Warum radikalisieren sich Menschen?
Der Impuls zu SPK KOMPLEX entstand aus der Lektüre eines Briefs von Gudrun Ensslin. Darin übt sie Kritik am Sozialistischen Patientenkollektiv (SPK). Auf sich und andere Mitglieder der Roten Armee Fraktion (RAF) bezogen schreibt sie: „… jeder von uns hatte nicht zu wenig, sondern zu viel SPK in sich, was die vergangenen Jahre betrifft.“ Gemeint war mit dieser Formulierung ein Scheitern.
Den Brief schrieb Gudrun Ensslin 1972 in der Justizvollzugsanstalt Stuttgart-Stammheim. Im gleichen Gebäude, in der Zelle Nr. 109, saß damals auch Dr. Wolfgang Huber, der das SPK 1970 gegründet hatte, in Erwartung seines Prozesses.
Zu der merkwürdigen Symbiose des SPK aus einem sozialtherapeutischen Experiment und Agitation – den Namen hatten sich die Gründungsmitglieder selbst gegeben – gehörte von Anfang an, dass die Mitglieder und Patienten, die dieser Gruppierung angehörten, aufgrund dieser Tatsache in der Gesellschaft Zurückweisung und Verleumdung erlebten, später sogar verfolgt wurden. All dies führte zu der Zerschlagung des SPK und zu der Bereitschaft einiger seiner Mitglieder, fortan im Untergrund zu leben und sich der RAF anzuschließen.
Zu Beginn meiner Arbeit am Film erschien mir diese Konstellation undurchschaubar. Sie klärte sich mit der Frage: Was konnte bei der Suche nach Selbstbestimmtheit von Psychiatriepatienten und Sympathisanten zu solcher Radikalisierung beigetragen haben?
Während des Filmens wurde mir zunehmend klar, dass es bei der Verfolgung des SPK und dessen vehementer Gegenwehr nicht um einen internen Konflikt zwischen Psychiatrie-Ordinarien und einem jungen Assistenzarzt an der Universität Heidelberg ging, sondern dass es sich dabei um einen zutiefst politisch motivierten Vorgang handelte. Es ist mir wichtig, die Frage aufzuwerfen, wie sich in Umbruchsituationen konkrete soziale Interessen auch politisch instrumentalisieren lassen. (Gerd Kroske)
Die Akteur*innen
Lutz Taufer
Aufgewachsen im Nachkriegsdeutschland. Mitte der 1960er Jahre Studium, ab Juni 1967 in der Studentenbewegung, später im SPK aktiv, danach in Komitees gegen Isolationsfolter. 1975 mit dem „Kommando Holger Meins“ Überfall auf die Deutsche Botschaft in Stockholm, statt der geforderten Freilassung von Gefangenen gab es vier Tote. 20 Jahre Gefängnis, Hochsicherheitstrakt, zwölf Hungerstreiks. 1995 Freilassung, ab 2000 Arbeit in brasilianischen Favelas mit den Schwerpunkten Solidarökonomie und Theater der Unterdrückten. Seit 2012 lebt Lutz Taufer in Berlin und ist im Vorstand des Berliner Weltfriedensdienstes tätig. 2017 erschien seine Autobiografie „Über Grenzen – vom Untergrund in die Favela“.
Carmen Roll
Geboren 1947 in Attendorf, studierte Sozialpädagogik in Heidelberg. Aktiv im SPK seit 1971. Mitangeklagte im SPK-Prozess wegen Beteiligung an einer kriminellen Vereinigung (§129), ihr gelang die Flucht. Sie war bei der RAF, lebte in der Illegalität und wurde gemeinsam mit Thomas Weisbecker (verstorben) im März 1972 verhaftet. Nach vier Jahren Haft wegen Zugehörigkeit zu zwei kriminellen Vereinigungen (SPK und RAF) erfolgte 1976 ihre Entlassung aus Stuttgart-Stammheim. Sie siedelte nach Triest (Italien) über und arbeitete dort als Krankenschwester und Sozialarbeiterin gemeinsam mit dem italienischen Psychiater Franco Basaglia an der Auflösung von Großpsychiatrien in Italien, später im Auftrag der WHO weltweit. Heute berät sie Kooperativen und Kommunale Gesundheitszentren bei der Bildung von Makrostrukturen. Sie äußert sich erstmals vor der Kamera zu ihrer eigenen Geschichte.
Karl-Heinz Dellwo
Geboren 1952 in Oppeln, war unter anderem kaufmännischer Lehrling, Seemann, Aushilfsfahrer. 1973 war er Hausbesetzer in Hamburg und erhielt dafür eine einjährige Haftstrafe. Danach war er in verschiedenen Komitees gegen Isolationsfolter aktiv. Als Mitglied der RAF („Kommando Holger Meins“) beteiligte er sich 1975 an der Besetzung der Deutschen Botschaft in Stockholm und wurde deshalb verurteilt. Nach zwanzig Jahren Haft, von denen er insgesamt mehr als zwölf Monate im Hungerstreik verbrachte, wurde er 1995 entlassen. Karl-Heinz Dellwo lebt und arbeitet als Kaufmännischer Berater eines Start-up-Unternehmens und als Leiter des Laika-Verlags in Hamburg. 2007 erschien seine kritische Analyse zum „Konzept Stadtguerilla“ in seinem Buch „Das Projektil sind wir“.
Ewald Goerlich
Als Sohn eines Facharztes 1949 in Reutlingen geboren, studierte Physik und Mathematik in Heidelberg und Stuttgart, später Medizin in Algier und Paris. Im SPK übernahm er eine Therapeutenfunktion in der Einzel- und Gruppenagitation. Goerlich war aktiv an der Flugblatt- und Agitationsarbeit des SPK in Heidelberg beteiligt. Nach zehnmonatiger Untersuchungshaft wegen Beteiligung an einer kriminellen Vereinigung (§ 129) gelang ihm 1972 die Flucht nach Algerien, wo er politisches Asyl erhielt. Anschließend lebte er in der Illegalität in Frankreich, 1979 stellte er sich in Paris der Polizei. Sein Prozess wurde Ende der 1970er Jahre in Karlsruhe nachgeholt. Seine Strafe wurde mit der U-Haft abgegolten. Seither lebt Ewald Goerlich als Kardiologe in Frankreich.
Marieluise Becker-Busche
Studierte Jura in Heidelberg und begründete gemeinsam mit ihrem damaligen Ehemann Eberhard Becker (verstorben) die Anwaltssozietät Laubscher-Becker-Becker in Heidelberg, die frühzeitig politische Mandate, später dann Strafverfahren übernahm. Nach Ausschluss ihres Ehemanns aus dem SPK-Verfahren übernahm sie die Vertretung einiger angeklagter SPK-Mandanten. Becker schloss sich während des Verfahrens der RAF an. Später war Marieluise Becker-Busche neben Hans-Christian Ströbele, Otto Schily und anderen die einzige weibliche Rechtsanwältin der Angeklagten der Baader-Meinhof-Gruppe in den Stammheim-Verfahren. Seither war sie als Strafverteidigerin tätig, inzwischen ist sie Anwältin für Familienrecht.
Hans Bachus
Geboren 1942 in Königsberg, studierte ab 1967 zunächst Medizin, dann Jura in Heidelberg. Im Oktober 1970 schloss er sich dem SPK an und wurde im Arbeitskreis Fototechnik aktiv. Im Frühjahr 1971 verließ er das SPK und stellte sich der Bundesanwaltschaft als Kronzeuge zur Verfügung. Seine Aussagen führten zu mehreren Großrazzien, Anklagen sowie Verhaftungen von elf Mitgliedern des SPK. Im Anschluss machte er eine Fotoausbildung und arbeitete als Fotofachberater, später selbstständiger Fotograf.
Alfred „Shorty“ Mährländer
Geboren 1942 in Berlin, Ausbildung zum Kaufmännischen Angestellten im Lehrmittelvertrieb. Ende der 1960er Jahre schloss Mährländer sich den „Umherschweifenden Haschrebellen“, später den „Tupamaros“, und der „Bewegung 2. Juni“ an. Bei einer „Logistikfahrt“ am Wohnort Dr. Wolfgang Hubers im Juni 1971 in Wiesenbach wurde er, nach einem Schusswechsel mit einem Polizisten, wegen Mordversuchs festgenommen. Eine Tatbeteiligung konnte ihm nicht nachgewiesen werden. Verurteilt wurde er wegen des Besitzes gefälschter Ausweisdokumente. Seither arbeitete er unter anderem im Backstage-Bereich von Berliner Konzertveranstaltern und betreute Musikbands auf Tourneen.
Edgar Seitz
Späterer Chef der Kriminalpolizei der ehemaligen Polizeidirektion Heidelberg, beteiligt an dem Einsatz der „SOKO Wiesenbach“. Ehemaliger Leiter des Staatsschutzes in Heidelberg, heute pensioniert.
Kurt Groenewold
Rechtsanwalt seit 1965, Verteidiger in Strafsachen insbesondere im politischen Strafrecht. Er vertrat gemeinsam mit seinem Rechtsanwaltskollegen Croissant einige SPK-Mandanten, später die Angeklagten im Baader-Meinhof-Verfahren. Groenewold erlebte Verfahrensausschluss und Berufsverbot wegen mutmaßlicher Beteiligung und Begründung eines „Infosystems“ zwischen den Haftanstalten der in Haft befindlichen RAF-Mitglieder. Später Aufhebung des Urteils und Aufhebung des Berufsverbots. Gründer der Zeitschrift „Strafverteidiger“. Aktuell arbeitet Kurt Groenewold an einem Lexikon politischer Strafprozesse.
Wilhelm Gohl
Vorsitzender Richter im ersten (1972) und zweiten SPK-Prozess (1973) in Karlsruhe. Seine Gerichtsentscheidungen, besonders jene in politischen Strafverfahren, wurden unter anderem in dem Buch Die Gefahr geht vom Menschen aus (1976) dokumentiert, dessen Titel ein Zitat Gohls ist. Nach einer erfolgreichen Laufbahn, zuletzt als Landgerichtspräsident, ist Wilhelm Gohl heute pensioniert.
Jürgen Schreiber
Journalist und Autor (Stuttgarter Zeitung, Frankfurter Rundschau, GEO, Merian und Zeit-Magazin u. a.). Im Frühjahr 1972 schrieb er gemeinsam mit seinem Kollegen Reiner Wochele in der Stuttgarter Zeitung den Beitrag „Aus dem sprachlosen Gefängnisalltag des Dr. Huber“. Bekannt wurde Scheiber unter anderem durch seine Recherchen zu dem Buch „Ein Maler aus Deutschland“, in dem er den tragischen Familienverstrickungen des Malers Gerhard Richter während der NS-Zeit nachgeht.
Dagmar Welker
Geboren 1943 in Heidelberg, Fotografin, überwiegend in der Redaktion der Rhein-Neckar-Zeitung. Durch ihre fotografischen Arbeiten sind die Ereignisse um das SPK dokumentiert. Sie gewährte uns uneingeschränkten Zugang zu ihrem umfangreichen Bildarchiv.
Antonella Pizzamiglio
Lebt als Fotografin in Italien, wurde bekannt durch Mode- und Werbefotografie. Für das Umfeld von Franco Basaglia dokumentierte sie die Auflösung und Umwandlung früherer Großpsychiatrien in Italien, Griechenland und Albanien. Aktuell ist sie in einer Dauerausstellung auf dem früheren Klinikgelände in San Giovanni, Triest, mit Fotografien über die Schließung der Psychiatrieeinrichtung auf der griechischen Insel Leros vertreten, die sie ab 1989 begleitete. Diese Bilder erhielten unlängst erneut Aufmerksamkeit, weil aus dem damaligen Psychiatriegelände auf Leros ein Registrierzentrum für Geflüchtete wurde.
(Realistfilm)