Gespräch mit Marta Rodríguez und Jorge Silva
NUESTRA VOZ DE TIERRA, MEMORIA Y FUTURO ging angeblich als vollständige Neukonzeption aus einem Projekt hervor, das ursprünglich als Trilogie über die Situation der kolumbianischen Bauern geplant war. Danach haben Sie beschlossen, die Indigenas als ein eigenständiges Thema zu behandeln.
Marta Rodríguez: Als wir unseren indigenen Genossen vom CRIC (der 1971 als Interessenvertretung der Indigenas der Cauca-Region gegründete Consejo Regional Indígena del Cauca; Anm. d. Red.) den Film CAMPESINOS (dt.: Bauern; Anm. d. Red.) zeigten, reagierten sie skeptisch. Sie erkannten sich darin nicht wieder. Außerdem gab es Szenen in dem Film, die sie verwirrten, beispielsweise die, in der ein Bauer auf dem Plaza de Bolívar eine Rede hält und dazu Bilder von Indigenas gezeigt werden. Das vermittelte den Eindruck, dass sie keine eigene Stimme besäßen und deshalb einen Bauern für sich sprechen lassen müssten. Zudem gab es zu diesem Zeitpunkt eine Krise innerhalb der ANUC (Asociación Nacional de Usuarios Campesinos, nationale Bauernvereinigung Kolumbiens; Anm. d. Red.), in deren Verlauf der CRIC sich von dieser trennte.
Stimmt es, dass die Beziehung mit den Indigenas Sie dazu veranlasste, Ihr visuelles Konzept für den Film vollkommen neu zu überdenken?
Marta Rodríguez: Für die Indigenas gibt es ein kollektives Ich, sie treffen alle Entscheidungen gemeinschaftlich. Als sie Szenen mit einem Indigena, der die ganze Zeit über redete, sahen, meinten sie nur: „Dieser Indio spinnt.“ Es gefiel ihnen auch nicht, dass die Anführer so eine wichtige Rolle in dem Film spielten. Trino Morales meinte zu mir: „Wenn Sie sich so auf die Anführer konzentrieren, wird am Ende eine rührselige Romanze herauskommen.“ Bezogen auf CAMPESINOS erklärte Gregorio Palechor: „Wieso werfen Sie Indigenas und Bauern in einen Topf? Das ist, als würde man keinen Unterschied zwischen Maultieren und Pferden machen.“ Die Indigenas brachten uns dazu, zu verstehen, dass die Erzählperspektive unseres Films ihre Sicht der Realität nicht widerspiegelte. Um ein anderes Beispiel zu nennen: Wir zeigten ihnen die Nahaufnahme eines Indigena, dessen Gesicht schweißgebadet war; man konnte allerdings weder dessen Werkzeug noch die Arbeit, die er gerade verrichtete, sehen. Sie fragten uns: „Was ist mit ihm los? Was soll das alles bedeuten?“ Wir erkannten, dass sie ein anderes Zeit- und Raumgefühl besaßen – einen Rhythmus, den man kennen musste. Deshalb beschlossen wir, eine Weile mit ihnen zusammenzuleben, um unsere Vorurteile zu überwinden.
Wie lange haben Sie bei den Coconucos gelebt?
Jorge Silva: Unsere Arbeit vor Ort hat ein Jahr gedauert, das Projekt insgesamt hat vier Jahre in Anspruch genommen.
Welchen Ursprung hat die symbolische Figur des Landbesitzers bzw. des teuflischen Landpolizisten?
Jorge Silva: Die Figur stammt aus einer Geschichte, die Julián Avirama uns erzählt hat und die wir später den „Mythos von Huecada“ nannten. Diese Geschichte handelt von zwei Männern, die sich auf der Suche nach ihren verloren gegangenen Kühen verlaufen und zu einem Hang in der Nähe eines Vulkans gelangen. An diesem Ort, von dem niemand denken würde, dass dort jemand lebt, entdecken sie plötzlich eine Rinderfarm. Ein Aufseher taucht auf, der behauptet, der Teufel zu sein. Später erscheint der Teufel auch in der Gestalt des Landpolizisten und des Landbesitzers, jedes Mal auf einem Pferd sitzend und gespornt wie ein amerikanischer Konquistador. Um diese Erzählung im Film aufzugreifen, war eine szenische Umsetzung notwendig. Wir haben den Mythos von Huecada zusammen mit dem Erzähler selbst und einem seiner Freunde rekonstruiert. Beide zusammen halfen uns dabei, geeignete Drehorte zu finden, die Rinder und all die anderen Dinge zu beschaffen, die zum Drehen der Szene notwendig waren, in der die beiden im Nebel auf der Suche nach dem Vieh den Hang erklimmen.
Der Nebel ist gewissermaßen eine eigenständige Person in dem Film.
Jorge Silva: Die Landschaft dieser Region erzeugt eine Atmosphäre, der man sich nicht entziehen kann. Der Nebel ist dort ein sehr wichtiges Element, denn die Menschen leben in abgeschiedenen Gehöften und sind umgeben von Geschichten über Geister, die sich nachts verirren. Die spezielle Mythologie dieser Region ist beeinflusst vom Nebel und der Abgeschiedenheit der Gehöfte, in denen die Menschen dort leben.
Sie haben vorhin erwähnt, dass die szenische Umsetzung von NUESTRA VOZ DE TIERRA, MEMORIA Y FUTURO sich zwangläufig aus der Beschäftigung mit dieser Geschichte ergab.
Jorge Silva: Im Prinzip handelt es sich bei dem Film um eine dokumentarische Rekonstruktion des Inhalts einiger Texte und Erzählungen. Das Ergebnis ist, finde ich, ein wirklicher Glücksfall. Diese symbolische Figur ist von großer Bedeutung für den Film, weil sie einer Realität entstammt, in der Mythos, Ideologie, Politik, Wirklichkeit und Fantasie, magisches Denken und aktuelle politische Prozesse miteinander interagierten und koexistierten. Diese Dualität, diese Dialektik wurde die Grundlage der spezifischen Erzählweise, die wir für den Film entwickelten, und bei der wir die ihrem Wesen nach naturalistische Form des Dokumentarfilms mit anderen Formen der Wahrnehmung von Wirklichkeit kombinierten.
Vor Kurzem haben Sie in einer Reportage darüber berichtet, dass fast alle indigenen Aktivisten, die in dem Film auftreten, ermordet wurden.
Marta Rodríguez: Ja. Justiniano Lame wurde am 4. Februar 1977 ermordet. Ein Polizist tötete ihn während einer Landbesetzung. Er schoss auf ihn und ließ ihn dann verbluten.
Jorge Silva: Es ist ein merkwürdiger Zufall, dass Justiniano Lame auf dem Landgut San Ignacio starb, vierzig Jahre nachdem Manuel Quintín Lame auf der gleichen Farm im Glockenturm der Kirche gefangen genommen worden war.
Marta Rodríguez: Abelino Ul starb am 4. November 1978. Er wurden von den Párajos (einer Gruppe der kolumbianischen Paramilitares; Anm. d. Red.) getötet, als er mit seiner Frau vom Markt kam. Er war ein wichtiger Aktivist in der Region von San Francisco. 1979 wurde Benjamín Dindicué umgebracht, einer der bedeutendsten Aktivisten der Cauca-Region.
Hatten Sie wegen Ihrer Filme keine Schwierigkeiten mit den kolumbianischen Behörden oder mit Angehörigen der extremen Rechten?
Jorge Silva: In Europa gab es Proteste eines kolumbianischen Diplomaten gegen NUESTRA VOZ DE TIERRA, MEMORIA Y FUTURO. Als Reaktion auf den Film CHIRCALES wurden uns Strafverfahren angedroht. Man setzte einen Detektiv auf uns an, der uns über längere Zeit folgte. Einmal gab es Ermittlungen gegen mich wegen einiger meiner Fotografien, die ich in Planas gemacht hatte und von denen die Armee behauptete, dass es sich um Fälschungen handelte, weil sie niemals jemanden gefoltert hätten.
Marta, welches Thema behandelt Ihr nächster Film EL VALOR DE LA PALABRA?
Marta Rodríguez: Im Drehbuch zu meinem neuen Film habe ich sämtliche Erfahrungen aus unserer Zeit auf dem Land während der Dreharbeiten für CAMPESINOS und NUESTRA VOZ DE TIERRA, MEMORIA Y FUTURO verarbeitet. Ich fing damals an, die Frauen zu beobachten und stellte fest, dass sie in dem Moment, als der Kampf um die Landrechte entbrannte, aus den Zwängen ihres Alltags mit Haushalt, Kindern und Arbeit ausbrachen und sich aktiv am Kampf beteiligten. Eine Begebenheit beeindruckte mich besonders: Einige junge indigene Frauen waren nach Cali gekommen, um dort als Hausmädchen zu arbeiten. Als sie im Radio von den Landbesetzungen erfuhren, gaben sie ihre Stellungen auf und kehrten zurück, um sich am Kampf ihrer Landsleute zu beteiligen. Ich lernte eine außergewöhnliche Frau kennen, Gertrudis Lame, die Witwe von Justiniano Lame. Sie sagt in NUESTRA VOZ DE TIERRA, MEMORIA Y FUTURO den Satz: „Ich glaube, dass man bestimmte Dinge selbst im Sterben nicht vergessen kann.“ Als Witwe setzte sie den Kampf alleine fort. Es gibt viele andere Frauen, die wie sie Witwen ermordeter Aktivisten sind, die weiterkämpfen und diesen Kampfeswillen an ihre Kinder weitergeben. Mich beschäftigt auch ein Mythos über die Schöpfung, von dem ich in der Region der Sierra Nevada de Santa Marta hörte – ein sehr schöner Mythos über den Ursprung der Erde und den Kampf um ihr Fortbestehen. Der Film beginnt mit diesem Mythos, anschließend geht es um den heutigen Kampf um das Fortbestehen der Erde.
(Cinemateca, Cuadernos de Cine Columbiano, Nr. 7, Oktober 1982, Bogotá)