wir lernten Koso vom Fischmarkt kennen, Kubota und ihre streunenden Katzen, und auf dem Friedhof Muragimi. Während wir uns mit den ökologischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Zyklen in Ushimado beschäftigten, wurde uns klar, dass wir genug Material für einen weiteren, ganz anderen Film über diese Stadt hatten.
Normalerweise bleibt der Ausgangspunkt für einen Film in Bereichen unseres Alltags verborgen, in denen wir ihn nicht vermuten. Dieser Punkt ist in der Regel so klein und unbedeutend, dass wir Gefahr laufen, ihn zu übersehen. Wenn wir ihn aber wahrnehmen und dann anfangen, aufmerksam zu sehen und zu hören, können wir eine Welt entdecken, die reich und reizvoll ist.
Insbesondere jener Punkt, zu dem Kumi uns führte, war geheimnisvoll für uns; er schien fast etwas mit dem Jenseits zu tun zu haben. Im japanischen No-Theater gibt es eine beliebte Variante namens „Mugen No“, bei der ein Reisender einem Geist begegnet, der ihm erzählt, was an einem ganz bestimmten Ort geschehen ist. Die Szene, in der Kumi mich in der Dämmerung in die Berge mitnimmt, hat Ähnlichkeit mit einem solchen Traumspiel. Ich hatte niemals daran gedacht, dass ich so etwas im Rahmen eines Dokumentarfilms drehen könnte. Die Zuschauer*innen von MINATOMACHI könnten das Gefühl bekommen, einen Traum oder eine Illusion zu sehen.
Bis in die letzte Phase der Postproduktion hinein war der Film farbig, sogar das Color-Grading war bereits abgeschlossen. Aber dank einer spontanen Anregung von Kiyoko entschied ich mich für Schwarz-Weiß. Das Color-Grading musste wiederholt werden. Das Schwarz-Weiß kreiert gewissermaßen eine fiktionale Ebene in dem Film – das passt perfekt zu MINATOMACHI. Tatsächlich kann ich mir diesen Film nicht mehr in Farbe vorstellen. Ich kann nicht glauben, dass ich ihn bis zur letzten Phase der Postproduktion in Farbe gesehen habe. (Kazuhiro Soda)
Zehn Gebote
1. Keine Recherchen.
2. Keine Treffen mit Protagonisten.
3. Keine Drehbücher.
4. Bediene die Kamera selbst.
5. Drehe so lang wie möglich.
6. Beobachte überschaubare Bereiche möglichst genau.
7. Lege vor der Montage kein Thema oder Ziel fest.
8. Keine Narration, keine eingeblendeten Titel, keine Musik.
9. Verwende lange Einstellungen.
10. Finanziere die Produktion selbst.
Distanz und Respekt
Die Insel ist schön. Das Meer ist schön. Die Katze ebenfalls. Aber am schönsten sind die Menschen hier. Die Szene, in der eine der Protagonistinnen kurzerhand die Regie übernimmt – sie bringt die Kamera mit, um am Ende eine Geschichte zu erzählen, die sie vermutlich noch niemals irgendjemandem erzählt hat –, ist auf ganz stille Art und Weise überwältigend, originell und emotional. Ich hatte in keinem Moment das Gefühl, gedrängt oder manipuliert zu werden. Die Szene wirkte einfach, als wäre etwas auf ganz natürliche Weise zu den Aufnahmen hinzugekommen. Das ist die Kunst des Dokumentarfilms.
Der Film ist gewissermaßen das Dokument der aufrichtigen, respektvollen Beziehung zwischen dem Filmemacher und seinen Protagonisten – und seiner respektvollen Distanz gegenüber den Menschen, die hier leben. Deshalb bricht einem die letzte Szene, in der der Regisseur mit seiner Kamera das Fischerdorf verlässt, fast das Herz. MINATOMACHI ist ein subtil berührender, atemberaubender Film. (Bong Joon-ho)