Wie ein Ei in der Pfanne
Ganz gleich, ob man Hitchcocks Film VERTIGO, diese mörderische Beschäftigung mit dem männlichen Blick, kennt oder nicht: Wir wünschen uns, dass sich das Publikum in genau den Mysterien und Freuden verliert, denen wir bei der Arbeit an unserer Version dieses Films begegnet sind. Ausgangsmaterial waren Szenen aus Kino- oder Fernsehfilmen, die ausschließlich in San Francisco gedreht oder angesiedelt waren. Wir haben sie zu unserem eigenen Vergnügen überarbeitet und verfremdet; in seiner Form erinnert unser Film an VERTIGO, reimt sich in Teilen auf ihn, setzt ihn neu zusammen und wendet die Wildheit und Opferrolle des vernichtenden Originals hin und wieder wie ein Ei in der Pfanne. Lehn dich zurück und lass die Emulsionen, die Pixel und den Staub der präparierten Tiere deine Augäpfel berieseln. (Guy Maddin, Evan Johnson und Galen Johnson)
Lass eine kleine Ecke brach liegen!
„Gib dem Mysterium Raum in dir; pflüge nicht immer deinen gesamten Boden mit der Pflugschar der Selbstprüfung, sondern lass eine kleine Ecke in deinem Herzen brach liegen, bereit für vom Wind hergewehte Samen, und reserviere einen schattigen Winkel für den vorbeiziehenden Vogel; halte in deinem Herzen einen Platz für die unerwarteten Gäste frei, einen Altar für den unbekannten Gott.“ (Henri-Frédéric Amiel)
Gespräch mit den Regisseuren: „Wir haben versucht, Wege vom männlichen Blick weg zu suchen“
Joshua Encinias: Betrachtet ihr THE GREEN FOG als eine Art Essayfilm, der Hitchcocks Inszenierung des männlichen Blicks in VERTIGO untersucht?
Guy Maddin: Als Noah Cowan uns vorschlug, einen Abschlussfilm für das Filmfestival in San Francisco zu realisieren, der nur aus Material besteht, das in San Francisco gedreht wurde, dachten wir zunächst an eine Stadtsymphonie, waren uns jedoch nicht ganz sicher, wie wir vorgehen sollten. Ziemlich bald wurde uns klar, dass wir mit einer VERTIGO-Adaption, bei der wir mit Material aus anderen San-Francisco-Filmen arbeiten, jede Freiheit haben würden, den Originalfilm auf die Schippe zu nehmen und all das zu tun, was man in guten Filmessays macht, nur ohne Voice-over.
Evan Johnson: Während der Arbeit an THE GREEN FOG schien mir der Film die Argumentationsform eines Essays zu entwickeln. Mittels These und Antithese sowie einem Zusammenführen der Standpunkte ging es um die Bedeutung von VERTIGO und die Gefahr, die von diesem Film ausgeht. Ich hatte jedoch keine klar ausformulierten Ansichten. Was auch immer die Aussage von THE GREEN FOG ist – für mich stellt sie immer noch ein Mysterium dar.
Nachdem ich THE GREEN FOG gesehen habe, würde ich sagen, dass Hitchcocks Darstellung des männlichen Blicks in VERTIGO eure These ist und das Amiel-Zitat eure Antithese. Könntet ihr ausführen, wie ihr diese beiden Themenbereiche miteinander in Verbindung gebracht habt?
Evan Johnson: Das Zitat stammt aus SUDDEN FEAR (1952, Regie: David Miller) und wird von Jack Palance gesprochen. Mich hat es wie eine Art Manifest durch den gesamten Film geführt. Auf unserem ersten Posterentwurf stand der Satz „Gib dem Mysterium Raum“. Er ermahnte uns, nicht zu sachlich an unser Projekt heranzugehen. Außerdem gibt dieser Satz wieder, was wir über den männlichen Blick in VERTIGO sagen wollten, auch wenn nicht alles davon im Film ausformuliert ist. Woraus der männliche Blick besteht und was er vermag, wird in VERTIGO sehr selbstkritisch, sehr ehrlich und brutal thematisiert. Gleichzeitig dachten wir uns, dass es schön wäre, einen Film über den männlichen Blick zu drehen, der die weiblichen Figuren nicht zu sehr herabsetzt. Dabei ging es uns um andere Mechanismen als den männlichen Blick.
Guy Maddin: Ich liebe die Szene mit den beiden Frauen, die über ihre Museumsbesuche sprechen. Auf diese Weise bekommt man Einblick in Madeleine Elsters Leben (Hauptfigur in VERTIGO, gespielt von Kim Novak; Anm. d. Red.), man erfährt, wie sie ihre Freizeit verbringt und welche Sorgen sie bekümmern. Diese Szene eröffnet eine Perspektive, die Hitchcock nicht zulässt. Gleichzeitig macht THE GREEN FOG an dieser Stelle das gleiche wie VERTIGO. Trotzdem ist der Film selbstkritisch und bietet eine Reihe zusätzlicher Aspekte an.
Wie kam es zu der Entscheidung, das Atmen zwischen den Worten, zwischen Mimik und Gestik, zwischen den Hintergrundgeräuschen und der Musik des Kronos Quartets zu einem prägenden Moment des Films werden zu lassen, der als Dialog fungiert?
Galen Johnson: Zu Beginn hat es dabei geholfen, unsere Version von VERTIGO zu finden. Wir hatten eine Vielzahl von Szenen, die mit dem, was wir sagen wollten, nichts zu tun hatten. Es schien am besten, diese Szenen wieder herauszunehmen. (Lacht) Ich wusste damals nicht, wie cool das Atmen klingen würde.
Guy Maddin: Wenn man den Dialog aus einer Szene entfernt, sprechen die Figuren plötzlich nicht mehr miteinander, sondern sehen sich an. Das macht einen großen Unterschied und passte thematisch gut zu unserem Vorhaben. Darüber hinaus hört das Publikum zu. Man könnte meinen, dass Zuhören etwas Selbstverständliches ist, aber da wir einen Komponisten und ein Streichquartett beauftragt hatten, mussten wir klarstellen, dass das Publikum beim Sehen des Films auch wirklich zuhört.
Wir haben unglaublich gelacht, als wir die Dialogpassagen aus den Filmen entfernten. Die Fernsehschauspieler*innen wurden ohne Dialog viel besser. Dort, wo ihnen das Sprechen der vermutlich schnell hingeschriebenen, platten Dialoge womöglich schwergefallen war, wurde ihre Darstellung ohne Worte auf einmal kraftvoll und erotisch. Sie drückten so viel mehr mit ihrer Mimik aus. Anstatt etwas hinzuzufügen, was mit den Gesichtern konkurriert, haben wir etwas entfernt und damit den Blick auf das Gesicht freigelegt.
Diese Gesichter sind einem sehr vertraut. In ihnen spiegeln sich die Ausleuchtungstechniken der unterschiedlichsten Epochen. Es gibt eine Sequenz mit Chuck Norris, in der er ohne Dialogstimme geradezu Bresson’sche Ausstrahlung hat. Der Film heißt EYE FOR AN EYE. Chuck Norris spielt darin einen Mann, der untröstlich ist, weil sein Partner oder Mentor ermordet wurde. Die Figur des Mentors wurde von Terry Kiser gespielt, der wiederum die Rolle des Bernie in WEEKEND AT BERNIE’S gespielt hatte.
Habt ihr die Hintergrundgeräusche selbst produziert?
Evan Johnson: Ja, wir haben viele Tonspuren neu hinzugefügt. Es gab verschiedene Szenen, in denen wir die Stimmung der Szene abgleichen und über die gesamte Sequenz anpassen mussten. Dialogpassagen aus Szenen zu entnehmen, geht nicht immer problemlos. Bei der Hälfte der Szenen sieht man Köpfe von Figuren, die zuhören, wie eine andere Figur spricht. In diesen Fällen mussten wir die Umgebungsgeräusche im Restaurant oder auf der Straße ersetzen und zusätzliche Soundeffekte hinzufügen, die nicht vorhanden waren. Eine Szene in THE GREEN FOG stammt aus THE TOWERING INFERNO: Paul Newman schlägt eine Autotür zu, doch das entsprechende Geräusch fehlte auf der Originaltonspur – dementsprechend mussten wir es ergänzen. Wir haben das perfekte Zuschlagen einer Autotür kreiert und so die Arbeit früherer, fauler Editoren korrigiert. (Alle lachen) Das nahtlose Entfernen des Dialogs, so wie es uns vorschwebte, hat uns viel Arbeit gekostet.
Wie ließen sich die Rechte bei den zahllosen Fernseh- und Kinofilmen klären, aus denen ihr Ausschnitte verwendet habt?
Guy Maddin: Eine wichtige Mitarbeiterin des Projekts war eine Rechtsanwältin in San Francisco, die auf das Thema „faire Nutzung“ (fair usage) spezialisiert ist. Während Galen und Evan in Winnipeg den Film montierten, war es meine Aufgabe, ihr zu erläutern, wie viel Material wir benutzen und wie wir es einsetzen würden. Auf diese Weise habe ich viel über faire Nutzung gelernt. Er geht vor allem darum, dass ein Rechtsanwalt einen schlüssigen Schriftsatz für den Richter aufsetzt, damit der Film versichert werden und die Arbeit daran beginnen kann. Gemäß den aktuellen Fair-Usage-Regelungen haben wir nicht zu viel aus einer Quelle verwendet. Ich habe neulich mit Bill Morrison über DAWSON CITY: FROZEN TIME (2016) gesprochen. Er hatte für seinen Film einige Rechte erworben, dies aber später bereut, weil er das Material unentgeltlich im Rahmen der Gesetze zur fairen Nutzung hätte verwenden können.
Wart ihr nervös, den Film außerhalb des San Francisco Filmfestivals zu präsentieren? Ich habe gelesen, dass Tippi Hedren Alfred Hitchcock mit Harvey Weinstein verglichen hat.
Evan Johnson: Es kam mir gar nicht in den Sinn, deswegen nervös zu sein. Es gibt verschiedene Verteidigungsebenen. Man kann VERTIGO mit einer grundsätzlichen Kritik an Hitchcocks Methode und dem Thema des männlichen Blicks verbinden. Wir haben versucht, diese Kritik zu verstärken und Wege vom männlichen Blick weg zu finden. Wir wollten aber auch nicht den Helden spielen. Wir hatten Termine im Nacken und wenig Zeit. Uns beschäftigten kleine formale Fragen, und dann war der Film auch schon fertig. Wir wollten uns einfach eine Freude damit machen.
Tippi hat bestimmt recht mit dem, was sie über Hitch sagt. Er scheint in verschiedenster Hinsicht ein dubioser Mensch gewesen zu sein. Trotzdem muss ich ihn nicht verteidigen. Ich habe von seinen Filmen viel gelernt, bin aber inzwischen an einem Punkt angelangt, an dem ich einiges an VERTIGO kritisieren kann. Ich habe den Film mittlerweile sehr oft gesehen: Der ursprünglich katastrophale Eindruck ist ein wenig verblasst, und es macht Spaß, das eine oder andere daran zu beanstanden. (Lacht)
Guy Maddin: Der Gedanke kam mir irgendwann. Ich will das nicht herunterspielen, aber es ist wie Evan sagt: Jeder hat eine Meinung über VERTIGO in Bezug auf den männlichen Blick. Unser Film spielt damit, vielleicht nicht immer ganz offensichtlich, aber zumindest von einem Standpunkt aus, der sich von diesem gefährlichen Terrain distanziert. Diese Dinge standen für uns nicht im Mittelpunkt. Uns stand eine Vielzahl von Filmen zur Verfügung, aus denen wir uns hätten bedienen können, um den männlichen Blick zu intensivieren, aber das wäre uns nicht in den Sinn gekommen.
(Interview: Joshua Encinias, thefilmstage.com/features/guy-maddin-on-reinventing-vertigo-with-the-green-fog-male-gaze-and-the-bressonian-qualities-of-chuck-norris/)