Gespräch mit Jagoda Szelc: „Die Seele ist ja etwas, das gar nicht verloren gehen kann“
Bernd Buder: Sie zeichnen ein intensives emotionales Bild zweier Schwestern, die grundverschieden, aber einander auch sehr ähnlich sind. Eine der beiden möchte die Kontrolle über ihre materielle Welt behalten, die andere verkörpert einen eher metaphysischen Ansatz. Wie sind Sie auf die Idee gekommen, diese beiden Welten miteinander zu konfrontieren?
Jagoda Szelc: Wir leben in einer Zeit geopolitischer und ökonomischer Krisen. Der Kapitalismus, wie wir ihn kennen, ist dem Ende geweiht – wir können es uns einfach nicht mehr leisten, mit solch einer Überproduktion weiterzumachen. In meinem Film geht es um eine Frau, die denkt, dass ihr die Welt gehört, und um eine andere, die verstanden hat, dass wir hier nur zur Miete leben. Wir werden uns damit abfinden müssen, die Position des Mieters einzunehmen statt die des Eigentümers, ansonsten bekommen wir große Schwierigkeiten. Ein kluger Mensch hat mir einmal gesagt, dass der Film vom Kampf zwischen der linken und der rechten Hemisphäre des Gehirns handelt.
Der Film zeigt eine Familie, in der Konflikte unter den Teppich gekehrt werden. Wenn man die Familie als „Keimzelle der Gesellschaft“ betrachtet, dann reflektiert Wieża. Jasny dzień. einen Riss, der durch die Gesellschaft geht. Brauchen wir mehr Metaphysik, um uns jenen Fragen zu öffnen, die wir im Interesse der „Kontrolle“ ignorieren, die wir aber besser beantworten sollten, um zu einem zukunftsfähigen Miteinander zu finden?
Spiritualität erfährt jeder für sich, alleine. Religion importiert gewissermaßen die Erfahrung von jemand anderem, der uns erklärt, wie die Welt funktioniert. Ich habe den Eindruck, dass jeder seine persönlichen spirituellen Bedürfnisse erkennt, und dass die Kirche – besonders die polnische – nicht die Spiritualität und die Rituale anbietet, nach denen die Menschen fragen. Es ist immer einfacher, eine Masse einsamer Menschen zu beherrschen, die in der ständigen Angst leben, etwas zu verlieren. Dabei ist die Seele ja etwas, was gar nicht verloren gehen kann. Wenn wir verstehen würden, dass wir nichts zu verlieren haben, dann gäbe es nicht so viel Furcht und Angstgefühle.
Sie haben in einem abgelegenen Haus in wunderschöner Landschaft gedreht. Dort vollziehen sich mehrere innere Kreise: Kaya ist in ihrem ganz eigenen spirituellen Universum gefangen, Mula in ihren Konventionen. Der gesamte existenzielle Diskurs innerhalb der Familie spielt sich an einem abgeschiedenen Ort ab. Auf der anderen Seite gibt es einige wichtige Nebenhandlungsstränge, etwa der syrische Kriegsflüchtling oder die Diskussion über Veganismus. Bringt die Welt da draußen schlussendlich unsere mitteleuropäische Luftblase zum Platzen?
Mula ist kein schlechter Mensch. Niemand in dieser Geschichte ist schlecht. Mula ist beigebracht worden, wie sie zu handeln hat, aber sie verfügt auch über Intuition. So wie wir. Nur als Kinder sind wir nicht schlecht. Anschließend werden wir nicht unbedingt dazu erzogen, alles infrage zu stellen. Dabei wäre das aber eine gute Lektion, um unabhängig denkende Menschen zu fördern, die Verantwortung übernehmen.
Danke für die Frage zu der Geschichte mit dem Flüchtling. Bisher hat niemand danach gefragt. Dieser Erzählstrang ist eine Art Protestlied zur politischen Situation in meinem Land. Der Flüchtling wird von meinem palästinensischen Kollegen am Fachbereich Regie der Staatlichen Hochschule für Film, Fernsehen und Theater in Łódź gespielt – Moha wurde in einem Geschäft in Lodz angegriffen. Ich wollte eine Szene in dem Film haben, in der Moha allen Menschen eine Stimme gibt, die von solch einem Verhalten betroffen sind. Er fleht Kaya an, ihn weitergehen zu lassen, und sie gibt den Weg frei. In einer anderen Szene sieht Kaya sich mit den Kindern eine Fernsehsendung über die grausamen Methoden in der Tierzucht an. Das ist mein zweiter Protestsong in dem Film, hier geht es um das Thema Veganismus. Ich möchte damit niemanden gönnerhaft vereinnahmen, sondern nur etwas Licht auf diese Dinge werfen.
Eine andere wichtige Nebenfigur ist der Pfarrer, der, im Gegensatz zu Kaya, nicht besonders spirituell ist und eine eher äußerliche Glaubenspraxis verkörpert. Am Ende wendet sich sogar die junge Nina, die ihrer Kommunion so entgegengefiebert hat, von dieser formalistischen Form der Religion ab. Öffnet Wieża. Jasny dzień. damit ein Fenster, um über andere Formen der Spiritualität zu spekulieren als jene, die die Kirche anbietet?
In diesem Zusammenhang sollte man wissen, dass die Kirche im Film gerade renoviert wird. Der Pfarrer spürt das Ende und den Neuanfang nahen. Weil er sich aber gewissermaßen als Bestandteil dieses Gebäudes fühlt, ist er unfähig, sich für Veränderungen zu öffnen. Er ist nicht schlecht, aber schafft es nicht, ein Gespür für seine Umgebung zu entwickeln. Die Kinder lachen über ihn, sie finden es lustig, dass jemand so blind für das sein kann, was um ihn herum passiert.
Sie haben mit unbekannten Schauspielern gedreht – mit Theaterschauspielern, die bisher noch nicht oft im polnischen Film zu sehen waren. Wann und warum haben Sie sich dafür entschieden, mit diesem Ensemble zu arbeiten, und wie haben Sie es auf die Dreharbeiten vorbereitet?
Ich wollte mit wirklich herausragenden Schauspielern arbeiten, die aber im Bereich Film möglichst wenig bekannt sein sollten. Der Kameramann Przemek Brynkiewicz und ich wollten, dass der Film lebensecht wirkt. Wieża. Jasny dzień. ist ganz und gar nicht improvisiert, alles war bis ins Detail vorbereitet. Jeder Schnitt war geplant. Die Schauspieler haben sich drei Wochen lang intensiv auf den Dreh vorbereitet. Davor haben sie sich über ein Jahr hinweg mehrfach getroffen, um vertraut miteinander zu werden. Jeder begab sich mit seinem ganz persönlichen metaphysischen Gepäck auf die Reise durch diesen Film. Anna Krotoska, die die Mula spielt, und Rafał Cieluch als Michal waren privat früher einmal liiert. Als ich Rafał castete, hatte ich keine Ahnung, dass die beiden sich kennen. Anna Krotoska und Małgosia Szczerbowska (Kaya) sind seit 20 Jahren befreundet.
Wieża. Jasny dzień. bietet eine ungewöhnliche Mischung aus Genre- und Arthousefilm-Elementen. Vor Ihrer Laufbahn als Filmemacherin haben Sie Kunst in Wrocław studiert. Das verleiht Ihrer künstlerischen Handschrift eine weitere besondere Note. An welchem Punkt haben Sie sich für diesen Stilmix entschieden, haben Sie irgendwelche filmischen Vorbilder?
Mir ist es egal, worum es in Filmen geht. Mich interessiert, wie sie den Zuschauer beeinflussen, was sie mit ihm „machen“. Es war mir von Anfang an klar, dass ich in dem Film mindestens einen Genrewechsel vollziehen wollte, um ihn wirkungsvoller auseinanderfallen lassen zu können. Ich wollte, dass das polnische Publikum sich daran erinnert, dass es das gleiche Recht hat, einen Film zu interpretieren, wie Kritiker oder Professoren. Solche Freiheiten sollte man ständig in Anspruch nehmen. Die Kunst hat die Aufgabe, das zu ermöglichen.
Was Vorbilder angeht, denke ich eher an Maler als an Filmemacher. Ich fühle mich selbst nicht wirklich als Filmemacherin. Ich werde Filme machen, solange ich mich weiterentwickle, und immer dann, wenn ich eine besondere Geschichte erzählen möchte. Dabei bin ich von einer jungen Malergeneration um Aleksandra Waliszewska, Alex Urban und Hubert Pokrandt ebenso beeinflusst wie von etwas älteren Künstlern wie Bacon, van der Pol, de Kooning und Lucian Freud. Ich weiß, das hört sich jetzt eigenartig an, aber es ist so.
Nachdem Wieża. Jasny dzień. auf dem polnischen Filmfestival in Gdynia mit den Preisen für den besten Debütfilm und das beste Drehbuch ausgezeichnet wurde, haben Sie in einem Interview vom „genetischen Code eines Films“ gesprochen: einem Hilfsmittel, um Filme jeweils über ihren künstlerischen Ansatz anstatt ihre Handlung zu verstehen, vor allem wenn sie keine Lösungsvorschläge anbieten, sondern Räume, um ihre Themen zu reflektieren. Wie würden Sie den genetischen Code Ihres Films beschreiben?
Wenn man einen Film über eine Figur macht, die die Kontrolle verliert, dann besteht der genetische Code dieses Films darin, dass der Film in einer Weise auseinanderfällt, dass auch der Zuschauer die Kontrolle verliert. Wenn man also als Regisseurin so einen Film macht, muss man selbst ebenfalls die Kontrolle verlieren, um nicht arrogant oder abgehoben zu wirken – vor allem, wenn man selbst ein Kontrollfreak ist. Dann hilft einem das Schicksal, etwas auf einen selbst anzuwenden, was man auf jemand anderen anwenden wollte. In diesem Sinn sind Filme ein wunderbares Hilfsmittel, um im Schnelldurchlauf durch das Leben zu gehen. Man bekommt dabei die Möglichkeit, multiple Menschwerdungen zu produzieren. Das Schöne dabei ist, dass sie nicht wirklich existieren – am Ende läuft der Film ja nur in unseren Köpfen ab.
(Interview: Bernd Buder, Januar 2018)