Die Umkehrung der Konvention
Als bildende Künstlerin, die in den 1980er-Jahren nach New York gezogen war, interessierte mich vor allem die Kehrseite der Stadt, wie ich sie in Filmen wie PICKUP ON SOUTH STREET (Sam Fuller, 1953) oder in NAKED CITY (1948) von Jules Dassin gesehen hatte. Der Film noir als Genre hatte mir immer gefallen, nicht nur wegen seiner Szenen mit kaum beleuchteten Straßenzügen, sondern auch wegen seiner Frauencharaktere und ihrer gefährlichen/faszinierenden Sexualität – einer ungebändigten weiblichen Sexualität. Auch die Hitchcock-Filme sprachen mich an, weil sie von Obsessionen sprachen, wie zum Beispiel VERTIGO (1958), REAR WINDOW (1954) oder PSYCHO (1960). Während ich VARIETY vorbereitete, dachte ich: Warum nicht einfach die Genrekonventionen des Film noir auf den Kopf stellen und eine Frau als Ermittlerin und einen Mann als rätselhafte Figur zeigen?
Auf meinen Streifzügen durch das zwielichtige, nächtliche New York stieß ich auf das Variety Theatre, dessen neonbeschienenes Vordach aus einer anderen Zeit zu stammen schien. Ich konnte mich gar nicht wieder losreißen.
Ich wollte mehr über das Theater erfahren: Früher war es eine Vaudeville-Bühne gewesen, davor hatte das Gebäude der Familie Stuyvesant als Pferdestall gedient. Mittlerweile war es ein Pornokino.
Jenseits seiner Funktion als Kulisse oder Hintergrund sollte New York in meinem Film eine wichtige Rolle spielen, eine eigene Persönlichkeit verkörpern. Die Stadt sollte sich in ihrer Times-Square-artigen nächtlichen Geschmacklosigkeit zeigen, hyperreal beleuchtet sein wie der Fulton Fish Market, und im Hintergrund sollte ein Basketball-Spiel im Yankee-Stadion wie in einem Film von Hitchcock dräuen.
Die Frau wird zur Voyeurin
In ihrem Essay „Visuelle Lust und narratives Kino“ argumentiert Laura Mulvey, dass die Lust am Schauen im Kino unmittelbar und zentral mit der Darstellung der Frau als Objekt eines männlichen Betrachters verbunden sei. In VARIETY habe ich versucht, diese Anordnung umzudrehen und eine weibliche „Trägerin des Blicks“ einzusetzen. Zudem unterwanderte ich die Konventionen des Thrillers, indem ich jedes Mal, wenn der/die Zuschauer*in Verwundbarkeit und Bedrohung erwartete, das Gegenteil zeigte. Die Protagonistin setzt sich über die Grenzen der Situation hinweg: Sie wird zur Voyeurin, die den Mann beobachtet und ihn verfolgt. Dieses eine Mal ist sie nicht die zu bändigende Rätselhafte.
VARIETY handelt vom Schauen. Immer wieder zeige ich Rahmen in Rahmen, Fenster, Türöffnungen und Spiegelbilder, um auf der Bildebene den Eindruck des Schauens und des Angeschautwerdens zu vermitteln. Der Kontext der Pornografie bot mir die Möglichkeit, diesem Thema nachzugehen und zu ergründen, was Schauen mit Verlangen zu tun hat und welche Art von Fantasien es freisetzt. Pornografie ersetzt die Berührung durch den Blick, das Verlangen wird kontinuierlich in Aussicht gestellt, aber nie befriedigt. Letztlich wollte ich mich auch mit meiner eigenen Sexualität befassen, ihr eine Stimme geben, die nicht die der Zensur ist, und das Verlangen mithilfe von Fantasie ergründen. Christine, die Hauptfigur meines Films, lebt die Ängste und Fantasien einer ganzen Generation von Frauen aus, die beginnen, ihre eigene sexuelle Lust zu akzeptieren.
Die Kontroversen um meinen Film entzündeten sich nicht an der Einbeziehung von Pornografie oder dem Umstand, dass eine Filmemacherin Pornografie als Ausdrucksmöglichkeit wählt. Es war vielmehr das offene Ende ohne deutlichen Schluss, das das Publikum verstörte. Die dunkle, menschenleere Straße am Ende des Films legt nahe, dass zwischen Verlangen und Befriedigung Leere herrscht, ein leerer Raum, der indes voller Möglichkeiten steckt. (Bette Gordon, Dezember 2018)
Ein Gespräch mit Bette Gordon: „Die Schaulust ist aktiv und passiv zugleich“
Christine Noll Brinckmann: Der Film VARIETY geht mit pornografischen Bildern äußerst sparsam um und zeigt erstaunlich wenig von dem Pornomaterial, das in der Handlung eine so große Rolle spielt. Andere Filme, die das Thema behandeln – vor allem der unglückselige NOT A LOVE STORY – scheinen trotz ihrer aufgeklärten Anti-Porno-Haltung nicht genug davon zu kriegen und schmücken sich mit den explizitesten Hardcore-Beispielen, als wären es Perlen und Juwelen. Kannst Du erklären, warum Du Dich entschieden hast, so wenig zu zeigen? Und nach welchen Kriterien Du Deine Auswahl getroffen hast?
Bette Gordon: Schon bei meinen ersten Überlegungen zu VARIETY (und ebenso in der Super-8-Fassung, die ich 1981 gedreht habe) hat mich die Idee fasziniert, die Pornografie nicht visuell, sondern akustisch-sprachlich zu präsentieren. Eine Seite meiner Überlegungen betraf die Zuschauer. Ich stellte mir vor, daß sie in diesem Fall ihre eigenen Bilder produzieren müssten, statt fertiges Material zu konsumieren; und daß sie, wenn sie den gehörten Text selbst umsetzten, dabei stärker ihre persönlichen Fantasien einbringen würden. Ich habe schon immer die Hoffnung gehabt, mit meinen Filmen die Zuschauer zu aktivieren, sie dazu zu bringen, am filmischen Prozeß teilzuhaben. Eine andere Überlegung, die mich leitete, geht davon aus, daß im Pornofilm die körperliche Berührung durch den Blick ersetzt wird. Der Zuschauer kann von dem Mann oder der Frau, die auf der Leinwand zu sehen sind, nicht Besitz ergreifen. Trotzdem bestärkt die Pornografie den Wunsch nach Besitz oder einer ähnlichen Erfüllung. Indem der Pornofilm statt der echten Erfüllung nur den Blick auf das Gewünschte gewährt, stellt er zwar sicher, daß kein Bild jemals Erfüllung bringt, aber gleichzeitig sorgt er dafür, daß das Verlangen nach solchen Bildern niemals abreißt.
Ich wollte eine Geschichte entwickeln, die in gleicher Weise funktioniert, die ein Verlangen auslöst, das sich nicht stillt.
Ich habe mir außerdem gedacht, daß ich die Konventionen des traditionellen Pornofilms unterlaufen konnte, wenn ich Sexszenen nicht zeige, sondern stattdessen hören/sprechen lasse. Ohnehin wollte ich nicht dieselben Bilder reproduzieren, die der Pornofilm benutzt, oder jedenfalls nicht, ohne dies Verfahren zu problematisieren. Dementsprechend gibt es zwar ein paar Augenblicke, in denen man sieht, was sich auf der Leinwand des Kinos abspielt, in dem Christine arbeitet. Aber diese Stellen sind jeweils als Bilder ausgewiesen, die auf einer „anderen“ (nicht meiner) Leinwand erscheinen, sind deutlich von mir nur zitiert. Ich habe versucht, sie im Kontext meiner Spielhandlung zu problematisieren und immer darauf verwiesen, daß sie innerhalb des Films gerade von jemand gesehen werden.
Außerdem sind die Pornostellen aus ihrem ursprünglichen Zusammenhang herausgelöst, und sie sind sehr abstrakt. Wenn sich zum Beispiel eine behandschuhte Hand auf einen nackten Körper legt, kann man nicht einmal erkennen, um welchen Teil des Körpers es sich handelt. Ähnlich ist es mit den Großaufnahmen – nur die Gesichter der Frauen, von den Schultern aufwärts; sie scheinen sexuelle Lust auszudrücken, aber man weiß nichts über die konkrete Situation, da man nur die Gesichter sieht.
Anfangs hatte ich vorgehabt, viel drastischeres Material und viel mehr harten Porno zu zeigen, aber je mehr ich davon gesehen habe, desto uninteressanter wurde es für mich.
Schließlich haben mich nur noch besonders uneindeutige, schwer lesbare Aufnahmen interessiert (vielleicht weil ich selbst sexuell mehr von dem erregt werde, was ich nicht sehe, als von dem, was überdeutlich vor mir steht).
Es war mir auch wichtig, über die gesprochene Pornografie/Sexualität die Sprache einzubeziehen. Bei Freud und bei Lacan wird die Verbindung betont, die zwischen der Sprache und sexuellen Wunschvorstellungen besteht. Mit der Sprache ergibt sich das Begehren (in der psychoanalytischen Erklärung der kindlichen Entwicklung).
Es hat für mich den Anschein, als ob Du männliches und weibliches Rollenverhalten über die verschiedenen Ausdrucks- und Kommunikationsformen, die in VARIETY vorkommen, definierst und problematisierst. Dies vor allem auf dem Sektor sexueller Fantasien: Während der kommerzielle männliche Porno mehr zitiert als gezeigt wird und die einzige sexuelle Fantasie eines Mannes – des anonymen Anrufers – akustisch kaum verständlich ist, gibst Du den Sexualfantasien der Frau sehr viel Raum. Sie werden in poetischer Sprache und mit atemberaubender Offenheit ausführlich erzählt. Kann man daraus schließen, daß VARIETY zwischen männlichen und weiblichen Sexualfantasien unterscheidet, und könntest Du gegebenenfalls erklären, wo der Unterschied liegt?
Der Film besteht aus lauter Geschichten oder Augenblicken, in denen die Charaktere reden, aber nicht wirklich miteinander sprechen. Mark, Christines Freund, erzählt die Geschichte, die er für seine Zeitung zu schreiben versucht; die Frauen in der Bar erzählen Geschichten über ihre Erfahrungen am Arbeitsplatz Bar; und Christine erzählt ihre eigene Geschichte – in Gestalt ihrer sexuellen Fantasien, die auf den Filmen gründen, die sie sieht oder hört oder sich nur vorstellt. Anfangs lehnt sie sich relativ eng an echte Pornos an, aber später, als sie schon länger in dem Kino arbeitet, lösen sich ihre Beschreibungen von diesem Vorbild und entstammen mehr ihrer eigenen Imagination und ihren Tagträumen, weniger ihren Erlebnissen als ihren Wünschen.
In unserer Kultur ist es tabuisiert, sexuelle Fantasien auszusprechen, nicht einmal innerhalb einer Liebesbeziehung ist es statthaft. Deshalb hat mich die Idee fasziniert, daß Christine ihrem Freund in aller Öffentlichkeit ihre Fantasien erzählt. Zunächst fühlt er sich peinlich berührt, wenn sie so explizit über Sex spricht, er wird nervös und steht vom Essen auf. Es scheint zwischen beiden üblich zu sein, daß er zuerst spricht – die Szene beginnt damit, daß er über seine Tätigkeit als Reporter und den Auftrag im Fischmarkt erzählt, an dem er gerade arbeitet. Wenn sie dann redet, wird die Unterhaltung fast monologisch, sie sprechen nicht mehr miteinander, erreichen sich nicht. Er sagt gar nichts, fühlt sich unbehaglich, blickt sich um, ob jemand mithört, versteht nicht. („Warum erzählst du mir das? Bist du OK?“ Und sie antwortet, "Ich berichte dir über mein Leben.") Schließlich, bei ihrem dritten Treffen, spielt er am Automaten, während sie spricht. Jetzt hat er aufgegeben, etwas zu sagen. Ihre Sprache hat die seine überlagert und unterdrückt.
(Ähnlich die erste Szene im Pornoladen: Als Christine dieses männliche Territorium betritt, weichen alle Kunden aus ihrer Nähe aus. Denn in einem solchen Etablissement werden andere Männer als Mittäter empfunden, stecken unter einer Decke, eine Frau jedoch nicht. Sie hat das Objekt männlicher Blicke, Reden oder Witze zu sein, nicht ihrerseits Blicke zu werfen – wie ein Mann.)
Ob der Film einen Unterschied zwischen männlicher und weiblicher Sexualität behauptet, weiß ich nicht. Ich glaube eigentlich nicht. Ich glaube, daß die Sprache des Begehrens männlich ist (wie die Sprache überhaupt eine patriarchalische Konstruktion ist), und daß Christines Aussprechen sexueller Fantasien eine neue und radikale Tat darstellt. Der Film bringt zum Ausdruck, daß Frauen – selbst in einer patriarchalischen Kultur – aktiv handeln und die kulturellen Symbole interpretieren und benutzen (statt einfach passive Objekte dieser Symbole zu sein). Ich wollte zeigen, daß Christine ihre Probleme und Beziehungen bearbeitet, indem sie ihrer eigenen Sexualität, ihren Wünschen und Befriedigungen nachspürt (es gefällt ihr, Louie zu folgen, es gefällt ihr, aktiv um sich zu blicken). Was mich in meinem Film besonders interessiert hat, ist die Kluft zwischen sexueller Fantasie und sexueller Identität.
Ich habe absolut kein Interesse daran, eine separate oder alternative feministische Erotik zu begründen. Deshalb nicht, weil das Alternative immer schon gleich das Marginale bezeichnet – den Standort außerhalb der Kultur, der Frauen sowieso schon zugewiesen ist. Ich möchte an diesem Ausschluß aus der Kultur nicht festhalten. Außerdem verstehen es die herrschenden Kräfte ausgezeichnet, sich marginale Formen einzuverleiben, sie zu unterwandern und für sich selbst zu beanspruchen. Daher ist unsere Autonomie keineswegs garantiert, nur weil wir von einem Punkt aus operieren, der außerhalb der männlichen Kultur liegt. Ich ziehe es vor, die bestehende Kultur anzugreifen, indem ich innerhalb und durch sie arbeite, indem ich beispielsweise ihre sexuelle Systematik fragwürdig mache. Die Pornografie gibt mir einen Ausgangspunkt, von dem aus ich untersuchen kann, wie Sexualität hier konstruiert wird. Die Pornografie hat keine monolithische Struktur, sondern besteht aus einer Vielzahl von Praktiken, die über die Grenzen von Raum und Zeit und verschiedenen Institutionen hinweg funktionieren und daher infiltriert werden können. Die Codes und Konventionen, die für gewisse pornografische Darstellungen charakteristisch sind und bestimmte Sehweisen strukturieren, können analysiert werden. Mein Interesse liegt darin, die Konventionen der herrschenden Kultur zu brechen, indem ich sie für meine Zwecke verdrehe. Die Tatsache, daß Christine ihre Sexualität offen ausspricht, unterminiert die Rolle, die ihr normalerweise in fiktionalen Darstellungen zugewiesen würde – nämlich besprochen zu werden, statt selbst zu sprechen.
Die Reaktionen der Zuschauer auf die Stellen im Film, wo Christine ihre Sexualfantasien berichtet, sind interessant. Einige Männer haben ihr Unbehagen geäußert, Frauen dagegen identifizieren sich hier sehr stark mit Christine.
Wenn VARIETY der übliche Thriller vom Schlage eines Film noir wäre, würde er seinen Gattungsansprüchen nicht gerecht, denn die Nachforschungen der Protagonistin fördern so gut wie nichts zu Tage. Die Verfolgung wird durch kein geheimes Verbrechen gerechtfertigt, und es gibt kein Opfer. Aber trotz dieses Mangels ist der Film spannend, und wahrscheinlich ist es gerade der Mangel an konventionellen fiktionalen Motiven, der die Verfolgung so überzeugend und so schrecklich macht. Von einer Frau verfolgt und bespitzelt zu werden, die sich für seine sexuellen und anderen Aktivitäten interessiert, scheint einen Mann in höchste Angst und Schrecken zu versetzen. Kannst Du erklären, woher es kommt, daß VARIETY mit so geringen Mitteln so viel erreicht?
Ich habe das Gefühl, der Film funktioniert deshalb so gut, weil er Thriller- und Detektivmomente mit sexueller Neugier und Faszination kombiniert. Christine folgt Louie ja zunächst nicht, um das Verbrechen aufzuklären – wenn es ein solches Verbrechen überhaupt gibt, von dem wir ja nur durch den Freund erfahren (wenn er überhaupt derselbe Mann ist, über den der Freund Recherchen anstellt). Sie folgt ihm, weil sie das Verlangen hat, mehr über ihn zu wissen, wissen will, wer er ist. Natürlich könnte er eine mächtige Figur der Unterwelt sein. Aber das trifft nicht zu. Er ist kein glamouröser Mafioso (wie Marlon Brando in GODFATHER), sondern ein ganz normaler Geschäftsmann mittleren Alters. Er würde sich von den anderen Pornokunden nicht unterscheiden, wenn er nicht mit ihr gesprochen, sie eingeladen hätte. Einerseits folgt sie ihm, weil er gesellschaftliche (patriarchalische) Macht repräsentiert, andererseits, weil sie beginnt, ihre eigenen sexuellen Bedürfnisse zu verstehen. Die Verfolgung gibt ihr Kontrolle, da sie selbst die Entscheidung darüber trifft, was sie tut.
Es war mir wichtig, nicht den Anschein zu erwecken, daß sie das Verbrechen aufklären will; Informationen über Louie sollten allenfalls ein Nebenprodukt ihrer Verfolgung und Bespitzelung sein. Möglicherweise weiß sie alles, was ihr Freund bräuchte, um seine Reportage abzuschließen, aber sie hilft ihm nicht weiter, gibt ihm keine Hinweise. Die Verfolgung hängt vielmehr mit ihrer persönlichen Situation zusammen, mit ihrem Job, Eintrittskarten an Männer zu verkaufen, die nackte Frauen auf der Leinwand sehen wollen. Sie wird in diesem Job als eine Art Verführerin bezahlt. Wenn sie Louie ohne sein Wissen folgt, wird er zum Objekt, ohne es zu merken. Sie beobachtet, beaufsichtigt ihn, wie er sich seinerseits Frauen ansieht.
Die Schaulust ist aktiv und passiv zugleich, der Zuschauer geht das Risiko ein, selbst Objekt der Schau zu werden. Das Pornokino funktioniert, weil die Möglichkeit gegeben ist, im Akt des Sehens selbst gesehen zu werden. Die Schaulust wird desto mehr befriedigt, desto verbotener die erspähte Szene erscheint – Porno gründet auf den Mechanismen der inneren oder äußeren Zensur, auf der Illegitimität des Zuschauens. Porno adressiert seinen Zuschauer außerdem direkt: „Das ist für dich, das wird dir gezeigt.“ Der Film erzählt die Geschichte eines Mannes, der im Akt des Sehens – in flagranti, sozusagen – überrascht wird. Das löst bei ihm Angst aus, ist das Drama des Kindes, das durchs Schlüsselloch schaut. Und es verstößt gegen die traditionelle Rolle der Frau in der Kultur, die gesehen werden, nicht selbst sehen soll.
Während sie dem Mann folgt, erhält sie Aufschlüsse über ihn, sieht, wo er arbeitet (Restaurant), mit wem er umgeht, durchsucht seinen Koffer in einem Hotelzimmer, liest sein schwarzes Buch. Aber all diese Aufschlüsse sind vage und führen nicht notwendig zu bedeutsamen Erkenntnissen. Wichtig ist, für welche Interpretationen Christine sich entscheidet, wie sie kleine Bruchstücke sammelt, visuelle und akustische Informationen zusammensetzt, Gestalt und Sinn gewinnen läßt. Dies entspricht für mich dem Prozeß, mithilfe dessen der Zuschauer im Kino Sinn konstruiert. Jede Szene ist voller Details, die Bilder häufen sich, die Geräusche und Töne, und im Verlauf der Rezeption entscheidet man selbst, was das alles bedeutet. Man folgt den Handlungsfäden und kombiniert die Einzelheiten, bis sie sich zu einem Ganzen zusammenfügen. So verhält
sich auch Christine.
Gemessen an anderen neueren Spielfilmen ist das Schuß/Gegenschuß-Verfahren in VARIETY mit größter Zurückhaltung eingesetzt. Bei den meisten Dialogen wird kaum geschnitten, und beide Gesprächspartner sind gleichzeitig im Bild. Sollte damit der Eindruck vermieden werden, daß sich der dramatische Konflikt zwischen den Charakteren abspielt, wie es in der herkömmlichen Dramaturgie üblich ist? Und entspringt dies derselben narrativen Absicht wie die vielen Szenen, in denen die Frau überhaupt allein gezeigt wird, teils in einsamen Aktionen, teils in sich selbst und ihre Wahrnehmungen und Erfahrungen versunken?
VARIETY enthält immer noch mehr Schuß/Gegenschuß-Schnitte als alle meine anderen Filme. In EMPTY SUITCASES zum Beispiel ist die Kamera distanzierter und statischer, innerhalb der Szene wird nicht geschnitten, nur zwischen den Szenen. Ich hatte mich für diese Form entschieden und auf eine differenziertere Personenzeichnung verzichtet, um der Identifikation mit den Charakteren entgegenzuwirken und die Zuschauer freizusetzen, sich auf die angesprochenen Probleme einzulassen.
Aber auch in VARIETY kommen – neben einigen sehr lang gehaltenen Einstellungen – nur ganz wenige Schuß/Gegenschuß-Aufnahmen vor (selbst in der Eröffnungsszene mit den beiden Frauen und dem Spiegel). Der Grund für die minimale Verwendung dieser Erzähltechnik ist, daß Christines Beziehung zu anderen Personen distanziert sein soll. Wenn sie ihren Freund trifft, sprechen sie kaum zueinander, jeder hält eine Art Monolog. Bei der Autofahrt mit Louie sitzen beide frontal nebeneinander, ohne sich anzusehen, tauschen nur gelegentlich Seitenblicke aus, und ebenso beim Baseball. Daß Christine zu anderen Menschen Abstand hält, ist auch durch ihre einseitige Telefonkommunikation über den Anrufbeantworter und die Botschaften, die ihre Mutter aufs Tonband spricht, dokumentiert.
Selbst in der Barszene, als sie die anderen Frauen trifft, bleibt sie zurückhaltend (hier hätte ich allerdings mehr positive Interaktion gewünscht, mehr Unterstützung durch die anderen Frauen). Christine ist also ein abgehobener, einzelgängerischer Charakter, und außerdem ist ihre Verfolgung Louies schon der Sache nach ein einsames Unterfangen, das sie nur schwer mit jemand anderem teilen könnte.
Stilistisch hängt meine Entscheidung, so wenig Schuß/Gegenschuß zu verwenden, mit meiner persönlichen Vorliebe für die szenische Komposition zusammen, in der sich das Geschehen allmählich entfalten und abarbeiten soll. Die Handlung, die sich innerhalb der Bildgrenzen entwickelt, steht immer irgendwie in Spannung zum gewählten Ausschnitt. Fenster und Glas, Spiegel, die Farbe Rot und viele andere dienen jeweils dazu, die Handlung zu kommentieren. Die Szene, als Mark und Christine in Chinatown anhalten, um im Auto chinesisch zu essen, besteht aus einer einzigen Einstellung: Einmal, wie schon erwähnt, um ihre unkommunikative Beziehung zu kennzeichnen. Aber zum andern fungiert das Autofenster als eine Art Filmleinwand, vor der sie sitzen und beobachten, was draußen vorgeht, die Passanten, die Lichter, das Leben auf der Straße. Diese „Leinwand“ ist ein Rückverweis auf die anderen Filme; und außerdem beschreibt Christine jetzt selbst einen Film/eine Fantasie. Währenddessen kommen Leute vorbei und die Lichter gehen an und aus, weil sie verdeckt und wieder freigegeben werden.
(Interview: Christine Noll Brinckman, in: Frauen und Film, Nr. 36, Februar 1984, Frankfurt am Main)