Feminismus damals und heute
Eine wütende Frau aus Atlanta berichtet von Belästigungen, denen sie im öffentlichen Raum ausgesetzt ist. Eine aufstrebende Polizistin beklagt, dass die Polizeidienststelle in der Kleinstadt in Iowa, in der sie lebt, sich weigert, qualifizierte Frauen einzustellen. Zögernd bekennt eine 16-Jährige zum ersten Mal öffentlich, lesbisch zu sein. Dies sind nur drei von mehreren Tausend faszinierenden Leserbriefen – viel zu viele, als dass man sie jemals alle veröffentlichen könnte –, die in den 1970er Jahren an die Zeitschrift „Ms.“ (1972 gegründete US-amerikanische feministische Zeitschrift; Anm. d. Red.) gesendet wurden. Die Autor*innen dieser Briefe waren Frauen, Männer, Kinder aller Altersstufen, die aus allen Landesteilen der USA stammten und das gesamte Spektrum sexueller Orientierungen abdeckten, höchst unterschiedliche religiöse oder ethnische Hintergründe hatten, über unterschiedliche körperliche Fähigkeiten und verschiedenste politische Standpunkte verfügten. Diese Leserbriefe enthalten Beschreibungen persönlicher Probleme, Bekenntnisse und politische Argumentationen; sie repräsentieren auf eindrückliche Weise den Slogan der zweiten Welle der Frauenbewegung: „Das Private ist politisch.“
Den Sommer 2014 verbrachte ich in der Schlesinger Library on the History of Women in America mit zahlreichen Kartons und Tausenden darin befindlichen, zumeist unveröffentlichten Leserbriefen. Während der Recherche überraschte mich besonders, dass die Anliegen der Briefe von damals auch heutzutage für Frauen und nicht genderkonforme Menschen nach wie vor aktuell sind: sexuelle Belästigung, Gewalt, Körperverletzung, kein Zugang zu Schwangerschaftsabbruch und Verhütung, das eigene Körperbild, Diskriminierung am Arbeitsplatz, Gender und Sexualität, Rassen- und Klassenzugehörigkeit sowie Inklusion.
Inspiriert von diesen beeindruckenden Briefen, begab ich mich im Sommer 2015 auf eine Reise durch die USA, um sie ganz normalen Menschen zugänglich zu machen. Ich wollte herausfinden, ob dieses reiche kollektive Archiv feministischer Alltagsgeschichte und -erfahrung imstande sein würde, einen neuen nationalen Diskus über den heutigen Feminismus anzustoßen.
Zwischen 2015 und 2017 filmte ich über 300 Personen aus 32 Staaten der USA. Jedem der Projektteilnehmer wurde jeweils ein Brief zugeordnet, der in den 1970er Jahren aus ihrer/seiner Stadt versandt worden war. Die Freiwilligen wurden dann gebeten, den Brief vorzulesen und zu kommentieren. Es entstanden Aufnahmen von Menschen aller Altersstufen und Genderzugehörigkeit, Menschen von unterschiedlichem Aussehen, unterschiedlicher Herkunft und Geschichte. Die Dreharbeiten fanden an der West- und der Ostküste statt, im Mittleren Westen, im Gebiet um die Rocky Mountains, im Süden, in entlegenen ländlichen Gegenden und in großen Städten. Diese Gespräche mit wildfremden Menschen fielen in die Zeit der Präsidentschaftswahlen bzw. in die Zeit kurz danach, sie überschnitten sich mit der #metoo-Bewegung und vielen anderen Ereignissen; das Thema des Films gewann dadurch immer mehr an Aktualität und Wirkungskraft – die Frage, auf welche Weise wir heute über Feminismus sprechen wollen, steht drängender denn je im Raum.
Den Ungehörten eine Stimme geben
Im Verlauf des Projekts dachte ich viel über Diversität und Intersektionalität nach. Es war mir wichtig, in dem Film eine Vielzahl ganz unterschiedlicher zeitgenössischer Stimmen zum Thema Feminismus zu vereinen. Die meisten Leserbriefe, die ich für das Projekt ausgewählt hatte, waren damals nicht veröffentlicht worden. So gesehen, gibt YOURS IN SISTERHOOD den ganz unterschiedlichen Briefautor*innen, die in den 1970er Jahren ungehört blieben, 40 Jahre später eine Stimme (und entwirft damit eine alternative Geschichte des Feminismus der 1970er Jahre).
Der Film kreist um Gespräche, handelt vom Schaffen neuer Verbindungen quer durch Raum und Zeit, vom Entwickeln neuer und offenerer Möglichkeiten des Austauschs miteinander – onscreen, online und von Angesicht zu Angesicht bei Vorführungen. Feminist*innen war immer klar, dass der wirksamste Weg, um Veränderungen auf den Weg zu bringen, darin besteht, das Wort zu ergreifen, genau hinzuhören und einen Raum zu schaffen, in dem die Dinge ausgesprochen werden können. (Irene Lusztig, Januar 2018)
Gespräch mit Irene Lusztig: „Jede Generation kehrt sich vom Feminismus ihrer Mütter ab und fängt von vorne an“
Jennifer Shearman: Was interessiert Sie an Archiven?
Irene Lusztig: Als ich ein Teenager war, im Prä-Internet-Zeitalter der späten 1980er, frühen 1990er Jahre, war jeder Versuch, Material über Underground-Kultur zu finden, damit verbunden, sich die Hände schmutzig zu machen, zu stöbern und alte Gegenstände anzufassen. Als Jugendliche verbrachte ich viel Zeit in Secondhandläden oder in Geschäften, in denen gebrauchte Schallplatten verkauft wurden, in der Hoffnung, vergessene Schätze zu heben. Als ich zum ersten Mal ein Archiv aufsuchte, war ich sofort begeistert. Dieser Ort mit seinen Stapeln vergänglicher Dinge, an die lange niemand gedacht hatte und die nur darauf warteten, entdeckt zu werden, vermittelte mir ein Gefühl des Vertrautseins. Jede Archivarbeit beinhaltet die Möglichkeit, Entdeckungen zu machen. Das Öffnen von Kisten oder Filmbüchsen, das Entdecken des darin befindlichen Lebens, der Gesten, Worte, Dokumente oder Momente, die lange Zeit von niemandem zur Kenntnis genommen worden waren, hat mich von Anfang an fasziniert. Ich liebe es, mich mit gefundenen Gegenständen und Bildern zu beschäftigen. Dabei begegne ich den Dingen weniger als Historikerin, sondern eher als Künstlerin, die einen offenen Blick auf Bereiche wirft, in denen sich etwas bewegt, die unheimlich oder schön sind, poetisch oder dringlich.
Über die Vergangenheit nachzudenken ist immer auch eine Möglichkeit, über die gegenwärtige politische Situation nachzudenken. Je nachdem, von wo aus man die Vergangenheit betrachtet, verändert sie sich pausenlos. Diese komplizierte Beziehung ist wie eine Verpflichtung: Wenn ich mit Archivmaterial arbeite, denke ich über die Vergangenheit nach, aber durch diese Beschäftigung setze ich mich auch mit der Gegenwart auseinander.
Warum sind Archive und Archivarbeit so wichtig für den Feminismus?
Es gibt Millionen von Gründen! Eines der dauerhaften Probleme seit den Anfängen des Feminismus besteht darin, dass die Arbeit der vorherigen Generationen vergessen wird. Das „Wellenmodell“, mit dem der Feminismus verständlich gemacht werden soll, hat unmittelbar mit diesem Thema zu tun: Jede Generation kehrt sich vom Feminismus ihrer Mütter ab, fängt wieder von vorn an, vergisst und verwirft dabei all die Arbeit, der der eigene Feminismus eigentlich verpflichtet ist.
Ich arbeite mit College-Student*innen, verbringe viel Zeit mit 20-Jährigen und denke immer wieder über dieses Phänomen nach: Obwohl sich viele der Student*innen als Feministinnen bezeichnen, haben sie noch nie von der Zeitschrift „Ms.“ gehört, oder von Bewusstseinsbildung, von Carolee Schneemann, dem Woman’s Building in Los Angeles, dem Mother-Art-Kollektiv oder von tausend anderen historischen Initiativen, Gruppen und Einzelpersonen – den unglaublich wichtigen Ahninnen, die den heutigen Feminismus überhaupt erst möglich gemacht haben. Meine Student*innen müssen die damaligen Ideologien weder mögen noch mit ihnen übereinstimmen (vor allem die Debatte um feministische Intersektionalität, auf Überschneidungen bei Rasse und Gender hat sich in den letzten 40 Jahren sehr verändert). Sie sollten jedoch zumindest von diesen Errungenschaften gehört haben und sich darüber bewusst sein, dass diese in vielerlei Hinsicht die Grundlagen dessen bilden, was sie heute weiterentwickeln möchten.
Vor Kurzem habe ich mit einem Seminar zum feministischen Filmemachen begonnen, und es war sehr aufschlussreich, darüber nachzudenken, in welcher Weise der Feminismus der 1970er Jahre heutigen jungen Studierenden vermittelt werden kann. Zu Beginn des Seminars zeigte ich eine Reihe von Dokumentarfilmen aus den 1970er-Jahren (so zum Beispiel WOMANHOUSE, 1974, von Johanna Demetrakas). Meine Student*innen mochten die gezeigten Filme nicht, sie schrieben, dass die Arbeiten essenzialistisch seien und sich zu sehr mit unwichtigen Fragen wie zum Beispiel Reproduktion und Häuslichkeit befassten.
Eine meiner ehemaligen Studentinnen, die als Recherche-Assistentin an YOURS IN SISTERHOOD beteiligt war, teilte mir eines Tages mit, dass sie alles ablehnt, was gemeinhin mit dem Feminismus der 1970er Jahre assoziiert wird – in ihren Augen ein Feminismus der weißen Mittelklasse. Ich wies darauf hin, dass sich unter den Briefen an die „Ms.“ aus den 1970er Jahre eine Vielzahl von Zuschriften von Frauen befanden, die an ihrem Arbeitsplatz keine Hosen tragen und kein eigenes Bankkonto eröffnen durften. Wenn man heute als Frau Hosen trägt und Bankkonten eröffnet, darf man den Feminismus der 1970er Jahre nicht einfach ablehnen. Man muss schon den viel schwierigeren, komplizierteren Weg gehen, diese Geschichtsebenen anzuerkennen und auf sie aufzubauen, sie gleichzeitig wieder einzureißen und in einen neuen, besseren, offeneren Feminismus zu verwandeln. Das ist eine anstrengende, aber notwendige Arbeit.
Es sind nicht nur die jungen Feministinnen, die die Arbeit der älteren Feministinnen vergessen und ablehnen. Auch der Rest der Welt tilgt kontinuierlich die Leistungen und die kulturelle Produktion feministischer Künstlerinnen und Denkerinnen. Feministische Arbeit ist chronisch unterfinanziert, unterschätzt, unzugänglich, marginalisiert und in Archive verbannt. Ein Teil meiner feministischen Kulturarbeit bestand darin, die Geschichten von Frauen oder Feministinnen ausfindig zu machen, die vergraben, vergessen, vernachlässigt oder ignoriert wurden: Sei es die Geschichte meiner eigenen Großmutter (der ich in meinem ersten abendfüllenden Film RECONSTRUCTION nachgegangen bin), ein weggeworfener Lehrfilm für Frauen (Ausgangspunkt meines Films THE MOTHERHOOD ARCHIVES von 2013) oder ein Brief eines lesbischen Teenagers aus dem Jahr 1976, der nie veröffentlicht wurde und in einem Archivkarton landete.
(Interview: Jennifer Shearman. www.dispatchfmi.com/single-post/2018/01/21/INTERVIEW-IRENE-LUSZTIG)