Das Rauschen und die Kratzer der Zeit
Als wir im Februar 1988 mit den Dreharbeiten zu dem Film begannen, aus dem am Ende EGARO MILE werden sollte, schien unser Vorhaben in jeder Hinsicht realisierbar. Die ursprüngliche Idee war, einen kompakten halbstündigen Film über eine Gruppe von Baul zu realisieren: traditionelle Wandermusiker in Bengalen, die in einem ländlichen Vorort von Kolkata zusammenkamen. Wir hatten vor, die Vorbereitungen für das Konzert und die abendliche Aufführung in der Stadt mit der Kamera zu begleiten. Was sich uns jedoch an diesem ersten Tag eröffnete, war der Beginn einer Reise, die erst drei Jahre später endete.
Es war ebenso unmöglich, die Anwesenheit unseres Teams auszublenden wie auch den Umstand, dass die Dreharbeiten die Situation grundlegend veränderten. Letztlich nahm der Film die Gestalt eines in der Ich-Form erzählten Tagebuchfilms an, der das ganze Durcheinander, die Fehltritte, die absurden Situationen und Konflikte dokumentierte, die der Film gleichermaßen bezeugte und verursachte. Die Subjektivität, die dem fertigen Film eigen ist, war weder das Ergebnis eines absichtlich gefassten Plans noch reiner Zufall. Sie entwickelte sich vielmehr aus unseren wiederholten, unsicheren, aber bewussten Bemühungen, uns auf ehrliche Weise mit einer Gruppe Menschen auseinanderzusetzen, deren Lebensumstände sich von den unseren wesentlich unterscheiden. Die Gruppe der Baul war mit den modernen audiovisuellen Techniken wie auch mit der Welt jenseits Bengalens, wo diese Technologien zum Einsatz kommen, durchaus vertraut.
Die guten Zeiten von Channel 4
Ich persönlich schlug mit EGARO MILE einen neuen Weg ein. Die Arbeit am Film begann ganz typisch aus einem chaotischen Impuls heraus und mit unzureichenden finanziellen Mitteln; mit etwas Glück und viel Einsatz konnte er dann in London und Paris mit der besten verfügbaren 16-mm-Technik fertiggestellt werden. Ich hatte das Glück, dank der Vermittlung durch Anand Patwardhan, Kontakt zu Alan Fountain herstellen zu können, einem Redakteur des britischen Fernsehsenders Channel 4. Fountain liebte das Kino, er war wagemutig und bereit, mit dem Medium Film zu experimentieren und diese Experimente bei einem größeren Publikum auf Channel 4 zu testen. Ich hatte mich dazu durchgerungen, keinen harmlosen, seichten ethno-exotischen Film zu drehen, sondern einen Trailer zu realisieren, der diesen Entschluss reflektierte. Dieser Trailer brachte uns schließlich mit Fountain zusammen, der wiederum die Mittel zur Verfügung stellte, mit der wir die Arbeit am Film zu einem guten Abschluss bringen konnten.
EGARO MILE, 1991 fertig gestellt, hatte indirekt die Förderung zweier weiterer Filme durch Fountain und seine Redaktion zur Folge: MEMORIES OF MILK CITY (1991) und TALES FROM PLANET KOLKATA (1993) – beides Filme, die heutzutage keinerlei Aussicht auf Fernsehfördergelder hätten.
Tatsache ist, dass alle drei Filme – zumindest im Kontext des indischen Kinos – einen Widerspruch in sich darstellten: jeweils auf 16mm gedreht, waren sie wie Tagebuchfilme aufgebaut, subjektive Essays in meditativ-poetischer Form. Drei Jahre nachdem der letzte der drei Filme beendet war, war die Videotechnik so weit fortgeschritten, dass Filmemacher*innen leihweise mit leichtgewichtigen Kameras arbeiten konnten oder selbst Kameras besaßen, die Bilder und Töne in Sendequalität aufzeichneten. Außerdem konnte man das Material am heimischen Computer zumindest in die Form eines Rohschnitts bringen – alles Faktoren, die dazu beitrugen, dass die größten Hürden bei der Realisierung von nichtfiktionalen Arbeiten umgangen werden konnten. Das Filmemachen in der Ich-Form als Vorgehensweise, bei der Filmemacher*in und Team eng zusammenarbeiten, war zwischen 1988 und 1993 eher noch ungewöhnlich, das änderte sich gegen Ende der 1990er-Jahre.
Solange Alan Fountain Redakteur bei Channel 4 war und Filme in Auftrag geben konnte, nahmen viele von uns fälschlicherweise an, dass diese Art von Freiheit, für die er stand, von Dauer sein würde. Doch die Geschichte belehrte uns eines Besseren: Wenige Jahre nach der Fertigstellung von TALES FROM PLANET KOLKATA war Fountain nicht mehr da, aufgrund eines Leitungswechsels ganz oben seiner Position bei Channel 4 enthoben. Die Zeit (von den frühen 1980er- bis in die frühen 1990er-Jahre), in der sich britische und europäische Fernsehsender für Experimente mit filmischen Formen und ungewöhnlichen Inhalten offen zeigten, war endgültig vorbei.
In der Zeit, in der Jai Chandiram den indischen staatlichen Fernsehsender DD3 leitete, fanden alternative Fernsehprogramme für kurze Zeit ein Forum. Heute fördert die Public Service Broadcasting Trust Initiative (PSBT) gelegentlich nichtfiktionale, ungewöhnliche Arbeiten. Seit der Jahrtausendwende haben indische Regisseur*innen solcher Filme neue Orte gefunden, an denen ihre Werke ein Publikum finden: indische und internationale Kunstgalerien.
Digitale Restaurierung in Berlin
Vor einiger Zeit hat das Arsenal – Institut für Film und Videokunst in Berlin mit der digitalen Restaurierung der drei 16-mm-Filme EGARO MILE, MEMORIES OF MILK CITY und TALES FROM PLANET KOLKATA begonnen. Als ich letzten Sommer nach Berlin kam, um gemeinsam mit den Techniker*innen vor Ort die Farbkorrektur vorzunehmen und den Ton anzupassen, lagen das Bildnegativ und die Tonspur bereits digitalisiert vor. Während des einmonatigen Arbeitsprozesses fühlte ich mich von dem Material gleichermaßen angezogen wie abgestoßen; ich nahm meine vielschichtigen Verbindungen zu den Filmen wahr.
Einerseits waren dies meine Arbeiten, die ich natürlich sehr gut kannte – auf einmal konnte ich mich an viele Details wieder genau erinnern. Auf der anderen Seite konnte ich nichts gegen den Eindruck tun, seltsam fremde Bilder und Töne aus einer anderen Zeit zu betrachten, von der neuesten Postproduktions-Software freigelegt und auf die große Kinoleinwand projiziert, nachdem ich den Film jahrelang nur auf DVD gesehen und gehört hatte. Die Filme waren mir genauso vertraut wie fremd: der Geist der Perforationslöcher, die man auf dem Monitor sah, die nur zu bekannten Kratzer und Schäden, die das Kopierwerk bei der Entwicklung einzelner Szenen verursacht hatte, neue „Ereignisse“ auf dem Negativ, die Spuren der Zeit, die sich auf dem Filmmaterial verewigt hatten, die sonderbare Diskrepanz zwischen Rolle „A“ und „B“ in älteren Negativen, die Klickgeräusche und Flecken auf den Tonspuren, die um Jahrzehnte jüngere eigene Stimme, die frischen und lebendigen Stimmen von Menschen, die nicht mehr unter uns waren.
Am Ende der Arbeit an der Tonmischung von EGARO MILE bemerkte der Toningenieur A. M. Padmanabhan („Paddy“): „Hör dir unsere Arbeit gut an und genieß es. Es wird das letzte Mal sein, dass du das Tonspektrum in seiner ganzen Breite hören wirst. Die Lichttonspur wird gut dreißig Prozent der Tonqualität schlucken.“ So hörten wir uns die fertige Tonspur an, während die nach einem langen Schnittprozess völlig verkratzte und immer wieder geklebte Bildspur aus Schwarzweiß- und Farbmustern auf dem Schneidetisch an uns vorbeizog. Als wir später die makellose, frisch gezogene, farbkorrigierte Filmkopie sahen, hatte die Lichttonspur, wie vorhergesagt, einiges an Klangfülle eingebüßt. Der damalige Transfer von Film auf Video hatte zur Folge, dass der Ton besser zur Geltung kam, dafür aber die Bildqualität auf VHS und später auf DVD komprimiert werden musste.
Als ich dann im Arsenal saß und das farbkorrigierte digitale Bild sowie die bereinigte Tonspur sah und hörte, hatte ich den Eindruck, meinen Film nach zwanzig Jahren zum ersten Mal in angemessener Form wahrnehmen zu können. Mithilfe der Möglichkeiten der modernen Technik hätten wir jedes kleinste Segment des Bildes reinigen können, die Schwärze vertiefen, die Körnung des 16-mm-Bilds abschwächen, die Schärfen anziehen, die Farben verändern und die meisten Kratzer eliminieren können. Die Kolleg*innen in Berlin und ich hatten uns jedoch darauf verständigt, die Bildqualität analog zur ersten Filmkopie zu belassen und dem damaligen Filmmaterial mit entsprechender Genauigkeit zu begegnen. Auch die Tonspur wurde nur bis zu einem bestimmten Punkt bereinigt, die aufgetretenen Altersschäden wurden so weit wie möglich behoben, wobei der Ton selbst nicht verstärkt oder verbessert wurde.
Ohne Zweifel war dies mein Film, der in seinem neuen Erscheinungsbild auch eine Markierung darstellte, eine Art audiovisueller Beleg der damaligen Zeit und der Art und Weise, wie damals Dokumentarfilme und nichtfiktionale Arbeiten realisiert wurden, mit den technologischen Möglichkeiten und im historischen Kontext von damals. Die Filme gehören in die Gegenwart wie in die Zukunft – die Restaurierung ist dabei ein Schritt, die Arbeiten wieder verfügbar zu machen und den Dialog mit anderen Filmen zu ermöglichen –, sie gehören aber auch dem Rauschen und den Kratzern der Zeit. (Ruchir Joshi)
In: Marg, Vol. 70, Nr. 1 (September – Dezember 2018), mit freundlicher Genehmigung der Herausgeber, The Marg Foundation, Mumbai.