Die Alternative zum „Kübelkind“ sind wir
„Das Kübelkind“ ist eine Kunstfigur: In jeder Geschichte zwingt die Gesellschaft sie, etwas zu lernen.
Aber sie, erwachsen vom Augenblick ihrer Geburt an, lernt ungefragt immer noch etwas mehr, als von ihr verlangt wurde. Das von der Gesellschaft nicht gewollte „etwas mehr“ Gelernte aber bringt sie regelmäßig in Lebensgefahr. In jeder Geschichte stirbt Kübelkind. Sie stirbt sich durch alle Kino-Genres. Ihre Geschichten haben alle möglichen Zeiten und spielen in allen möglichen Zeiten.
Was ist ein Kübelkind? Am Anfang steht der Witz von der aufgezogenen Nachgeburt. Eine Nachgeburt ist zum Wegwerfen, nicht zum Aufziehen. Und damit fängt Kübelkinds Unrechtssituation an. Kübelkind wächst in einer Mülltonne auf, von Anfang an in einem roten, kleingeblümten Kleid, roten Strümpfen und roten Schuhen. Die Darstellerin des Kübelkindes, Kristine de Loup, trägt diese Kleidung plus einer schwarzen Chinesen-Pagenkopf-Perücke immer. In allen Geschichten. Damit man Kübelkind schon von Weitem erkennt und damit auch optisch schon klar wird: Die kann sich anstrengen wie sie will, sie wird nie so sein wie wir.
Es sieht am Anfang so aus, als wäre Kübelkind gern im Kübel. Zumindest kennt sie es nicht anders. Dann kommt einer von uns und sagt, das ginge so nicht. Jeder hätte einen Vater und eine Mutter zu haben, brauche ein schönes Bett in einem hellen Zimmer und viele liebe Leute um sich herum. Kübelkind kennt das leider alles nicht, meint es aber freundlich, wenn sie sich darauf einlässt, ihren Kübel zu verlassen.
Es sollte auch nicht gesagt sein, dass es im Kübel am allerschönsten war, und dass man sie deshalb unbedingt hätte drin lassen sollen. Aber die Alternative zum Kübel sind leider wir, und damit wird es für Kübelkind sehr kompliziert. Plötzlich muss sie aufhören, direkten Wünschen nachzugehen. Erziehungs- und Lernprozesse macht sie so lange durch, mit allen Konsequenzen, bis sie mordet, hurt und stiehlt, selbst ermordet wird, in der nächsten Geschichte wiederkommt und anfängt, sich zu rächen. (Edgar Reitz Stiftung)
Kübelkind-Speisekarte
1) Alte Männer
Wenn Kübelkind es will, stehen manche Männer ganz schnell in der Unterhose da. 1’06’’
2) Kübelkinds Kindheit
Diese Geschichte sollte man sich auf jeden Fall ansehen! Eine Nachgeburt macht sich selbständig – dann aber kommt die Wohlfahrt. 6’13’’
3) Kübelsyndrom
Etwas über die Fähigkeit unserer Gesellschaft, alles zu verstehen, zu verzeihen und zu vergelten. 10’15’’
4) Des Hauses Schmuck ist Reinlichkeit
Kübelkind unter der Dusche, im Regen und in der Traufe. 4’30’’
5) Katzen haben Flöhe
Kübelkind tut so, als würde es schlafen. Weil es gerne wissen möchte, was dann passieren kann. Aber die Stiefmutter kommt dazwischen. 8’34’’
6) Kübelkind wird glatt und rund
Kübelkind erlebt einen Erziehungsversuch durch einen geistlichen Herrn, der genau weiß, was gut tut. 4’52’’
7) Ein ganz kleines Glück
Kübelkind treibt es mit den Früchten des Feldes. 2’03’’
8) Kübelkind lernt einen Lord kennen und wird aufgehängt
Das stimmt, aber die Rache ist ganz besonders süß. 17’10’’
9) Kübelkind erzählt einer Königin ein Märchen
Eine Geschichte zum Hinhören und Zuschauen. 6’08’’
10) Kübelkind lernt ein Scheißspiel
Kübelkind erfährt am eigenen Arsch, wie zwischen Streicheln und Hauen ein spaßiger Zusammenhang entsteht. 3’31’’
11) Kübelkind lernt nein sagen
Kübelkind feiert eine Hochzeit, aber im entscheidenden Augenblick wird es trotzig, worauf die Waffen sprechen. 16’40’’
12) Murmeltier lernt tanzen
Kübelkind soll für den Jahrmarkt erzogen werden, singt schöne Lieder, beschimpft die Leute und brennt mit der Kasse durch. 18’51’’
13) Alle Macht den Vampiren
Es ist kaum zu glauben, wie viele Vampire es geben könnte. Kübelkind ruft sie zu einer großen Demonstration auf. 2’19’’
14) Freiheit durch Al Capone
Kübelkind redet dauernd von Revolution, aber Al Capone, die Sau, von etwas ganz anderem. 18’36’’
15) Eine Kaufhausdiebin
Nach einem schönen Kaufhausbummel sitzt Kübelkind auf dem Schoß einer Kollegin und macht nur ein bisschen mit. 3’38’’
16) Besonders nette Eltern
Kübelkind muss lernen, dass ein Beischlaf auch dann von Übel ist, wenn er auf dem Klo vollzogen wird. 9’’
17) Niedrig gilt das Geld auf dieser Erde
Kübelkind geht auf den Strich und wird dafür ermordet. 15’13’’
18) Geschichten und Finanzierungsvorschläge bitte an der Kasse.
19) Die Hexe soll brennen
Muss Kübelkind auf dem Scheiterhaufen enden? Kommt eine Rettung von oben? 4’15’’
20) Geschichten und Finanzierungsvorschläge bitte an der Kasse.
21) Kübelkind hat einen guten Menschen zum Fressen gern
Liebe geht durch den Magen, aber manchmal verdirbt man sich ihn dabei. 9’35’’
22) Kübelkind ersäuft Kübelkinder
Dazu gibt es schöne Musik, und alles ist sehr poetisch. 4’13’’
23) Geschichten und Finanzierungsvorschläge bitte an der Kinokasse erfragen.
24) Kübelkind reitet für den König
Der größte Film aller Zeiten. Intrigen, alte Gemäuer, quietschende Fußböden, die Königin schläft mit dem falschen Mann, Kübelkind heiratet d’Artagnan und reitet auf einem weißen Pferd, noch mehr
Intrigen, und Kübelkind macht mit. Dafür soll sie am Ende an allem schuld sein. 25’30’’
25) Das Bankkonto im Walde
Kübelkind glaubt an unser Kreditwesen. Muss deshalb aus dem vierten Stock eines Hauses springen und ein trauriges Lied singen. 11’46’’
26) bis 64) Geschichten und Finanzierungsvorschläge bitte an der Kinokasse hinterlegen.
(Edgar Reitz Stiftung)
Warum Kübelkind? Ein Statement von Ula Stöckl und Edgar Reitz
Weil wir 1969 keine Lust hatten, einen 90 Minuten-Spielfilm zu machen, der wieder ohne Verleih bleibt.
Weil uns mehr Geschichten einfielen, als für einen Spielfilm gut gewesen wäre.
Weil wir uns beim Drehen nicht festlegen wollten, ob der Film 2 oder 20 Minuten lang wird. Deswegen haben wir dann viele 2 bis 20 Minuten lange Filme gedreht.
Weil, wenn man nicht an einen deutschen Verleih denken muss, die Welt wieder schöner wird.
Weil wir wahre Geschichten lieben, aber auch unwahre.
Weil das Kübelkind manchmal am Ende einer Geschichte tot sein darf, ohne für die nächste Geschichte gestorben zu sein.
Weil wir gerne mit Kostümen spielen, aber auch ohne.
Weil wir gerne eine Erziehungsgeschichte drehen wollten.
Weil wir alle unsere Freunde in schönen Rollen sehen wollten.
Weil wir eine solche Wut hatten.
Weil das Kübelkind gerne fickt.
Weil wir Scheiße finden, dass sie das büßen muss, und weil wir auch auf die FSK scheißen.
Weil eines Tages die Kassetten kommen, und weil wir wissen wollen, ob das auch wieder so wird mit den Verleihern.
Weil wir vom Bundesinnenministerium gerade Geld bekommen hatten und es auf keinen Fall zurückgeben wollten.
Weil wir auch Kübelkinder sind ...
... und schließlich haben wir dann in München ein Kneipenkino aufgemacht, und da läuft Kübelkind alle Tage außer montags ab 23 Uhr, Eintritt DM 3,50 und Kübelkinder stehen auf der Speisekarte.
(Edgar Reitz Stiftung)
Viel Kino gegen das Kino
In einer Münchner Kneipe (Rationaltheater) kann man sich – außer montags – ab 23 Uhr die Geschichten à la carte und portionsweise zuführen; im Westdeutschen Fernsehen, andere wollen folgen, werden sie zum Programmschluß als Betthupferl zur Nacht gereicht.
Ula Stöckl und Edgar Reitz haben, als ihre letzten langen Spielfilme liegenblieben und keinen Verleih mehr ins ehrsame Risiko lockten, mit den Mustern des Kinos gebrochen und zunächst einmal zweiundzwanzig Episoden vom KÜBELKIND gedreht, Filme, die endlich so kurz oder so lang sein durften, wie sie sein mußten: eine Minute und sechs Sekunden oder fünfundzwanzig Minuten und dreißig Sekunden. Der Bruch mit dem Kino herkömmlicher Spielart, mit dem bürgerlichen, verbürgerlichten Kino also, war vielfältig und folgenreich. Denn es war nicht nur der Abschied von Äußerlichkeiten wie die übliche Neunzig-Minuten-Handlung oder die filmkapitalistische Produktionsweise (welche die Filmform diktiert). Es war auch der Abschied – und das war ein radikaler Einschnitt – vom Autorenfilm, dem Stöckl und Reitz reichlich Tribut gezollt hatten, Abschied von dem für die bürgerliche Kultur charakteristischen cinematographischen Genre. Und es war, nicht zuletzt, der Abschied von der üblichen, bis zum Aufkommen der Undergroundfilme für unaufhebbar gehaltenen Art der Filmrezeption. Das alles waren – wie sich am Produkt beweist – keine voneinander unabhängigen Entscheidungen. Hier hing das eine mit dem anderen zusammen, brachte das eine das andere hervor. Die GESCHICHTEN VOM KÜBELKIND sind für unser Land eine cineastische Revolution. Das ist sogar der Freiwilligen Selbstkontrolle nicht entgangen, die den GESCHICHTEN bestätigte, sie seien „randvoll mit unsittlichen Redensarten“, betrieben „Verunglimpfung religiöser Werte“ und „Darstellung des Sexuellen in abstoßender Form“.
Das letztere dauert zum Beispiel exakt zwei Minuten und drei Sekunden: Kübelkind streicht mit gelüpftem Rock durch hohe Gräser, an Blumen vorbei und durchs Getreide, ein Orgasmus prall von Natur. Die das abstoßend finden, müssen etwas gegen die Natur haben, und die das erfunden haben, nennen es viel zu bescheiden „ein ganz kleines Glück“.
Kübelkind, das ist – ein Wiener Schimpfwort – die Nachgeburt, zum Wegschmeißen, die Nachgeburt auch unserer Zivilisation, die Nachgeburt des Kinos. Stöckl/Reitz lassen ihr Kübelkind (Kristine de Loup) gleich erwachsen sein – körperlich; denn die geistig-seelische Reife fehlt eklatant und wird dem Findling anerzogen. Es sind also, auf einen großen Nenner gebracht, Anpassungsgeschichten, die dem Kübelkind widerfahren.
Doch freilich: Ein Kübelkind paßt sich nicht an. Wenn es gelehrig ist, dann ist es allzu gelehrig und dreht den Konventionen einen Strick daraus. Kübelkinder – das könnte, sollte sich ein„bürgern“ – bleiben unangepaßt und sind der inkarnierte Widerspruch unserer Verhältnisse.
Nachgeburt des Kinos: Stöckl/Reitz haben sich mit dem Kübelkind in den Kinogenres umgetan. Kostümfilm, Historienkino, Krimi, Science Fiction, Vampirfilm, Musikfilm, Heimatfilm – in all diesen Genres mit festen Gesetzen und etablierter cinematographischer Grammatik bewegt sich das Kübelkind gegen den Strich. Die Vagabundin durch Zeit und Gesellschaft vagabundiert durch die Kinokultur und entlarvt deren Muster als Fixierungen von bestimmten Verhaltensformen.
Die Kinokultur – so lautet die Nachricht vom Kübelkind –: nichts als eine Hilfseinrichtung, ein Suspensorium für die […] Gesellschaft.
Gewichtige Sätze über Filmgeschichten, die man auch ganz anders sehen kann. Denn der Spaß, den die Hersteller dieser monströsen Kino-Anthologie beim Machen hatten, dieser Spaß überträgt sich auf den Zuschauer unmittelbar. Aber heißt Spaß an einer Sache zu haben wirklich, sie „ganz anders“ als in ihrer kritischen Funktion zu sehen?
(Peter W. Jansen, „Die Zeit“, 23. Juli 1971)
Für Jugendliche unter 18 nicht geeignet
Kein Film für stille Feiertage: Die FSK (Freiwillige Selbstkontrolle der Filmwirtschaft) wollte eine 96minütige Kinofassung nicht unter 18 Jahren und nicht unter einem halben Dutzend Schnittauflagen freigeben. „Die Geschichte vom Kübelkind, einem Außenseiter der Gesellschaft“, heißt es in der Begründung des sogenannten Jugendentscheids, „sind für Jugendliche unter 18 Jahren verwirrend und unvollständig. Der Film ist randvoll mit unsittlichen Redensarten. Die Verunglimpfung religiöser Werte, hier wohl als Parodie, ist für Jugendliche im höchsten Grade abträglich. Dazu kommt die Darstellung des Sexuellen in einer Form, die Jugendliche verwirren und abstoßen muß (Masturbation des Kübelkindes im Gerstenfeld usw.). Auch die Sequenzen, in denen das Kübelkind erwürgt und erhängt wird, sowie das Ersäufen weiterer Kübelkinder sind dazu angetan, Jugendliche in ihrer Entwicklung schwer zu beeinträchtigen. Der Arbeitsausschuß lehnt eine Freigabe für Jugendliche unter 18 Jahren daher ab. Ergebnis: Freigegeben ab 18 Jahren mit Schnittauflagen.“
Nach detaillierter Auskunft über anstoßerregende Wörter und Bilder für die Zensurschere kommt die FSK schließlich zur frommen Einsicht, den neuen Film von Ula Stöckl und Edgar Reitz auch mit Jugendverbot und Schnittauflagen „nicht für die stillen Feiertage“ freizugeben.
(„Tagesanzeiger“, Zürich, 23. Oktober 1970)