Die Reisen des Saatguts
Meine Arbeit an WILD RELATIVES begann damit, dass ich mich umfassender mit den Auswirkungen einer taxonomischen Betrachtungsweise der Natur auseinanderzusetzen anfing: Welche materiellen und gesellschaftlichen Veränderungen haben diese auf den Lebenskreislauf von Pflanzen und ihren Verbündeten, den Kleinbauern? Schon länger beschäftigte mich die zwiespältige Erfahrung, etwas Wunderschönem zu begegnen, das zugleich die Spuren kolonialer Gewalt in sich trägt – sei es in einem Herbarium, einem botanischen Garten oder in einem Labor für Biotechnologie.
WILD RELATIVES ist der erste Film, den ich vollständig außerhalb von Palästina realisiert habe. Dabei gleichen die Lebensgeschichten der Bauern im Libanon oder in Syrien, auch ihre Erfahrungen mit Machtstrukturen, durchaus denen meiner Eltern und Großeltern. Es ist gar nicht so lange her, dass Bauern aus Galiläa, aus dem Libanongebirge und aus dem Hauran Reisen auf sich nahmen, um ihre Ernte einzutauschen. Erst die einsetzende Agrarindustrie und die heutigen Grenzen bereiteten dieser Praxis ein Ende. Inzwischen kann man in der gesamten Region eine grundsätzliche Missachtung des Ackerbaus und eine massenhafte Landflucht in die urbanen Zentren beobachten. Meine eigene Familie bildet da keine Ausnahme.
Als ich mich im Libanon aufhielt, lernte ich das ICARDA (International Center of Agricultural Research in the Dry Areas) kennen, das vor einiger Zeit aufgrund des Bürgerkriegs in Syrien von Aleppo in die libanesische Bekaa-Ebene umgezogen war. Es war ihnen nicht möglich gewesen, die Genbank mitzunehmen, sodass sie eine vollkommen unversehrte Sammlung von mehr als 140.000 Saatgutproben, die von kleinen Bauern bzw. aus der freien Natur stammten, zurücklassen mussten. Um seine Arbeit fortsetzen zu können, begann das ICARDA, im Libanon ein Duplikat der ehemaligen Genbank aufzubauen. Dafür griffen die Mitarbeiter auf die Reserveproben aus dem Global Seed Vaults zurück, einer Lagereinrichtung für verschiedene Pflanzen-Genbanken aus der ganzen Welt.
Das Global Seed Vault befindet sich auf Svalbard, einer zu Norwegen gehörenden Insel im Arktischen Ozean. Das ICARDA war die erste Institution, die ihre Proben dem Global Seed Vault entnahm; das erregte in großem Ausmaß die Aufmerksamkeit der Medien.
Für jemandem wie mich, die in Jerusalem aufgewachsen ist, in Norwegen studiert hat und zeitweilig in Beirut lebt, löste die geografische Verbindung und die symbolische Dimension dieses Vorgangs sofort Interesse aus. Es inspirierte mich, eine Geschichte, anders als sie in den Medien vorkommt, zu entwickeln, in der die Verbindung zwischen diesen zwei winzigen Punkten auf der Erde durch den Austausch von Saatproben als Ausgangspunkt diente. Je mehr ich darüber erfuhr, desto klarer wurde, dass ich, um diese eine Geschichte zu erzählen, viele andere erzählen musste.
Hochertrag versus Saatguteinsparung
Ich machte mich mit der Geschichte des ICARDA vertraut, mit seinem Netzwerk (der CGIAR; einer strategischen Partnerschaft von 64 Mitgliedern zur „Bekämpfung der Nahrungsmittelknappheit in den tropischen und subtropischen Ländern“; Anm. d. Red.) und mit der Art und Weise, in der ICARDA an der genetischen „Verbesserung“ der Pflanzenvielfalt durch Kreuzungen arbeitet. Zu diesem Zweck besitzt das ICARDA eine einmalige Sammlung von Saatproben aus trockenen Gebieten (dazu gehört die Region von Afghanistan bis zum Irak, aber auch die Länder Syrien, Äthiopien etc. zählen dazu). In Zusammenarbeit mit Regierungsorganisationen soll das „verbesserte Saatgut“ der ICARDA eingesetzt werden, um höhere Ernteerträge zu ermöglichen, Pflanzenkrankheiten besser abwehren zu können und die Lebensumstände armer Bauern zu verbessern. Die Verbreitung des Hochertrags-Saatguts geht auf die Grüne Revolution zurück, eine Bewegung, die Vertreter von Agrarproduktion und Außenpolitik initiiert hatten, um dem Hunger in der Welt mithilfe dieser Art Saatgut, mit Bewässerungstechniken und chemischen Beimengungen ein Ende zu bereiten. Doch die Stärkung der industriellen Landwirtschaft brachte neue große Herausforderungen mit sich.
Ich überprüfte, welche Verbindungen sich zwischen ICARDAs Einstellung in Sachen Lebensmittelsicherheit und zur syrischen Revolution ausmachen lassen – waren es doch ausgerechnet mittellose Bauern, die während der Unruhen 2011 einen Großteil der Demonstranten gegen das Assad-Regime ausmachten. Ihre Lebensumstände waren in der Folge der Liberalisierung der Märkte, des Abbaus der Landwirtschaftssubventionen und des Raubbaus an natürlichen Vorkommen unerträglich geworden. Auch wenn der Film das Thema Syrien nur am Rande streift, wollte ich doch auf die bittere Ironie hinweisen, dass sich die wichtigste Saatgutsammlung der gesamten Region ausgerechnet in Aleppo befindet, einer Stadt, in der das Assad-Regime Hunger als Waffe eingesetzt hat.
Der Traum von einer unabhängigen Landwirtschaftsbewegung in Syrien
Im Verlauf der Arbeit an WILD RELATIVES lernte ich Walid kennen, einen Geflüchteten aus Syrien, der ökologische Landwirtschaft betreibt und über eine frei zugängliche Saatgutbank verfügt. Seine Arbeitsweise stellt in punkto Saatguteinsparung eine Alternative zum Vorgehen des ICARDA und des unzugänglichen Global Seed Vaults dar. Walid träumt von einer unabhängigen Landwirtschaftsbewegung in Syrien, in der das Saatgut von Bauern und nicht von der Regierung oder von Firmen verwaltet wird. Aufgrund dieser Begegnung nehme ich in WILD RELATIVES unterschiedliche Vorstellungen von Landwirtschaft in den Blick, betrachte industrielle Landwirtschaft versus ökologischen Anbau jeweils durch das Prisma der syrischen Revolution und versuche dabei, die Dichotomie der beiden Ansätze aufzulösen.
Die geflüchteten jungen Mädchen auf dem Feld, die Hilfsarbeiter, die für ICARDA ihr Saatgut ausbringen, bezeugen gleichermaßen die Gräuel des Kriegs wie das weiter voranschreitende Leben. Mit WILD RELATIVES versuche ich die Trennung von Authentizität und Technologie infrage zu stellen, mit Blick auf eine mögliche Zukunft, in der andere globale Auseinandersetzungen wie die um Klimagerechtigkeit, Nahrungsmittelsautonomie und unterschiedliche Formen der politischen Unterdrückung ihren Nachhall finden. Der Film ist ein Versuch des Nachdenkens über die politischen Zusammenhänge, von denen das Landleben geprägt ist, über das tief in der Geschichte verwurzelte Wissen und die Kräfte, die die großen Veränderungen herbeigeführt haben. Die körperlose Stimme des „Dichters“ im Film erinnert daran, dass die Spannung zwischen dem Staat und der persönlichen Beziehung des Landwirts zu seinem Land seit jeher besteht. Mich durch diese Matrix zu bewegen, die Reise des Saatguts zu verfolgen, den Zyklus von Geburt, Wachstum, Tod und Wiedergeburt mitzuvollziehen und damit alles, was auf diesen nicht-menschlichen Körper projiziert wird – das war mein Weg mit diesem Film.
WILD RELATIVES gibt wenige Antworten und bietet keine Lösungsansätze für die konträren Themen. Stattdessen eröffnet der Film einen Raum, um über die Verflechtungen nachzudenken, die thematisiert werden, bei der Klimaveränderung, staatlicher Gewalt, Imperialismus bis hin zum Widerstand gegen diese Gewalt. WILD RELATIVES bedient sich erzählerischer und vor allem filmischer Methoden, um eine offene Struktur zu schaffen, die den endlosen Kreislauf von Saat und Ernte spiegelt. (Jumana Manna)