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Geschichten vom Kübelkind

Stories of the Dumpster Kid
Edgar Reitz, Ula Stöckl
1971, 100 Min. (Auswahl), Deutsch

Das Kübelkind (Kristine de Loup), wächst aus einer Plazenta. Frau Dr. Wohlfahrt von der Fürsorge findet es in einer Krankenhausmülltonne. In weiteren Folgen versucht sie, Kübelkind an Pflegeeltern zu vermitteln und in die Gesellschaft zu integrieren. Kübelkind geht in die Schule und in die Kirche. Stets in rotem Kleid und mit roten Strümpfen sieht es sich alles neugierig an, fragt immer etwas zu viel und nimmt sich, was es begehrt. Es klaut, hat Sex, verführt die einen und führt andere vor. Es begegnet Al Capone und d’Artagnan. Kübelkind ist dauernd in Gefahr, aber unsterblich.
Ula Stöckl und Edgar Reitz drehten Geschichten vom Kübelkind 1969 ausschließlich mit Freund*innen. Mit der Serie von 25 16-mm-Kurzfilmen unterschiedlicher Länge positionierten sie sich radikal außerhalb des Systems Kino. In einem Münchner Kneipenkino konnten die Gäste einzelne Folgen anhand einer Menükarte bestellen.
1971 liefen die Geschichten vom Kübelkind im 1. Internationalen Forum des Jungen Films. Nun wurde die Serie digital restauriert und kommt gemeinsam mit dem Dokumentarfilm Der Film verlässt das Kino: Vom Kübelkind-Experiment und anderen Utopien von Robert Fischer zur Wiederaufführung. (Stefanie Schulte Strathaus)

Robert Fischer wurde 1954 in Greven (Nordrhein-Westfalen) geboren. Er ist seit Mitte der 1970er-Jahre als Autor tätig und machte sich vor allem mit Publikationen über Alfred Hitchcock, Orson Welles, David Lynch, Quentin Tarantino, Jodie Foster, Bernhard Wicki, Jean-Pierre Melville, Rainer Werner Fassbinder, Robert Bresson, André Bazin und François Truffaut einen Namen. Gemeinsam mit Joe Hembus schrieb er eine Geschichte des Neuen Deutschen Films. Fischer war fünf Jahre lang stellvertretender Leiter des Filmmuseums im Münchner Stadtmuseum. 1999 drehte er seinen ersten Dokumentarfilm Monsieur Truffaut trifft Mr. Hitchcock. Er war 25 Jahre lang als Programmer für das Filmfest München tätig und arbeitet als Consulting Producer für The Criterion Collection in New York. Robert Fischer lebt in München.

Edgar Reitz wurde 1932 in Morbach (Hunsrück, Rheinland-Pfalz) geboren. Er studierte Germanistik, Publizistik und Theaterwissenschaft in München. Ab 1957 war Reitz als Dramaturg und Kameramann sowie als Regisseur von Industrie- und Dokumentarfilmen tätig. Er zählte zu den Mitgliedern der „Oberhausener Gruppe“ und lehrte am Institut für Filmgestaltung der Hochschule für Gestaltung in Ulm die Fächer Regie und Kameratheorie. Mit seiner Edgar Reitz Filmproduktion realisierte er 1966 seinen ersten Spielfilm Mahlzeiten. In den darauffolgenden Jahren entstanden zahlreiche Spiel-, Dokumentar- und Experimentalfilme. Ab Mitte der 1970er-Jahre verfasste Edgar Reitz außerdem eine Reihe von Publikationen über Filmtheorie und Filmästhetik, aber auch Erzählungen, Essays, Lyrik und literarische Fassungen seiner Filme. 1995 gründete er das Europäische Institut des Kinofilms (EIKK) in Karlsruhe, das er bis 1998 leitete. Seit 1994 ist er Professor für Film an der Staatlichen Hochschule für Gestaltung in Karlsruhe. International bekannt wurde Reitz mit seiner Heimat-Trilogie, die sich aus 31 abendfüllenden Einzelfilmen zusammensetzt. Edgar Reitz lebt in München.

Ula Stöckl wurde 1938 in Ulm geboren. Nach Sprachstudien in London und Paris studierte sie von 1963 bis 1968 am Institut für Filmgestaltung in Ulm. Danach inszenierte sie Theaterstücke und drehte mehr als zwanzig Filme. Sie war Lehrbeauftragte an der Deutschen Film- und Fernsehakademie Berlin (dffb) und ist Associate Professor an der University of Central Florida (UCF), Orlando. Zahlreiche Filme von Ula Stöckl wurden im Rahmen des Forums präsentiert, darunter Geschichten vom Kübelkind (Forum 1971), Der Schlaf der Vernunft (Forum 1984) oder Das alte Lied (Forum 1992). 2015 wurde bei den Berlinale Classics ihr Abschlussfilm an der Filmhochschule Ulm, Neun Leben hat die Katze, in einer digitalisierten Restaurierung gezeigt, in der Sektion Panorama war im gleichen Jahr Die Widerständigen „also machen wir das weiter ...“ zu sehen, eine von Stöckl fertiggestellte Arbeit ihrer 2012 verstorbenen langjährigen Freundin und Kollegin Katrin Seybold.

Die Alternative zum „Kübelkind“ sind wir

„Das Kübelkind“ ist eine Kunstfigur: In jeder Geschichte zwingt die Gesellschaft sie, etwas zu lernen.
Aber sie, erwachsen vom Augenblick ihrer Geburt an, lernt ungefragt immer noch etwas mehr, als von ihr verlangt wurde. Das von der Gesellschaft nicht gewollte „etwas mehr“ Gelernte aber bringt sie regelmäßig in Lebensgefahr. In jeder Geschichte stirbt Kübelkind. Sie stirbt sich durch alle Kino-Genres. Ihre Geschichten haben alle möglichen Zeiten und spielen in allen möglichen Zeiten.
Was ist ein Kübelkind? Am Anfang steht der Witz von der aufgezogenen Nachgeburt. Eine Nachgeburt ist zum Wegwerfen, nicht zum Aufziehen. Und damit fängt Kübelkinds Unrechtssituation an. Kübelkind wächst in einer Mülltonne auf, von Anfang an in einem roten, kleingeblümten Kleid, roten Strümpfen und roten Schuhen. Die Darstellerin des Kübelkindes, Kristine de Loup, trägt diese Kleidung plus einer schwarzen Chinesen-Pagenkopf-Perücke immer. In allen Geschichten. Damit man Kübelkind schon von Weitem erkennt und damit auch optisch schon klar wird: Die kann sich anstrengen wie sie will, sie wird nie so sein wie wir.
Es sieht am Anfang so aus, als wäre Kübelkind gern im Kübel. Zumindest kennt sie es nicht anders. Dann kommt einer von uns und sagt, das ginge so nicht. Jeder hätte einen Vater und eine Mutter zu haben, brauche ein schönes Bett in einem hellen Zimmer und viele liebe Leute um sich herum. Kübelkind kennt das leider alles nicht, meint es aber freundlich, wenn sie sich darauf einlässt, ihren Kübel zu verlassen.
Es sollte auch nicht gesagt sein, dass es im Kübel am allerschönsten war, und dass man sie deshalb unbedingt hätte drin lassen sollen. Aber die Alternative zum Kübel sind leider wir, und damit wird es für Kübelkind sehr kompliziert. Plötzlich muss sie aufhören, direkten Wünschen nachzugehen. Erziehungs- und Lernprozesse macht sie so lange durch, mit allen Konsequenzen, bis sie mordet, hurt und stiehlt, selbst ermordet wird, in der nächsten Geschichte wiederkommt und anfängt, sich zu rächen. (Edgar Reitz Stiftung)

Kübelkind-Speisekarte

1) Alte Männer
Wenn Kübelkind es will, stehen manche Männer ganz schnell in der Unterhose da. 1’06’’
2) Kübelkinds Kindheit
Diese Geschichte sollte man sich auf jeden Fall ansehen! Eine Nachgeburt macht sich selbständig – dann aber kommt die Wohlfahrt. 6’13’’
3) Kübelsyndrom
Etwas über die Fähigkeit unserer Gesellschaft, alles zu verstehen, zu verzeihen und zu vergelten. 10’15’’
4) Des Hauses Schmuck ist Reinlichkeit
Kübelkind unter der Dusche, im Regen und in der Traufe. 4’30’’
5) Katzen haben Flöhe
Kübelkind tut so, als würde es schlafen. Weil es gerne wissen möchte, was dann passieren kann. Aber die Stiefmutter kommt dazwischen. 8’34’’
6) Kübelkind wird glatt und rund
Kübelkind erlebt einen Erziehungsversuch durch einen geistlichen Herrn, der genau weiß, was gut tut. 4’52’’
7) Ein ganz kleines Glück
Kübelkind treibt es mit den Früchten des Feldes. 2’03’’
8) Kübelkind lernt einen Lord kennen und wird aufgehängt
Das stimmt, aber die Rache ist ganz besonders süß. 17’10’’
9) Kübelkind erzählt einer Königin ein Märchen
Eine Geschichte zum Hinhören und Zuschauen. 6’08’’
10) Kübelkind lernt ein Scheißspiel
Kübelkind erfährt am eigenen Arsch, wie zwischen Streicheln und Hauen ein spaßiger Zusammenhang entsteht. 3’31’’
11) Kübelkind lernt nein sagen
Kübelkind feiert eine Hochzeit, aber im entscheidenden Augenblick wird es trotzig, worauf die Waffen sprechen. 16’40’’
12) Murmeltier lernt tanzen
Kübelkind soll für den Jahrmarkt erzogen werden, singt schöne Lieder, beschimpft die Leute und brennt mit der Kasse durch. 18’51’’
13) Alle Macht den Vampiren
Es ist kaum zu glauben, wie viele Vampire es geben könnte. Kübelkind ruft sie zu einer großen Demonstration auf. 2’19’’
14) Freiheit durch Al Capone
Kübelkind redet dauernd von Revolution, aber Al Capone, die Sau, von etwas ganz anderem. 18’36’’
15) Eine Kaufhausdiebin
Nach einem schönen Kaufhausbummel sitzt Kübelkind auf dem Schoß einer Kollegin und macht nur ein bisschen mit. 3’38’’
16) Besonders nette Eltern
Kübelkind muss lernen, dass ein Beischlaf auch dann von Übel ist, wenn er auf dem Klo vollzogen wird. 9’’
17) Niedrig gilt das Geld auf dieser Erde
Kübelkind geht auf den Strich und wird dafür ermordet. 15’13’’
18) Geschichten und Finanzierungsvorschläge bitte an der Kasse.
19) Die Hexe soll brennen
Muss Kübelkind auf dem Scheiterhaufen enden? Kommt eine Rettung von oben? 4’15’’
20) Geschichten und Finanzierungsvorschläge bitte an der Kasse.
21) Kübelkind hat einen guten Menschen zum Fressen gern
Liebe geht durch den Magen, aber manchmal verdirbt man sich ihn dabei. 9’35’’
22) Kübelkind ersäuft Kübelkinder
Dazu gibt es schöne Musik, und alles ist sehr poetisch. 4’13’’
23) Geschichten und Finanzierungsvorschläge bitte an der Kinokasse erfragen.
24) Kübelkind reitet für den König
Der größte Film aller Zeiten. Intrigen, alte Gemäuer, quietschende Fußböden, die Königin schläft mit dem falschen Mann, Kübelkind heiratet d’Artagnan und reitet auf einem weißen Pferd, noch mehr
Intrigen, und Kübelkind macht mit. Dafür soll sie am Ende an allem schuld sein. 25’30’’
25) Das Bankkonto im Walde
Kübelkind glaubt an unser Kreditwesen. Muss deshalb aus dem vierten Stock eines Hauses springen und ein trauriges Lied singen. 11’46’’
26) bis 64) Geschichten und Finanzierungsvorschläge bitte an der Kinokasse hinterlegen.

(Edgar Reitz Stiftung)

Warum Kübelkind? Ein Statement von Ula Stöckl und Edgar Reitz

Weil wir 1969 keine Lust hatten, einen 90 Minuten-Spielfilm zu machen, der wieder ohne Verleih bleibt.
Weil uns mehr Geschichten einfielen, als für einen Spielfilm gut gewesen wäre.
Weil wir uns beim Drehen nicht festlegen wollten, ob der Film 2 oder 20 Minuten lang wird. Deswegen haben wir dann viele 2 bis 20 Minuten lange Filme gedreht.
Weil, wenn man nicht an einen deutschen Verleih denken muss, die Welt wieder schöner wird.
Weil wir wahre Geschichten lieben, aber auch unwahre.
Weil das Kübelkind manchmal am Ende einer Geschichte tot sein darf, ohne für die nächste Geschichte gestorben zu sein.
Weil wir gerne mit Kostümen spielen, aber auch ohne.
Weil wir gerne eine Erziehungsgeschichte drehen wollten.
Weil wir alle unsere Freunde in schönen Rollen sehen wollten.
Weil wir eine solche Wut hatten.
Weil das Kübelkind gerne fickt.
Weil wir Scheiße finden, dass sie das büßen muss, und weil wir auch auf die FSK scheißen.
Weil eines Tages die Kassetten kommen, und weil wir wissen wollen, ob das auch wieder so wird mit den Verleihern.
Weil wir vom Bundesinnenministerium gerade Geld bekommen hatten und es auf keinen Fall zurückgeben wollten.
Weil wir auch Kübelkinder sind ...
... und schließlich haben wir dann in München ein Kneipenkino aufgemacht, und da läuft Kübelkind alle Tage außer montags ab 23 Uhr, Eintritt DM 3,50 und Kübelkinder stehen auf der Speisekarte.
(Edgar Reitz Stiftung)

Viel Kino gegen das Kino

In einer Münchner Kneipe (Rationaltheater) kann man sich – außer montags – ab 23 Uhr die Geschichten à la carte und portionsweise zuführen; im Westdeutschen Fernsehen, andere wollen folgen, werden sie zum Programmschluß als Betthupferl zur Nacht gereicht.
Ula Stöckl und Edgar Reitz haben, als ihre letzten langen Spielfilme liegenblieben und keinen Verleih mehr ins ehrsame Risiko lockten, mit den Mustern des Kinos gebrochen und zunächst einmal zweiundzwanzig Episoden vom KÜBELKIND gedreht, Filme, die endlich so kurz oder so lang sein durften, wie sie sein mußten: eine Minute und sechs Sekunden oder fünfundzwanzig Minuten und dreißig Sekunden. Der Bruch mit dem Kino herkömmlicher Spielart, mit dem bürgerlichen, verbürgerlichten Kino also, war vielfältig und folgenreich. Denn es war nicht nur der Abschied von Äußerlichkeiten wie die übliche Neunzig-Minuten-Handlung oder die filmkapitalistische Produktionsweise (welche die Filmform diktiert). Es war auch der Abschied – und das war ein radikaler Einschnitt – vom Autorenfilm, dem Stöckl und Reitz reichlich Tribut gezollt hatten, Abschied von dem für die bürgerliche Kultur charakteristischen cinematographischen Genre. Und es war, nicht zuletzt, der Abschied von der üblichen, bis zum Aufkommen der Undergroundfilme für unaufhebbar gehaltenen Art der Filmrezeption. Das alles waren – wie sich am Produkt beweist – keine voneinander unabhängigen Entscheidungen. Hier hing das eine mit dem anderen zusammen, brachte das eine das andere hervor. Die GESCHICHTEN VOM KÜBELKIND sind für unser Land eine cineastische Revolution. Das ist sogar der Freiwilligen Selbstkontrolle nicht entgangen, die den GESCHICHTEN bestätigte, sie seien „randvoll mit unsittlichen Redensarten“, betrieben „Verunglimpfung religiöser Werte“ und „Darstellung des Sexuellen in abstoßender Form“.
Das letztere dauert zum Beispiel exakt zwei Minuten und drei Sekunden: Kübelkind streicht mit gelüpftem Rock durch hohe Gräser, an Blumen vorbei und durchs Getreide, ein Orgasmus prall von Natur. Die das abstoßend finden, müssen etwas gegen die Natur haben, und die das erfunden haben, nennen es viel zu bescheiden „ein ganz kleines Glück“.
Kübelkind, das ist – ein Wiener Schimpfwort – die Nachgeburt, zum Wegschmeißen, die Nachgeburt auch unserer Zivilisation, die Nachgeburt des Kinos. Stöckl/Reitz lassen ihr Kübelkind (Kristine de Loup) gleich erwachsen sein – körperlich; denn die geistig-seelische Reife fehlt eklatant und wird dem Findling anerzogen. Es sind also, auf einen großen Nenner gebracht, Anpassungsgeschichten, die dem Kübelkind widerfahren.
Doch freilich: Ein Kübelkind paßt sich nicht an. Wenn es gelehrig ist, dann ist es allzu gelehrig und dreht den Konventionen einen Strick daraus. Kübelkinder – das könnte, sollte sich ein„bürgern“ – bleiben unangepaßt und sind der inkarnierte Widerspruch unserer Verhältnisse.
Nachgeburt des Kinos: Stöckl/Reitz haben sich mit dem Kübelkind in den Kinogenres umgetan. Kostümfilm, Historienkino, Krimi, Science Fiction, Vampirfilm, Musikfilm, Heimatfilm – in all diesen Genres mit festen Gesetzen und etablierter cinematographischer Grammatik bewegt sich das Kübelkind gegen den Strich. Die Vagabundin durch Zeit und Gesellschaft vagabundiert durch die Kinokultur und entlarvt deren Muster als Fixierungen von bestimmten Verhaltensformen.
Die Kinokultur – so lautet die Nachricht vom Kübelkind –: nichts als eine Hilfseinrichtung, ein Suspensorium für die […] Gesellschaft.
Gewichtige Sätze über Filmgeschichten, die man auch ganz anders sehen kann. Denn der Spaß, den die Hersteller dieser monströsen Kino-Anthologie beim Machen hatten, dieser Spaß überträgt sich auf den Zuschauer unmittelbar. Aber heißt Spaß an einer Sache zu haben wirklich, sie „ganz anders“ als in ihrer kritischen Funktion zu sehen?
(Peter W. Jansen, „Die Zeit“, 23. Juli 1971)

Für Jugendliche unter 18 nicht geeignet

Kein Film für stille Feiertage: Die FSK (Freiwillige Selbstkontrolle der Filmwirtschaft) wollte eine 96minütige Kinofassung nicht unter 18 Jahren und nicht unter einem halben Dutzend Schnittauflagen freigeben. „Die Geschichte vom Kübelkind, einem Außenseiter der Gesellschaft“, heißt es in der Begründung des sogenannten Jugendentscheids, „sind für Jugendliche unter 18 Jahren verwirrend und unvollständig. Der Film ist randvoll mit unsittlichen Redensarten. Die Verunglimpfung religiöser Werte, hier wohl als Parodie, ist für Jugendliche im höchsten Grade abträglich. Dazu kommt die Darstellung des Sexuellen in einer Form, die Jugendliche verwirren und abstoßen muß (Masturbation des Kübelkindes im Gerstenfeld usw.). Auch die Sequenzen, in denen das Kübelkind erwürgt und erhängt wird, sowie das Ersäufen weiterer Kübelkinder sind dazu angetan, Jugendliche in ihrer Entwicklung schwer zu beeinträchtigen. Der Arbeitsausschuß lehnt eine Freigabe für Jugendliche unter 18 Jahren daher ab. Ergebnis: Freigegeben ab 18 Jahren mit Schnittauflagen.“
Nach detaillierter Auskunft über anstoßerregende Wörter und Bilder für die Zensurschere kommt die FSK schließlich zur frommen Einsicht, den neuen Film von Ula Stöckl und Edgar Reitz auch mit Jugendverbot und Schnittauflagen „nicht für die stillen Feiertage“ freizugeben.
(„Tagesanzeiger“, Zürich, 23. Oktober 1970)

Rivette, Reitz und einige interessante Parallelen

Edgar Reitz saß im Publikum, als LES MYSTÈRES DE PARIS, der Dokumentarfilm, den Wilfried Reichart und ich über Jacques Rivette und seine Filmserie OUT 1 gedreht hatten, 2016 beim Filmfest München lief. Nach der Vorführung kam er zu mir und sagte, unser Film habe ihn sehr berührt, denn das Konzept von OUT 1 und vor allem die Erinnerung unserer Interviewpartner an die Dreharbeiten hätten ihn sehr stark an die GESCHICHTEN VOM KÜBELKIND erinnert. In der Tat gibt es interessante Parallelen zwischen OUT 1 und den KÜBELKIND-Geschichten: Rivette hat OUT 1 mit Suzanne Schiffman als Co-Regisseurin gedreht, Reitz das KÜBELKIND gemeinsam mit Ula Stöckl; beide Filmserien sind ohne die Umbrüche vom Mai 1968 nicht denkbar; beide entstanden 1970, also „zwei Jahre nach ’68“, wie es bei Rivette heißt; beide sind von einer enormen Freiheit in Gestaltung und Spiel gekennzeichnet; beide wurden auf 16mm gedreht; und vor allem: Sowohl Rivette/Schiffman als auch Reitz/Stöckl ignorieren in voller Absicht sämtliche Konventionen des herkömmlichen Filmemachens und entledigen sich dadurch mit großem Genuss aller damit verbundenen Zwänge.
Damit war die Idee für einen Dokumentarfilm über die Geschichte hinter den GESCHICHTEN VOM KÜBELKIND geboren. Der Zeitpunkt war günstig, denn Edgar Reitz spielte bereits mit dem Gedanken, die 22 KÜBELKIND-Episoden vor dem Vergessen zu bewahren und endlich zu restaurieren, und fühlte sich  durch die sehr gelungene Restaurierung von OUT 1 ermutigt und verpflichtet, diesen Plan nun in die Tat umzusetzen. Auch mich reizte es, in das Universum der GESCHICHTEN VOM KÜBELKIND einzudringen, es mir vertraut zu machen und auszuloten.
In den langen Gesprächen mit Edgar wurde mir irgendwann klar, dass es aber nicht reichen würde, sich auf die Zeit des Umbruchs und der Erneuerung um 1970 zu beschränken, sondern dass auch die Entwicklung, die dorthin geführt hatte, zum Thema gehörte, genauso wie die Frage nach der Zukunft des Kinos, die sich schon damals alle stellten und die uns heute mehr beschäftigt als je zuvor. Immer mehr lernte ich, auch in der Wiederbeschäftigung mit seinen experimentellen Kurzfilmen und filmtheoretischen Texten aus den 1960er Jahren, den Tüftler, Bastler, Forscher, Pionier und Visionär Edgar Reitz kennen und dessen Liebe zu seinem Beruf. Edgars nie versiegende Neugierde und Leidenschaft für Film und Kino sind ansteckend. Als er unseren Film über das KÜBELKIND-Experiment und andere Utopien zum ersten Mal sah, sagte er, für ihn sei es ein Film über die verlorene Jugend. Ich finde, eher das Gegenteil ist der Fall, denn Edgars und Ulas damalige Überzeugungen entsprechen exakt ihrer Haltung heute, auch wenn vielleicht ein paar Illusionen auf der Strecke geblieben sind.
Was mich bei den Dreharbeiten besonders bewegt hat, war die Wiederbegegnung mit der Darstellerin des Kübelkinds, Kristine de Loup. Ich hatte Kristine Ende der 1970er Jahre durch ihren Mann Florian Hopf kennengelernt, aber nach dessen Tod hatten wir uns aus den Augen verloren. Als ich sie im Herbst 2017 in ihrem Haus in der Bretagne besuchte, wo sie zurückgezogen lebt, erzählte sie mir, warum das Kübelkind so eine große persönliche Bedeutung für sie hatte und immer noch hat. DER FILM VERLÄSST DAS KINO ist Kristine und Florian gewidmet. (Robert Fischer)

Der Film verlässt das Kino

Die wenigsten Filmleute, die sich zur Zeit zwischen „jungem deutschen Film“ und „Underground-Kino“ zu orientieren versuchen, bemerken eine Entwicklung, die sich unabhängig von beidem anbahnt und eine Chance hat, zu revolutionären Veränderungen des Films überhaupt zu führen. Die Perspektiven, die sich zur Zeit für den Film auftun, sind so spannend, (…) weil der Underground-Filmer aufgrund seiner Beweglichkeit beinahe überall sein Kino installieren kann. (…) Wir haben von den Underground-Leuten eines wirklich gelernt: den frappierenden Gedanken, dass Film nicht auf Kino und Fernsehen angewiesen ist. Die Loslösung des Films von Kino und Fernsehen vollzieht sich jedoch in einer Weise, die von Underground-Film und Spielfilm gleich weit entfernt ist. In einer vollkommen neuen Interessensphäre, in der Fragen vorherrschen, die weder vom Kino noch vom Fernsehen noch von den New Yorker Gruppen abgeleitet sind, zum Beispiel: Könnte es einen Film geben, der eine wirkliche Alternative zu einem guten Beefsteak ist? Könnte es einen Film geben, der eine Alternative zu einem Rendezvous mit einer Freundin wäre? Könnte es einen Film geben, den ich 20 Stunden lang ansehen würde, vorausgesetzt, dass ich selbst bestimmen kann, in welchen Portionen ich diesen Film zu mir nehme und zu welchen Zeitpunkten? Könnte es Filme geben, die ausführliche Antworten geben auf Fragen, die mich bewegen, Filme, die ich mir beschaffe wie Bücher, Nahrung oder einen Urlaub?
Eine Reihe von Anzeichen deutet darauf hin, dass diese neue Gattung Film in den nächsten Jahren entstehen wird. (…) Die technischen Medien sind vorhanden, die Bedürfnisse sind in uns allen. Es ist ein Markt entstanden, auf dem absolut nichts angeboten wird. Der Schleich-handel mit 8-mm-Pornographie nimmt zwar in der ganzen Welt zu, aber auch hier wird durch Zuhältermentalität eher ein Markt betrogen als befriedigt.
Die Anzeichen dafür häufen sich, dass der neue Markt für Film in den nächsten Jahren entstehen wird. Es ist nur eine Frage der geeigneten technischen Verbreitungsform, bis eine umfangreiche Produktion an Filmen entstehen kann, die sich außerhalb von Kino und Fernsehen an die schon vorhandenen Bedürfnisse wenden. Dieser Markt wird umso bedürfnisreicher, je reicher das Kino und das Fernsehen an Enttäuschungen und Betrugsvorgängen sind.
Was ich hier sage, mag utopisch klingen, weil so wenig Faktisches zu erkennen ist. Wir sind gewohnt, Fakten höher einzuschätzen als Gedanken und Vorstellungen, wenngleich sie nicht realer sind. Die Entwicklung ist vorbereitet. Ebenso, wie wir inzwischen mit unseren Kameras die Ateliers verlassen können, wie wir an jedem beliebigen Platz mit geringem Aufwand filmen können, so können wir heute ohne weiteres an jedem beliebigen Platz Filme vorführen. Wir dürfen nicht vergessen, dass dies mit der alten Kinotechnik überhaupt nicht möglich gewesen wäre und dass der Musentempel „Kino“ auch technische Ursachen hat (ebenso wie das Filmatelier). Film ist nicht mehr an das Kino gebunden. (…)
Wenn wir uns vorstellen, dass wir uns unabhängig vom Spielplan der Kinos und des Fernsehens zu Hause Filme vorführen können, über die wir so verfügen wie über unsere Bücher oder Schallplatten, so ergibt sich für das Machen von Filmen eine begeisternde Flut von Chancen. (…) Die Gattung des Romans wird endlich im Film eine Entsprechung finden, weil die Länge der Filme keine Rolle mehr spielt, und der wirkliche Kurzfilm wird sich entfalten können, völlig unabhängig vom etabliertem Kulturfilm.
Es ist mir absolut nicht gleichgültig, welche Formen dieser Film außerhalb des Kinos annehmen kann. Es gibt eine ungeheure Fülle von Möglichkeiten, die noch weit über das hinausgehen, was im Underground-Kino angedeutet ist. Wesentlich daran ist nicht nur, dass man Filme machen kann, ohne an das Kino zu denken. Möglicherweise werden in ein paar Jahren Filme ausgetauscht und gehandelt wie Schallplatten. Die Alternative Kino oder Fernsehen kann in Anbetracht dieser Entwicklung aufhören, ein Problem zu sein. Die anstaltsmäßig geordneten Institutionen werden vom Publikum ganz gleich beurteilt werden. Der kleine Unterschied, dass das Fernsehen „aktueller und verantwortungsbewusster“ seiner Struktur nach ist, wird nur noch für wenige wichtig sein. Für das Durchschnittspublikum werden Kino und Fernsehen die gleiche Erlebniswelt betreffen.
Der freie Film aber, den man wie eine Schallplatte oder ein Buch kauft, austauscht, unter der Hand weiterreicht und den man zu sich nehmen kann wie Musik und Literatur und der eher an die Tradition des Buchhandels oder an die Tradition der Warenhäuser anknüpfen wird als an Theater und Gaststättengewerbe, dieser freie Film wird sich möglicherweise sogar der Fernsehtechnik bedienen, ohne im mindesten an das Fernsehen zu erinnern. Der freie Film wird alles andere als arm sein, er muss nur seine eigenen Methoden erkennen und entwickeln. Man stelle sich vor, man kauft einen Film wie ein Buch: Was im Kino als nicht kommerziell gilt, wird jetzt interessant. (…) Was würde man sich privat zulegen? Vielleicht einen 500-Minuten-Film mit romanartiger Handlung von wirklich epischen Dimensionen, eine Gattung, die das Kino nie hervorbringen kann. Sachdarstellungen von zehn Stunden Länge oder Drei-Minuten-Filme, die der plötzlichen Befreiung dienen wie der Knall eines Flaschenkorkens. Filme, die man sich in geeigneten physiologischen Portionen einverleibt, wann man will. Diese Filme würde man vielleicht wieder und wieder sehen, weil die unzähligen Einzelheiten und die unendlichen Verzweigungen der Handlung auch beim zweiten Mal nicht langweilen können. Es öffnen sich Perspektiven, wie sie jede wirkliche Erneuerung des Spielfilms seit langem nicht mehr möglich machte. Wenn der Film das Kino verlässt, dann bedeutet dies, dass er dieses Gehäuse in jeder Hinsicht verlässt.
Er wird das Handlungsschema verlassen, er wird das 90- oder 100-Minuten-Schema verlassen, er wird das Schema des Starkults und des Ausstattungsfetischismus verlassen, er wird völlig andere Verhältnisse in Produktionsinvestition und Markt bringen. (…)
Es kann aber auch sein, dass der Film das Kino nicht verlassen wird und dass dies alles nicht wahr ist.
(Die Auszüge stammen aus Edgar Reitz’ Text „Der Film verlässt das Kino“, der im Mai 1968 in der deutschen Zeitschrift „film“ erschien.)

Der Film verlässt das Kino: Vom Kübelkind-Experiment und anderen Utopien
Produktion
Robert Fischer. Produktionsfirma Fiction Factory Robert Fischer Filmproduktion (München, Deutschland). Regie, Buch Robert Fischer. Kamera Laura Ettel. Montage Robert Fischer. Ton Florian Brüning.

Weltvertrieb Edgar Reitz Filmstiftung

Geschichten vom Kübelkind
Produktion
Edgar Reitz. Produktionsfirma Edgar Reitz Filmproduktion (München, Deutschland). Regie, Buch Edgar Reitz, Ula Stöckl. Kamera Edgar Reitz. Montage Jessy von Sternberg. Musik Ekkehart Kühn. Ton Guido Reitz. Mit Kristine de Loup (Das Kübelkind), Bruno Bendel (Kreditfachmann), Alf Brustellin (d’Artagnan / ein guter Mensch), Ilse Brustellin (Schwiegermutter), Hans-Heinrich Brustellin (Schwiegervater / Graf Rochefort), Antje Ellermann (Hebamme), Heidewig Fankhänel (Frau Dr. Wohlfahrt), Peter Finkenstaedt (der junge Mönch), Jacques Freers (Lord Winter), Werner Herzog (Hurenmörder).

Weltvertrieb Edgar Reitz Filmstiftung

Filme

Robert Fischer: 1999: Monsieur Truffaut Meets Mr. Hitchcock (39 Min.). 2002: Fassbinder in Hollywood (57 Min.). 2006: Dalton Trumbo: Rebel in Hollywood (59 Min.), Ernst Lubitsch: Von der Schönhauser Allee nach Hollywood (110 Min.). 2007: Displaced Person: Peter Lorre und sein Film „Der Verlorene“ (61 Min.). 2009: Working with Max Ophuls: Lola Montes Revisited (70 Min.). 2010: Von der Liebe und den Zwängen: Mutmassungen über Fassbinders „Ich will doch nur, dass ihr mich liebt“ (60 Min.). 2011: Starting Out: The Making of Jerzy Skolimowski’s Deep End (75 Min.), The Cinema and Its Double: Rainer Werner Fassbinder’s Despair Revisited (70 Min.). 2012: Aldrich Over Munich: The Making of Twilight’s Last Gleaming (66 Min.). 2013: Outlaw Brothers: The Making of The Long Riders (61 Min.), Rumble on the Lot: Walter Hill’s Streets of Fire Revisited (80 Min.). 2014: Swan Song: The Story of Billy Wilder’s Fedora (87 Min.), Auf eigenen Schwingen: Die Visionen des Sir Hubert von Herkomer (97 Min.). 2015: Last of the Independents: Don Siegel and the Making of Charley Varrick (72 Min.), Return to Beethoven Street: Sam Fuller in Germany (105 Min.), Les Mystères de Paris: „Out 1“ de Jacques Rivette revisité (110 Min.). 2016: Cop Stories: The Making of Richard Fleischer’s The New Centurions (45 Min.). 2017: Sucker Punch Blues: A Look Back on John Huston’s Fat City (55 Min.). 2018: Der Film verlässt das Kino: Vom Kübelkind-Experiment und anderen Utopien / Film Beyond Cinema: The Dumpster Kid Experiment and Other Utopias.

Edgar Reitz: 1967: Mahlzeiten. 1969: Cardillac. 1971: Geschichten vom Kübelkind / Stories of the Dumpster Kid. 1973: Die Reise nach Wien. 1979: Der Schneider von Ulm. 1984: Heimat – eine Deutsche Chronik (11 Teile). 1992: Die zweite Heimat – Chronik einer Jugend (13 Teile). 2004: Heimat 3 – Chronik einer Zeitenwende (6 Teile). 2013: Die andere Heimat.

Ula Stöckl: 1968: Neun Leben hat die Katze (86 Min., Retrospektive 1977, Classics 2015). 1971: Geschichten vom Kübelkind / Stories of the Dumpster Kid. 1972: Das goldene Ding (90 Min., Forum 1972, Co-Regie: Alf Brustellin, Nikos Perakis, Edgar Reitz). 1974: Ein ganz perfektes Ehepaar (90 Min., Berlinale 1977). 1976: Erikas Leidenschaften (64 Min., Forum 1977). 1984: Der Schlaf der Vernunft (82 Min., Forum 1984), Jakobs Tauben (Forum 1984, 45 Min.). 1991: Das alte Lied (82 Min., Forum 1992). 2015: Die Widerständigen „also machen wir das weiter ...“ (87 Min., Panorama 2015, Co-Regie: Katrin Seybold).

Foto: © Edgar Reitz Filmstiftung

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