Lektionen in Populismus
Als ich das Material, das ich vor 30 Jahren bei Demonstrationen gegen Waldheim gedreht hatte, wieder sah, war ich schockiert. Hatte ich vergessen, wie leicht Emotionen gegen andere geschürt und von populistischen Politikern benutzt werden können? In WALDHEIMS WALZER versuche ich zu analysieren, was damals los war. Und was uns heute leider bekannt vorkommt, wenn wir an Trump, Kurz/Strache und andere Meister der „alternativen Fakten“ und des Populismus denken. (Ruth Beckermann)
Gespräch mit Ruth Beckermann: „Die Waldheim-Affäre war die Kehrseite des jetzigen Zustands“
Karin Schiefer: 1986 wurde Kurt Waldheim zum österreichischen Bundespräsidenten gewählt, 2000 kam Schwarz-Blau 1 [Koalition zwischen der Österreichischen Volkspartei (ÖVP, schwarz, seit 2017 auch türkis) und der Freiheitlichen Partei Österreichs (FPÖ, blau)] an die Regierung. Wir treffen uns zu diesem Interview zwei Tage nach der Vereidigung der Regierung von Sebastian Kurz (ÖVP) und Heinz-Christian Strache (FPÖ), 17 Jahre nach Schwarz-Blau 1. Es scheint, als würde es in Österreichs politischer Landschaft etwa alle 15 Jahre einen Ruck nach rechts geben bzw. als würde die österreichische Gesellschaft in diesem Rhythmus von ihrer Vergangenheit eingeholt werden. Erscheint Ihnen die Affäre Waldheim symptomatisch für das politische Terrain Österreich?
Ruth Beckermann: Ich habe die ersten Recherchen für diesen Film schon vor DIE GETRÄUMTEN (2016) begonnen und dann verschoben. Der Anlass, mich diesem Thema wieder zuzuwenden, war, dass ich mir selbst gedrehtes Material von 1986 wieder angesehen habe und junge Leute – die Generation meines Sohnes –, die damals noch nicht geboren waren, mich drängten, einen Film zu machen. Das politische Terrain Österreich ist, so absurd es klingt, noch immer vom Nationalsozialismus mitbestimmt. Die Affäre Waldheim war aber die Kehrseite der Phänomene Hofer/Strache und des jetzigen Zustands. In der Waldheim-Affäre ging es darum, endlich mit der Vergangenheit halbwegs ins Reine zu kommen, das heißt, die österreichische Opferlüge aufzubrechen. Man begann endlich, die Beteiligung der Österreicher am Nationalsozialismus aus einer anderen Perspektive zu sehen. Die Wahrheit hat sich schließlich durchgesetzt, auch wenn es lange gedauert hat. Franz Vranitzky [österreichischer Bundeskanzler von 1986 bis 1997] hielt seine Rede über die Mitschuld der Österreicher ja erst 1991. Was Hofer und Strache heute tun, ist das Gegenteil: Sie benutzen Elemente aus der Ideologie des Nationalsozialismus, um die Zukunft zu gestalten. Um das zu verdecken, üben sie ein scheinheiliges Gedenken. Das ist das Schlimme an der aktuellen Entwicklung.
WALDHEIMS WALZER schlägt eine Brücke zu einem Ihrer Filme aus dem Jahr 1996: Jenseits des Krieges, in dem Sie anlässlich der Ausstellung „Vernichtungskrieg. Über die Verbrechen der Wehrmacht 1941 bis 1944“ die Reaktionen der Besucher*innen bzw. deren Interaktionen beobachtet haben. Was Sie damals, zehn Jahre nach der Affäre Waldheim, kollektiv betrachtet haben, haben Sie nun anhand der Person Kurt Waldheims unter die Lupe genommen; dabei gelangen Sie an eine der Kernfragen Ihres filmischen Schaffens: Wie konstruieren wir Menschen Erinnerung? Für wie entscheidend erachten Sie Erinnerung bzw. den Umgang damit für gesellschaftliche Entwicklungen?
Ich glaube, dass Erinnerung sich immer wieder neu konstruiert. Das betrifft unsere eigene, je nachdem, welche Prioritäten wir gerade in der Gegenwart setzen. Und auch die kollektive und nationale Geschichte wird immer wieder um- und neu geschrieben, je nach den Bedürfnissen der Gegenwart. Insofern war es nicht nur interessant, mit einem Abstand von 30 Jahren mein eigenes Material wieder zu sehen, sondern auch, meine eigenen Erinnerungen zu überprüfen und mir auch das Material, das damals zur Affäre Waldheim im internationalen Kontext gedreht wurde, gründlich anzuschauen. Auch die eigene Erinnerung trügt. Das legendäre Holzpferd zum Beispiel [nach einer Skizze von Alfred Hrdlicka im Auftrag des „Republikanischen Clubs – Neues Österreich“ angefertigte Skulptur als Ausdruck des Protests gegen Kurt Waldheims falsche Darstellung seiner Mitgliedschaft in einer SA-Reiterstaffel; Anm.d.Red.] gab es erst nach Waldheims Wahlsieg, während ich es bereits der Wahlkampfphase zugeordnet hätte.
Warum interessiert sich Ihrer Meinung nach die junge Generation für dieses Material?
Die spontane Assoziation der jungen Leute, denen ich dieses Material gezeigt habe, ist Donald Trump – Lüge, Fake News, Alternative Facts und das Schüren von Ressentiments. Es war mir sehr wichtig, im Film den Konnex zur Waldheim-Affäre aus heutiger Sicht herauszuarbeiten: zum einen mit dem Lincoln-Zitat am Anfang des Films und mit dem Verweis darauf, wie Alois Mock und Michael Graff, also hochrangige Repräsentanten der ÖVP, erfolgreich Ressentiments geschürt haben. Heute würden Politiker diesen Diskurs nicht mehr führen. Die FPÖ stimmte der Finanzierung eines Mahnmals für die Ermordeten von Maly Trostinez zu, man lobt Israel, spricht gerne vom „jüdisch-christlichen“ Europa, obwohl die Juden seit Jahrhunderten von Christen verfolgt wurden. Gleichzeitig ist die Rede davon, dass man Asylwerber in Ghettos am Stadtrand stecken will. Die Toten weinen noch in ihren Gräbern, wenn von rechtsextremen Politikern das Gedenken bereits dazu benutzt wird, um in ihrem Sinne Politik zu machen.
Sie stellen in Ihrem Film dem profund recherchierten Archivmaterial Ihre Off-Stimme gegenüber, die Ihre subjektive Position klarstellt. Ihr erster Satz lautet: „Am besten erinnere ich mich an die Szenen, die ich selbst gedreht habe. Das war im Mai 1986.“ Wie haben Sie den Spannungsbogen zwischen Subjektivität und Objektivität gehalten?
Ich stelle von Beginn an klar, dass es sich um einen Film aus der Position einer Aktivistin von damals handelt. Ich denke, es ist eine Funktion des Kinos, Stellung zu beziehen und transparent zu machen, aus welcher Perspektive man die Dinge betrachtet – im Gegensatz zum Fernsehen, das die Dinge nivelliert, oder zu den sozialen Medien, die in der eigenen Blase agieren. Es macht die Kraft des Kinos aus, widerständig zu sein. In WALDHEIMS WALZER arbeite ich ausschließlich mit Archivmaterial, das ich heute betrachte und analysiere.
Haben Sie mit dem Gedanken gespielt, auch neues Material zu drehen?
Nein. Ich wollte auf keinen Fall heutige Erinnerungsinterviews drehen, weil ich das für langweilig halte. Ich habe natürlich mit einigen Protagonisten von damals gesprochen, die unterschiedliche Positionen vertraten, dabei kam aber nichts Neues heraus. Die damaligen Waldheim-Befürworter, die noch am Leben sind, verteidigen nach wie vor ihren Standpunkt, und auf der anderen Seite hat sich natürlich auch nichts geändert. Ich denke, man kann auf der Grundlage eines Films, der historisch bleibt, viel besser über das Heute sprechen, als wenn in einem Film die damaligen Protagonisten als ältere Männer befragt werden und dann in ihren Erinnerungen schwelgen. Ich sage bewusst „Männer“, weil WALDHEIMS WALZER ein Film ist, in dem nur Männer vorkommen – auch etwas, was heute anders wäre. Die Protagonisten sind alle Väter und Söhne.
Die Sequenz, in der Gerhard Waldheim im Rahmen eines Hearings versucht, seinen Vater zu verteidigen und angesichts der Argumente seines Gegenübers nur noch schweigen kann, zählt zu den stärksten Momenten des Films. Ist dieser Moment symbolisch für die Bruchlinie, die erstmals im Nachkriegsösterreich zwischen der Kriegsgeneration und den Nachgeborenen verläuft und eine neue Sicht der Vergangenheit ermöglicht?
Gerhard Waldheim ist ein Sohn, der sich zur Verteidigung seines Vaters erstaunlich exponiert. Die Bruchlinie verläuft ja auch innerhalb der Generation der Söhne, in der es auch jene gab, die ihre Väter im Zuge der Waldheim-Affäre massiv kritisierten. Die Waldheims stehen für ein Konzept von Familie, bei dem es darum geht, um jeden Preis ein Bild nach außen aufrechtzuerhalten. Das Material von diesem Hearing ist außergewöhnlich und das Herzstück des Films. Es wurde nie gesendet und ist dennoch ungeschnitten in voller Länge erhalten; das hat Seltenheitswert. Aufgrund des für ein Hearing charakteristischen dramatischen Settings sind beide Seiten im Raum vertreten. Gerhard Waldheim liefert eine sehr beeindruckende Performance, man hat auch Mitleid mit ihm, weil er so massiv angegriffen wird. Aus meiner heutigen Sicht betrachte ich die Affäre Waldheim als einen Generationenkonflikt, der zeigt, wie unterschiedlich sich Söhne gegenüber ihren Vätern verhalten: Gerhard Waldheim hat seinen Vater offensiv verteidigt. Andererseits gehören aber auch die Mitarbeiter des Jüdischen Weltkongresses seiner Generation an; auch sie sind Söhne, zum Teil von Vätern, die aus Europa flüchtend in die USA gekommen waren, oder sie gehören jenen Familien an, die ein schlechtes Gewissen hatten, weil sie nicht genug getan haben, um ihre Brüder und Schwestern zu retten. Auf beiden Seiten wurde etwas aufgearbeitet, was die NS-Vergangenheit betrifft. In WALDHEIMS WALZER geht es auch um den Umgang der Amerikaner mit dem Thema: Sie sahen in Waldheim vor allem den UNO-Generalsekretär, durch den diese humanitäre Institution und ihre Politik in den 1970er Jahren Gefahr lief, beschmutzt zu werden, während das zentrale Thema in Österreich die Opferlüge war.
Zu Beginn des Films zitieren Sie Roland Barthes, der anlässlich der berühmten Fotoausstellung „The Family of Man“ 1955 schrieb, dass der Mythos der Conditio humana „auf einer sehr alten Mystifikation“ beruhe, „die von jeher die Geschichte auf Natur gründen möchte“. Sie spielen in Ihrem Film auf die Natur, aber auch auf „Naturgesetze“ wie das der Familienzugehörigkeit an. Welche Rolle spielt der Naturbegriff in WALDHEIMS WALZER?
Familie gilt in dem konservativen Wertekonzept, für das Waldheim steht, als etwas Natürliches, allerdings nur in der traditionellen Form Mann – Frau – Kind. Man heiratet und bleibt bis zum Tod zusammen; das ist gewissermaßen ein „Naturgesetz“. Ich spiele natürlich auch auf den Heimatfilm an und darüber hinaus an die eine Zeit lang wunderbar funktionierende Taktik Österreichs, sich mitsamt seinen Naturschönheiten als unschuldig darzustellen. Die Natur als etwas Unschuldiges darzustellen ist eine Lüge. Sie wird aber immer wieder als Mythos hergenommen, um Geschichte zu verleugnen. Österreichische Filme wie SISSI praktizieren das: In einer späteren Gegenwart, nämlich der der Nachkriegszeit, wird mit jungen Menschen eine frühere Vergangenheit (die der Monarchie) erschaffen, um die Nazi-Zeit auszulassen. Ein genialer Schachzug. Das Böse kommt in den Heimatfilmen natürlich vor, aber – ganz im Sinne der NS-Ideologie – als das Moderne, das aus der Stadt kommt. Dem wird die unschuldige Natur in Form von Landschaft, Familie, Tracht, Bauerntum, Tradition entgegengestellt. Genau dies wird in Waldheims Wahlkampf zelebriert: Blasmusikkapellen, die ganze Familie, die für ihn eintritt, die christlichen Werte, die er in den Vordergrund stellt.
Bereits bei JENSEITS DES KRIEGES wird deutlich, wie sehr Sie sich für die Mimik und Gestik Ihrer Gesprächspartner interessieren. Gleiches lässt sich für WALDHEIMS WALZER sagen. Wie haben Sie seine Körpersprache bei der Betrachtung des Materials erlebt, und welche Rolle spielte sie bei der Montage des Films?
Kein anderes Medium kann in Bild und Ton eine Oberfläche, das heißt den Körper, die Gesten, die Mimik, die Blicke so gut zeigen wie der Film. Bei Kurt Waldheim bietet es sich an, den Blick auf diese Ausdrucksformen zu richten, weil er vor allem seine langgliedrigen Finger so eindrucksvoll zum Einsatz bringt. Mit seiner Körperhaltung, seiner Art, einen Anzug zu tragen ist er sehr repräsentativ für die Generation von Politikern, der er angehört. Er wirkt wie ein Beamter, der in die Politik geht; als UNO-Generalsekretär war er das ja auch. Waldheim war ja kein Nazi; er war ein Offizier und wollte immer zur Elite gehören. Auch wenn er aus eher bescheidenen Verhältnissen stammt, war seine Familie immer sehr stark in der ÖVP verwurzelt. Ihm war schon in jungen Jahren klar, dass er in der ÖVP und nicht bei den Nazis Karriere machen würde. In diesem Punkt hat er eine gewisse Weitsicht an den Tag gelegt und sich entsprechend ausgerichtet. Allerdings hatte er in der Zeit des Nationalsozialismus als Intelligence Officer eine wichtige Position inne und wusste sehr viel. Ob mit vollem oder nur halbem Bewusstsein: Es war ihm sicher klar, warum er jene Zeit verschwieg oder herunterspielte.
Wo und in welchen Medien hat Ihre umfangreiche Archivrecherche angesetzt?
Begonnen habe ich im ORF damit, alle Materialien aus der Zeit von 1986 bis zur Historikerkommission 1988 zu sichten. Allerdings ist fast ausschließlich das gesendete Material archiviert – was nicht gesendet wurde, wurde leider auch nicht aufgehoben. Andererseits ist das eine Gegebenheit, die den Rechercheaufwand limitiert. Erinnern hat ja auch immer mit Vergessen zu tun, und es ist tatsächlich sehr aufschlussreich zu sehen, was gesendet und somit archiviert wurde. WALDHEIMS WALZER ist somit auch eine Betrachtung der Mediengeschichte: Worauf haben die verschiedenen Sender damals Wert gelegt? Was haben sie gesendet? Am Anfang der Waldheim-Affäre stand der Konflikt zwischen SPÖ und ÖVP im Vordergrund, ausgelöst durch eine Frage, die heute völlig irrelevant erscheint: Wer war der Verräter? Wer hat das Thema aufgebracht, dass Waldheim etwas in seiner Biografie verschwiegen hat? Die SPÖ hat binnen Kurzem erlebt, dass man in Österreich scheitert, wenn man die Nazi-Vergangenheit einer Person des öffentlichen Lebens aufzeigt. Interessant zu sehen war, wie die ORF-Journalisten sich allmählich wandelten: Zu Beginn ganz patriotisch, sprich: gegen „die Ostküste“, verstanden sie bald, dass von dort nicht allein überzogene Anschuldigungen, sondern auch Fakten kommen.
Nach einem umfassenden Sichtungsprozess musste ich mich auf die Thematik fokussieren, die ich heute als relevant erachte. Das Interessante an der Arbeit mit Archivmaterial besteht darin, dass man sehr analytisch arbeiten kann und muss und dabei eine Neuordnung dieser Puzzleteile vornimmt. Man betrachtet etwas Vergangenes und muss sich zugleich der Aufgabe stellen, es nach heutigen Kriterien zu ordnen. Das war eine neue und spannende Erfahrung.
Wo und mit welcher Fragestellung suchten Sie nach der ORF-Recherche noch über die österreichischen Grenzen hinaus?
Ich habe die Recherche in Großbritannien, in den USA, in Israel und Frankreich fortgesetzt, um das österreichische Material mit den Positionen der anderen Nationen in ein Spannungsfeld zu bringen. Übrigens zeigte der ORF 2016, als die Waldheim-Affäre sich zum 30. Mal jährte, einige Dokumentarfilme, die allerdings alle nur die österreichische Sicht auf die Ereignisse wiedergeben. Menschen wie Israel Singer oder Ilan Steinberg, die heute noch leben und damals auf der anderen Seite aktiv waren, wurden niemals befragt. Obwohl die Herangehensweise an das Thema inzwischen durchaus kritischer geworden war, ist die österreichische Sicht auf die Waldheim-Affäre seltsamerweise auf eine nationale Perspektive beschränkt geblieben. Für mich bestand einer der Lustmomente von WALDHEIMS WALZER darin, die Ereignisse im internationalen Kontext zu betrachten und die internationale Berichterstattung der Medien zu untersuchen.
Da Sie für WALDHEIMS WALZER nichts neu gedreht haben, sondern den Film ausschließlich aus vorhandenem Material haben entstehen lassen, war der Montageprozess mit Dieter Pichler gewiss ein anderer als bei Ihren bisherigen Projekten.
Wir haben im Sommer 2016 ca. 150 Stunden von mir und Sebastian Brameshuber vorselektiertes ORF-Material gesichtet. Hinzu kam Material, das über das Internet zugänglich war. Dennoch bin ich oft selbst in die Archive gegangen, in der Hoffnung, dort noch etwas zu finden, aber auch, um die Kühle des Internets zu überwinden. Ich wollte ein Gefühl für Archive entwickeln und mich beim ORF oder der BBC selbst in den Räumen aufhalten, in denen das Material aufbewahrt wird, und mit den Menschen sprechen, die dort arbeiten. Archivmaterial ist ein sehr kaltes Material, und ich brauchte lange, um einen Bezug dazu zu finden. Sich Material anzueignen, das man nicht selbst gedreht hat, ist ein ganz eigener Arbeitsprozess. Zunächst hatte ich vor, einen wesentlich größeren Zeitraum abzustecken. Erst als wir uns an die Montage machten, entschied ich mich für eine Konzentration auf die Monate des Wahlkampfs. Entsprechend der Abfolge der Ereignisse während des kurzen Abschnitts von März bis Juni 1986 wird der Film sehr schnell vorangetrieben. Unterbrochen wird diese Chronologie durch assoziative Exkursionen in verschiedene Zeiten, zu anderen Vorfällen, wodurch die Person Kurt Waldheim und die Affäre in einen größeren Kontext gestellt wird. Neben seiner Geschichte als UNO-Generalsekretär ist auch jener Zeitpunkt Mitte der 1980er Jahre zentral, als der Holocaust auch international zu einem so wichtigen Thema wurde. Das hat man heute vergessen. Es war kein Zufall, dass Waldheim erst 1986 und nicht schon vorher gestolpert ist. Ob man 1971/72, bevor er Generalsekretär bei der UNO wurde, versäumt hat, seinen Werdegang zu überprüfen, oder ob man über seine Rolle bei der Wehrmacht Bescheid wusste und dem Umstand keine Bedeutung beimaß – all dies sind offene Fragen.
Zu Beginn des Films sind Bilder zu sehen, die Sie 1986 als Aktivistin in der Affäre Waldheim selbst gedreht haben. Haben diese Bilder einen Prozess des Reflektierens über das eigene Bildermachen in Ihnen ausgelöst, gewissermaßen als Erinnerungsarbeit in der Erinnerungsarbeit?
Ich komme aus einer Zeit, in der Filmen noch etwas Besonderes war. Das Drehen ist für mich etwas ganz Spezielles und immer mit einem Anliegen oder einer Stimmung verbunden. Ich konnte und kann eine Kamera nicht permanent in mein Leben integrieren, darum drehe ich selten. Wenn ich es aber tue, dann hat das Material einen besonderen Wert für mich. Ein Teil des Materials, das ich in WALDHEIMS WALZER verwendet habe, wurde von dem Filmemacher Michael Palm gedreht, der damals auch auf Seiten der Protestierer war. Ich habe Kolleginnen und Kollegen vergeblich nach weiterem Material gefragt. Heute gibt es von Demonstrationen jede Menge Handybilder, wobei allerdings fraglich ist, wie viel davon aufbewahrt wird.
Hat Ihr früherer Kamerablick Sie, nach 30 Jahren eigenem Filmschaffen und einer Revolution im Umgang mit dem Medium, überrascht?
Mein Blick und mein Fokus haben sich eigentlich nicht geändert. Das hat mich sehr gefreut, umso mehr, als ich lange gebraucht habe, um meine eigene Bildarbeit ernst zu nehmen. Ich habe ja erst in THOSE WHO GO THOSE WHO STAY (2014) meine eigenen Bilder ausgestellt. Das Filmen selbst habe ich damals nicht sehr ernst genommen, ich habe einfach spontan gedreht. Heute bin ich stolz auf meinen Rundschwenk von den Demonstranten, die „Waldheim, nein!“ rufen und auf denen ich sehr lange verweile, bis zu dem Mann, der „Waldheim, ja!“ ruft. Ich bedaure lediglich, dass ich als Aktivistin nicht mehr mit meiner eigenen Kamera festgehalten habe.
Sie beschreiben bereits zu Beginn des Films Ihre Rolle zwischen „halb demonstrieren und halb dokumentieren“. Ist das eine Prämisse, die Ihre Arbeit immer wieder prägt?
Ich bin jemand, der in der Emotion gute Ideen hat – viel mehr als am Schreibtisch vor einem weißen Blatt. Ich halte beides für notwendig, mag es aber sehr, wenn Action herrscht. Eine Demo will ich nicht vom Straßenrand in einer Totalen beobachten, sondern mittendrin, nahe an den Menschen und ihren Gesichtern.
Es war keineswegs mein Plan, dass WALDHEIMS WALZER aus österreichischer wie auch aus internationaler Sicht so sehr an politischer Aktualität gewinnt. Lieber wäre mir, die politische Situation wäre eine andere. Gerade im Lichte von „Fake News“ betrachte ich diesen Film aber als eine Manifestation der Tatsache, dass solche Dokumentarfilme, die weder mit Stars noch tollen Bildern werben, eine wichtige Funktion haben und deshalb in Kinos gezeigt werden müssen, weil dort Menschen zusammenkommen und über aktuelle Fragen diskutieren können. Analytische Filme haben eine Wichtigkeit – heute vielleicht mehr als in den letzten Jahrzehnten, als die Politik relativ in Ordnung war und wir große Hoffnungen in Europa und die USA gesetzt haben. Ich halte es für sehr wichtig, Vergangenes so genau darzustellen, dass wir dabei heute an Charlottesville, Donald Trump, Ungarn oder an die österreichische Bundesregierung denken müssen.
(Interview: Karin Schiefer, Dezember 2017)