Direkt zum Seiteninhalt springen

100 Min. Französisch.

Sie heißen Tessa, Anaïs, Catia, Manon, Elia, Hugo oder Clément. Sie haben Zahnspangen, Speckrollen und Fistelstimmen und besuchen die elfte Klasse eines Lyzeums in Ivry, einem schmucklosen Vorort von Paris. In wechselnden Zweier- und Dreierkonstellationen tauschen sie sich, scheinbar unbeeindruckt von der Anwesenheit einer Kamera, über ihre familiären Hintergründe, die Beziehung zu ihren Eltern, erste Verliebtheiten und Zukunftsvorstellungen aus. Kaum jemand hat zuhause ein echtes Gegenüber, und so ist es umso verblüffender, wie reflektiert, beredt und klar hier Gefühle artikuliert und Unsicherheiten, Sehnsüchte, Schmerz und Ängste offenbart werden. An der Schwelle zum Erwachsensein schwanken sie zwischen Abgeklärtheit – dass das Leben hart ist, ist eine achselzuckende Gewissheit – und Romantik; zwischen dem Wunsch nach Aufgehobensein und der Erwartung baldiger Unabhängigkeit; zwischen Ernsthaftigkeit und Unbekümmertheit.
Die Vorläufigkeit, die dem Platz in der Welt mit 17 innewohnt, mag beängstigend sein; sie spendet indes auch Trost. Genauso wie dieser von Claire Simon ungemein klug und sensibel initiierte Prozess. Es tut gut festzustellen, dass man doch nicht allein ist. (Hanna Keller)

Claire Simon wurde in London geboren. Sie arbeitete zunächst als Editorin und drehte mehrere Kurz- und Dokumentarfilme, bevor sie 1997 ihren ersten abendfüllenden Spielfilm Sinon, oui realisierte. Neben ihrer Tätigkeit als Regisseurin und Drehbuchautorin arbeitet Claire Simon auch als Kamerafrau und als Schauspielerin.

Gespräch mit Claire Simon: „Wer behauptet denn, dass die Jugendlichen nicht nachdenken?“

Dorothee Wenner: PREMIÈRES SOLITUDES spielt in einem Gymnasium in einer Vorstadt von Paris. Was ist das für eine Schule? Haben Sie sie für Ihren Film gesucht bzw. ausgewählt, weil sie so „typisch“ ist, oder gibt es an dieser Schule irgendetwas Besonderes?

Claire Simon: Ich habe diese Schule weder gesucht noch ausgewählt, vielmehr bin ich von einer Lehrerin in diese Schule eingeladen worden, um mit den Schülern zu arbeiten. Diese Lehrerin unterrichtet Literatur und einen Filmkurs, an dem nur zehn Schülerinnen und Schüler teilnehmen. Die ursprüngliche Idee war, dass ich als Regisseurin und Drehbuchautorin einen Kurzspielfilm realisieren sollte. Die Kursteilnehmer sollten in dem Film mitspielen und einige technische Aufgaben übernehmen. Das Projekt, auch seine Finanzierung, war auf Initiative des Rathauses und des örtlichen Kinos zustande gekommen. Dann hat sich aber alles ganz anders entwickelt: Ich beschloss, mehr Zeit an der Schule zu verbringen, und widmete mich dem Projekt mit wesentlich größerem Engagement als zunächst vorgesehen. Ich hatte mich in die Schule verliebt – in die Schülerinnen und Schüler und in das Gebäude. Es liegt auf einem Hügel, was es zu einem idealen Drehort macht: Man hat von der Schule aus einen Blick über die ganze Stadt, wie auf einem Gemälde von Fernand Léger.

Bitte erzählen Sie etwas mehr über Ihre Herangehensweise, über die Zusammenarbeit mit den Teenagern.

Anfangs planten wir ja einen Kurzspielfilm, in dem die Kursteilnehmer als Schauspieler mitwirken sollten. Also bat ich sie zunächst, mir von sich zu erzählen, damit ich das Drehbuch schreiben konnte. Ich befragte sie in Interviews zum Thema Einsamkeit – eine Erfahrung, die jeder Mensch, unabhängig von seinem Alter, kennt. Sie sprangen sofort darauf an und erzählten mir sehr persönliche Geschichten aus ihrem Leben, auf eine ganz andere Art und Weise, als wenn sie sich mit Gleichaltrigen unterhalten würden. Ich ließ die Kamera bei diesen Interviews laufen und montierte das Material später. Die Antworten auf meine Fragen, ihre Geschichten und ihre Art zu denken berührten mich.
Die Schülerinnen und Schüler sagten anschließend jedoch, dass sie diese Interviews mit mir nur für die Recherche geführt hätten und nicht wollten, dass sie einem Publikum gezeigt würden. Gemeinsam entschieden wir dann, einen Film zu machen, dessen Dialoge auf den Interviews basieren. Die Jugendlichen würden sich über Themen unterhalten, über die sie normalerweise nicht sprechen. So konnten sie kontrollieren, worüber sie reden wollten – in Gegenwart der anderen und im vollen Bewusstsein dessen, was das jeweils auch für ihre Freunde bedeutete. Das wirkte auf die Gruppe wie eine Offenbarung, denn die früheren Interviews waren ja nicht in Gegenwart der Mitschüler entstanden. Ich wollte die Dialoge zwischen den Teenagern filmen und zeigen, wie es ist, wenn Menschen, die in der gleichen Lage, im gleichen Alter sind, miteinander sprechen.
In Dokumentarfilmen kommen häufig Gespräche mit Menschen vor, die aus jeweils ganz unterschiedlichen Bereichen kommen. Auch im Bereich der Medien, des Polizei- und Rechtswesens, der Medizin oder Wirtschaft werden häufig Gespräche geführt, in denen einer den anderen über dessen Leben befragt, wobei die Gesprächspartner jedoch einen unterschiedlichen Erfahrungshintergrund haben. Es ist schließlich etwas völlig anderes, in einem Wettbewerb, in einer Konkurrenzsituation oder während eines Vorstellungsgesprächs etwas von sich preiszugeben, als mit einem Freund oder einer Freundin über das eigene Leben zu sprechen.

Die Protagonisten in PREMIÈRES SOLITUDES wirken alle sehr medienerfahren und kamerabewusst. Können Sie diese Protagonisten mit Personen vergleichen, mit denen Sie vor zehn oder zwanzig Jahren in Ihren früheren Filmen zusammenarbeitet haben?

Wir haben die Gespräche gefilmt, und wie allen Schauspielern war auch den Schüler*innen die Präsenz der Kamera immer bewusst. Dennoch spiegeln diese Dialoge und Interaktionen nichts als die Wirklichkeit. PREMIÈRES SOLITUDES ist kein Dokumentarfilm in der Tradition des Direct Cinema, der Ansatz hier war ganz anders.

Sie sind dafür bekannt, in Ihren Dokumentarfilmen Arbeitstechniken zu benutzen, die üblicherweise bei der Produktion von Spielfilmen eingesetzt werden. Können Sie beschreiben, wie Sie sich in der Grauzone zwischen den Genres bewegen? Gibt es vielleicht auch „Verbotszonen“ für Sie?

Die einzigen verbotenen Zonen sind für mich Eitelkeit und Narzissmus – es sei denn, es geht ausdrücklich um diese Phänomene. Jeder Film hat seine eigene ästhetische Form. Ich liebe es, auf der Leinwand zu experimentieren, neue Formen für mich zu entdecken und das Gegenteil von dem zu tun, was ich im jeweils vorherigen Film gemacht habe. Für PREMIÈRES SOLITUDES haben wir sehr wenig Material gedreht – es war ein völlig anderes Drehverhältnis als etwa bei der Produktion der Dokumentarfilmserie, an der ich gerade arbeite.

Bis heute, in der Ära von Fake News und ähnlichen Medienphänomenen, erlebe ich es in Kinosälen immer mal wieder, dass das Publikum irritiert auf hybride Filme reagiert, die Dokumentarisches und Fiktion mischen. Manche Zuschauer sind verärgert oder fühlen sich sogar betrogen. Kennen Sie das Phänomen, gibt es filmische Strategien, solche Reaktionen zu vermeiden?

Ich habe gegenteilige Erfahrungen gemacht, aus meiner Sicht reagiert das Publikum auf die Darstellung von Wahrheit im Dokumentarfilm völlig anders. Die meisten Menschen scheinen das Nicht-Wahre bzw. fiktionale Anleihen in Dokumentarfilmen doch sehr zu mögen. Das zeigen zum Beispiel die Filme von Roberto Minervini, die in Cannes liefen.
Ich denke, dass jeder Zuschauer in PREMIÈRES SOLITUDES – wie in all meinen Filmen – erkennen kann, dass das, was ich zeige, wirklich ist und nicht gefälscht, und sogar mehr: dass es wahr ist. Niemand kann solche Dialoge schreiben oder vor der Kamera reproduzieren. In PREMIÈRES SOLITUDES bestand meine Arbeit als Regisseurin darin, den Schülerinnen und Schülern dabei zu helfen, einander zuzuhören, das Leben der anderen zu entdecken, sich für deren Geschichte zu interessieren.

Aufgrund der Ernsthaftigkeit und emotionalen Tiefe der Gespräche schien es mir fast, als liefere Ihr Film eine Art Gegenentwurf zu dem Bild, das in vielen Medien von der heutigen Teenager-Generation gezeichnet wird – etwa als Social-Media-Junkies, die jede Kommunikationsfähigkeit verloren haben. War das ein „Nebenprodukt“ Ihrer Arbeit oder vielleicht sogar ein Effekt, den Sie in der Zusammenarbeit mit den Teenagern bewusst erzielen wollten?

Die Teenager, mit denen ich zusammengearbeitet habe, sind sehr klug. Vielleicht erkennt man die Klugheit des anderen, wenn man sich selbst offenbart. Vielleicht beflügelt auch die Einsamkeit das Denken? Für mich als Filmemacherin ist es wichtig, in der Logik der Protagonisten zu bleiben. Ich glaube, meine Protagonisten haben verstanden, dass ich ihnen ernsthaft zugehört habe und dass wir echte, wichtige Themen gebraucht haben, um einen guten Film zu machen. Deshalb haben sie uns Zugang zu ihren Gedanken und Ideen gewährt. Wer behauptet denn, dass sie nicht nachdenken?

(Interview: Dorothee Wenner, Januar 2018)

Produktion Michel Zana, Sophie Dulac, Aurelien Py, Lazare Gousseau. Produktionsfirmen Sophie Dulac Productions (Paris, Frankreich), Carthage Films (Paris, Frankreich). Regie, Buch Claire Simon. Kamera Claire Simon. Montage Lea Masson, Luc Forveille. Sound Design Pierre Bompy, Elias Boughedir. Ton Virgile Van Ginneken, Nathalie Vidal.

Weltvertrieb Wide House

Filme

1976: Madeleine. 1980: Tandis que j’agonise. 1988: La police. 1989: Les patients. 1991: Scènes de menage. 1992: Artiste peintre, Récréations. 1993: Faits divers. 1995: Coûte que coûte. 1997: Sinon, oui / A Foreign Body. 1999: Ça c’est vraiment toi. 2000: 800 Kilomètres de différence / Romance. 2002: Mimi (107 Min., Forum 2003). 2006: Ça brûle. 2008: Les Bureaux de Dieu. 2013: Géographie humaine, Gare du Nord. 2015: Le Bois dont les rêves sont faits. 2016: Le Concours. 2018: Premières solitudes / Young Solitude.

Foto: © Sophie Dulac Productions

Gefördert durch:

  • Logo des BKM (Die Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien)
  • Logo des Programms NeuStart Kultur