Die verlorene Geschichte Afghanistans
2011 war ich zum ersten Mal im Afghanischen Filminstitut (Afghan Films) in Kabul. Die Filme im Archiv dort hatten den Bürgerkrieg überstanden, die Jahre unter den Taliban und die Invasion des Landes durch die Truppen der US-Armee und deren Verbündete. Die Bestände selbst befanden sich in Unordnung und das Filmmaterial war in schlechtem Zustand. Seither habe ich das Filmarchiv immer wieder aufgesucht und gemeinsam mit Afghan Films und anderen Partnern Filme gesichert, neu katalogisiert, digitalisiert und zugänglich gemacht.
WHAT WE LEFT UNFINISHED ist das Ergebnis dieser langen und komplizierten Auseinandersetzung, die gleichermaßen von Zuneigung wie von Frustration geprägt war.
Alles fing mit einem Gerücht an, das mich hellhörig werden ließ: Angeblich befanden sich unvollendete Filme im Archiv. Für mich ist ein nicht zu Ende geführtes Projekt wie ein loser Faden einer Geschichte. Indem ich diesen Faden aufnahm, begann eine fünfjährige Reise – nicht annähernd alle unterwegs gewonnenen Erkenntnisse haben Eingang in den Film gefunden. Im Verlauf des Zusammenführens von Filmfragmenten, aber auch von Menschen, die der Krieg getrennt hatte, wurde mir bewusst, dass die Arbeit an diesem Film einen komplexeren Vorgang widerspiegelte, der zur gleichen Zeit in Afghanistan stattfand: Die konfliktbelasteten, ungeklärten und umstrittenen Ereignisse der kommunistischen Zeit gelangen gerade erst ins öffentliche Bewusstsein und damit in den Fokus der öffentlichen Auseinandersetzung. Doch mit einigen Tatsachen kann man sich leichter auseinandersetzen, wenn sie als Fiktion präsentiert werden.
Leerstellen, Auslassungen, Widersprüche
WHAT WE LEFT UNFINISHED handelt von Spielfilmen, in denen die Grenze zwischen dokumentarischer Form und Fiktion oft verwischt ist: Reale Soldaten stellen fiktive Belagerungen dar, aus Bühnenpistolen werden echte Kugeln abgeschossen, aus inszenierten Begebenheiten entstehen tatsächliche Zwischenfälle. In ähnlicher Weise lotet mein Film den Raum zwischen Film und Geschichte, Ideal und Wirklichkeit, zwischen der Vergangenheit und der Gegenwart Afghanistans aus. Letztlich geht es auch um die nicht erzählten Geschichten, um die Widersprüche und Auslassungen in den Äußerungen, die Menschen, aber auch Nationen über ihre Vergangenheit machen. Auf formaler Ebene betone ich diese Leerstellen, verbinde Archivaufnahmen mit Bildern von heutigen Orten – dabei habe ich verblüffende Entsprechungen zwischen Archivbildern und Tonbandaufzeichnungen von Interviews festgestellt.
Seitdem wir 2012 neunzig afghanische Filme online gestellt haben, habe ich diese Filme häufig vorgeführt und über sie geschrieben. Im Laufe der Vorführungen habe ich immer wieder die Erfahrung gemacht, dass die afghanischen Filme aus der Zeit vor den Kriegen einen tiefen Eindruck beim Publikum hinterlassen. Die Wahrnehmung der verlorenen Geschichte der afghanischen Moderne, der liberalen Gesellschaft, der Linksintellektuellen ermöglicht es dem Publikum, neue Perspektiven auf die afghanische Gegenwart und Zukunft sowie auf die Beziehungen des Landes zum Westen zu entwickeln. Auch mein Film verfügt über dieses Potenzial. Er basiert auf dem umfangreichen Wissen, das ich mir in den letzten Jahren über den afghanischen Film und die afghanische Geschichte aneignen konnte, auf unzähligen Stunden, die ich in afghanischen Archiven verbracht habe, auf endlosen Diskussionen über Ereignisse, über deren genauen Ablauf sich nicht einmal zwei Menschen einigen können, und auf der vertrauten Entfremdung einer zweiten Generation Exilierter, die zugleich die ultimativen politischen Insider sind. (Mariam Ghani)