Zinet, ein Kind der Kasbah
Wie so oft bei großen Kunstwerken enthält auch TAHIA YA DIDOU bedrohliche Warnzeichen. Die Szene, in der die Menschenansammlungen am Rande einer Militärparade zu sehen sind, ist ein emblematisches Bild für Algerien nach der Unabhängigkeit und für die autoritäre Herrschaft des Militärs. Auch die mehrfach zu sehenden Aufnahmen von Kindern, die vor der Polizei davonlaufen, lassen die Zuschauer mit Schaudern daran denken, dass diese Arbeiterkinder zu jungen Männern heranwachsen und von den radikal-islamistischen Bewegungen mobilisiert werden, bevor sie weitere zwanzig Jahre später erneut auf der Flucht vor der Polizei sein werden.
Mohamed Zinet war der Begründer des algerischen Nationaltheaters. Ein brillanter Schauspieler, Dramaturg, Komiker und eine herausragende Persönlichkeit der algerischen Kulturszene. Als Kind der Kasbah (Altstadt von Algier; Anm. d. Red.) kämpfte er im Algerienkrieg aufseiten der nationalen Befreiungsarmee (ALN) und wollte mit TAHIA YA DIDOU ein authentisches Porträt seiner geliebten Stadt Algier realisieren. Der Titel des Films bedeutet in dem in Algier gesprochenen Dialekt so viel wie „Guten Tag, mein Herr!“ oder „Guten Tag, Onkel“. Die Dreharbeiten fanden 1969 und 1970 statt und wurden vermutlich 1971 abgeschlossen. Obwohl der Film von den Behörden nicht freigegeben wurde, gab es gelegentlich Aufführungen in der Cinémathèque d’Algier. TAHIA YA DIDOU erlangte Kultstatus. In den folgenden Jahren arbeitete Zinet weiterhin als Schauspieler, übernahm Rollen in LES AJONCS und LES TROIS COUSINS von René Vautier, MONANGAMBE von Sarah Maldoror, LA VIDE DEVANT SOI von Moshe Mizrahi, ROBERT ET ROBERT von Claude Lelouch, um nur einige Arbeiten zu nennen. Er starb 1995 in Frankreich. (Rasha Salti)
Die Kamera flaniert durch Algier
Vom Markt zum Hafen, durch die Straßen, in die Cafés: Zinets Kamera flaniert durch die Stadt und fühlt ihr dabei den Puls. Variierende Aufnahmewinkel, Einstellungsgrößen und Kamerabewegungen fügen sich zu fließenden Beobachtungen der Bewohner von Algier und ihrer Gesichter, auf denen die Kamera immer wieder verweilt. Einige Menschen sind immer wieder zu sehen und werden zu Protagonisten, so zum Beispiel eine Gruppe von Kindern, die von einem gutmütigen Polizisten verfolgt wird; ein ungewöhnlicher Schweizer, der gerade in Shorts am Flughafen angekommen ist; und ein Krabbenfischer ohne Pass. Diese skizzenhaften Porträts sind oftmals komisch, fesseln unsere Aufmerksamkeit – wir tauchen völlig in die Bewegungen der Stadt ein. (...)
TAHIA YA DIDOU wurde 1971 fertiggestellt, die Wunden der Stadt sind noch nicht verheilt. Es scheint den Menschen ein Bedürfnis, die Okkupation und den Unabhängigkeitskrieg in Erinnerung zu behalten und zum Teil ihres Alltags zu machen. Indem TAHIA YA DIDOU gleichzeitig die Gegenwart zeigt und die Vergangenheit beschwört, erhält der Film eine zeitlose Dimension, die im wiederholten Auftauchen der Figur des Dichters Momo ihren Ausdruck findet. Seine Worte, Hymnen an die Stadt Algier, sind nicht unmittelbar untertitelt, sondern werden zeitlich versetzt auf Französisch wiederholt. Auf diese Weise können wir uns einen Moment lang ganz der Klangfülle des Arabischen hingeben. Mit Leichtigkeit verbindet Zinet dokumentarische Aufnahmen mit Spielfilmszenen, Komödie und Tragödie und gestaltet einen ungewöhnlichen, überaus lebendigen Film, in den man nur zu gern eintaucht. (Marion Pasquier)
Vom Gestalten des Unmöglichen
Ali Marok (einer der Kameramänner des Films; Anm. d. Red.) erinnert sich: „Heute (...) spricht niemand mehr von dem Aufwand, den es bedeutete, diesen Film fertigzustellen. In einer der Szenen, die in der Nähe des Emir-Abdelkader-Gymnasiums spielen, ist meine damals noch kleine Tochter als Statistin zu sehen. Wir arbeiteten an der Grenze zur Heimlichkeit, ohne Drehgenehmigung. Ich musste zusehen, woher ich Filmmaterial bekommen konnte – damals war das fast unmöglich. Nicht wenige Kameraleute verkauften die unverbrauchten Reste eines Drehtages an Fotostudios ... Die letzten Aufnahmen des Films fanden unter einfachsten Bedingungen statt. Zur gleichen Zeit verwarnte mich mein Arbeitgeber wegen meiner Mitarbeit an Zinets Film. Man hatte den Eindruck, dass unser kleines Produktionsteam ins Blickfeld obskurer Kräfte gekommen war, die die Fertigstellung dieses kleinen Auftragsfilms um jeden Preis verhindern wollten. Tatsächlich bestand während der gesamten Produktionszeit die Gefahr, dass der Film verhindert und das Projekt für immer begraben wurde.“ (...)
Sommer und Herbst 1970 vergingen. Ali Marok fährt fort: „Wie durch einen glücklichen Zufall und dank des Segens der Götter kehrte Zinet mit der Kopie des fertigen Films unter dem Arm nach Algier zurück (die Montage des Films hatte Zinet in Paris vorgenommen; Anm. d. Red.). Der Bürgermeister von Algier, Prof. Dr. Mentouri, war überglücklich. Endlich war der Film fertig, endlich konnte er den neuen Kinosaal L’Algéria (vormals hatte das Kino Le Versailles geheißen) eröffnen, der Name Mohamed Zinet würde am Eingang zum Kino im Scheinwerferlicht leuchten. So würde das Versailles von einem Kind der Kasbah verbessert und umgestaltet werden – Zinet sei Dank!
Doch der fertige Film war weder das, was angekündigt, noch das, was erwartet wurde. Aus einer kurzen Auftragsarbeit hatte Zinet einen abendfüllenden Film gemacht. Aus einer Reportage war ein einzigartiger Spielfilm geworden.“
TAHIA YA DIDOU ist ein Film der Freude, der sich den Kindern der Stadt, ihren Ballspielen und ihren Streichen öffnet und das Mikrofon schließlich einer verschleierten Frau überlässt, die völlig ungeniert auf den übervollen Rängen des Annasser-Stadions, wo gerade die Algériade (Sportveranstaltung; Anm. d. Red.) ausgetragen wird, ihrer Begeisterung Ausdruck gibt. Man könnte viele Seiten mit Schilderungen all der Fundstücke in dem Film füllen, mit Beschreibungen des sensiblen Einfallsreichtums und der frischen, arglos und schelmisch zugleich wirkenden Wendungen, die diesen Film ausmachen. (Abderrahmane Djelfaoui)