Polyphonie oder die zweite Dimension
Zwei sich überlagernde, voneinander unabhängige Geschichten spielen sich an ein und demselben Schauplatz ab. Die beiden Parallelwelten lassen sich nicht der Vergangenheit oder der Gegenwart zuordnen. Die Ereignisse finden vielmehr unabhängig voneinander zur gleichen Zeit statt. Inspiriert ist die Struktur des Films von den Fugen Johann Sebastian Bachs. Eine Fuge ist eine Art musikalische Verfolgungsjagd für zwei oder mehr Stimmen. Bach komponierte die einzelnen Stimmen jeweils unabhängig voneinander, aber zueinander passend: Jede Stimme ist eine jeweils verzögert einsetzende Variation der vorherigen; wenige Sekunden nach dem Einsatz des ersten Parts setzt der zweite ein usw. Die polyphone Harmonie entsteht aus der Überlagerung der voneinander unabhängigen, heterogenen Stimmen, die sich im Zusammenklang zu einer eigenständigen Komposition zusammenfügen. Es war immer mein Traum, aus mehreren Handlungssträngen einen polyphonen Film zu gestalten.
Die „Stimme“ in meinem Film ist ein Mensch. Eine Figur spielt eine Rolle in einem filmischen Raum, und ohne dass sie es bemerkt, wird ihr Part durch eine andere Figur in einem anderen filmischen Raum wiederholt bzw. erweitert. Die beiden unabhängigen Teile ergeben ein vollständiges Musikstück. In diesem Film könnte die zweite Figur jemand sein, der in einer anderen Dimension lebt oder am anderen Ende der Welt. Mit jemandem verbunden zu sein, zu dem man in keinerlei offensichtlicher Beziehung steht, ist in gewisser Weise ein ermutigender Gedanke.
Eine Geschichte meines Films handelt von Seri, einem 14-jährigen Mädchen, das seinen Vater verloren hat. Im Mittelpunkt der zweiten Geschichte des Films steht Sana, die an Gedächtnisverlust leidet und von Toko aufgenommen wird. Im Verlauf der Geschichten entsteht ein Loch in der membranähnlichen Trennwand zwischen diesen beiden Welten. Die Verbindung wird deutlicher. Die Protagonistinnen spüren jeweils die Anwesenheit der anderen, halten sie für eine Erscheinung, gleichzeitig aber auch für etwas eher Konkretes.
Was würde geschehen, wenn die Welt, in der wir leben, und eine andere Welt, die wir nicht kennen, aufeinanderträfen? An mehr als eine Welt in diesem Universum zu glauben, bedeutet zu akzeptieren, dass man in mehr als einer Form existiert. Sollten Sie eines Tages eine fremde Stimme hören, achten Sie darauf, sie so ernst wie Ihre eigene zu nehmen. (Yui Kiyohara)
Gespräch mit Yui Kiyohara: „Ich glaube, dass mehrere Welten existieren können“
Den Film zu beenden, ohne die Verbindung zwischen den beiden Welten aufzulösen, ist eine sehr mutige Entscheidung. Was waren Ihre Gründe dafür? Und was wollten Sie mit Ihrem Film ausdrücken?
Yui Kiyohara: Ich wollte die Unsicherheit der Welt zeigen, in der wir leben. Wenn man einen Film dreht, entscheidet man im Vorfeld, wie ausführlich man einzelne Erzählstränge entwickelt. Ich fragte mich, ob dieser Ansatz nach wie vor Bestand hat oder ob man ihn in Zweifel ziehen soll. Als Kind dachte ich manchmal, dass mein Leben der Traum einer Frau ist, die in Folge einer Narkose bei einer Operation ihr Bewusstsein verloren hat. Ich war mir sicher, dass ich vom Erdboden verschwinden würde, sobald diese Frau ihr Bewusstsein wiedererlangen würde. Natürlich war das nur eine Wahnvorstellung. Trotzdem denke ich seither über die Ungewissheiten in der Welt nach. Als Kind haben sie mich geängstigt. Heute stimmt mich der Gedanke, dass es parallel zu unserer Welt noch andere Welten geben könnte, hoffnungsvoll. Ich kann die Welt nur aus meiner Perspektive betrachten, andere nehmen sie nur aus ihrer Perspektive wahr. Ich finde es wichtig, sich klarzumachen, dass jeder Mensch in seiner vollkommen eigenen Welt lebt. In OUR HOUSE geht es mir darum, meine Wahrnehmung dieser Welt zu beschreiben. Ich denke, dass mehrere Welten existieren können; das Absolute ist für mich nicht zwangsläufig absolut.
Die Figuren in ihrem Film scheinen ganz normale Menschen mit einem normalen Alltagsleben zu sein. Andererseits tragen sie teilweise geisterhafte Züge und wirken ganz und gar nicht real.
Mir ging es darum zu zeigen, dass Menschen sich aufgrund der Unsicherheit in der Welt verändern. In der „Geistertanz“-Szene gleich zu Beginn des Films tanzt Seri, als wäre sie ein Gespenst. Als das Licht angeschaltet wird, nimmt sie wieder die Gestalt eines jungen Mädchens an, spürt aber die Anwesenheit von Geistern in ihrer Umgebung. Sie ist nicht in der Lage zu unterscheiden, ob ein Geist sich in ihrer Nähe aufhält, oder ob sie und die anderen Mädchen selbst Geister sind. Seri sagt: „Der Geist ist vor einiger Zeit erschienen“, tatsächlich ist sie jedoch selbst zu einer Art Geist geworden. Darin zeigt sich die Unbestimmbarkeit und Veränderlichkeit der Welt und ihrer eigenen Person. Die Beziehung der beiden Hauptfiguren in den jeweils unterschiedlichen Welten zueinander kann man ähnlich sehen. Jeder kann für jeden zur Geistererscheinung werden.
(Interview: Pia Film Festival)