Wir sind der Ansicht, dass das Konzept eines „erweiterten“ filmischen Möglichkeitsraums, das unserer Sektion Anfang des Jahrtausends ihren Namen gab und seinen Ursprung im „Expanded Cinema“ der 60er-Jahre hat, im Hinblick auf seine Relevanz für die Gegenwart fragwürdig geworden ist. In einer Zeit, in der Bilder das Leben der meisten von uns im wahrsten Sinne des Wortes durchdringen, findet eine „Erweiterung“ und Entgrenzung des Kinos, wenn überhaupt, unter veränderten Vorzeichen statt. Mit den Avantgarden der Vergangenheit mag uns auch heute noch etwa die Zurückweisung system-immanenter Rahmenbedingungen und Verwertungsmechanismen des Kinos verbinden; aber die Gegenwart ist doch insgesamt charakterisiert durch ein verändertes Verhältnis zwischen bewegten Bildern und unserem Leben, unserer Subjektivität.
Das Forum Expanded, könnte man sagen, ist jener Ort des Festivals, der Filmemacher*innen einen Platz bietet, die entweder aus dem Kinosaal hinaus- oder aber in ihn hineindrängen. Die Mehrheit der Künstler*innen, deren Arbeiten wir zeigen, gehört im engeren Sinne keiner dieser beiden Kategorien an, und doch lohnte es sich, dieser Zuspitzung, so schematisch und anachronistisch sie auch erscheinen mag, noch etwas zu folgen – und zwar deshalb, weil sich uns angesichts der Filme einmal mehr die Frage stellt, was der Raum der Kunst, all seiner Unzulänglichkeiten und Prätentionen zum Trotz, für das Kino zu bieten hat. Wir glauben, dass die Kunst nicht lediglich eine Fluchtlinie, sondern vor allem eine Form reflexiver Negation zu bieten hat. Und deshalb lautet das Motto der diesjährigen Ausgabe von Forum Expanded: „Antikino“.
Überraschenderweise ist das kein historisch gesetzter Begriff. Aber er lässt uns unweigerlich an das Verhältnis von Kino und Kunst denken. Man denke an die ikonoklastischen Negationen und Rebellionen des Kinos, die keinen anderen Ort der Zuflucht und Wertschätzung gefunden haben als das moderne Kunstmuseum. Der Begriff erinnert auch daran, dass das Kino während des gesamten 20. Jahrhunderts vor allem dann durch Kritik und Philosophie gewürdigt wurde, wenn es filmische Konventionen, narrative Logiken beziehungsweise die mit diesen einhergehende libidinöse Normierung von sich wies. Nur insofern, als sich das Kino der Verwandlung in einen Spiegelsaal der „synthetischen Identifizierungen“ (Lyotard) widersetzte und von Aspekten des Realen durchdringen ließ, die eine filmische Repräsentation des Lebens untergruben, wurde es nicht als Massenunterhaltung diskutiert, sondern auf Augenhöhe mit jenen anderen Künsten, die sich ebenfalls durch Selbstnegation auszeichneten. Solche Negationen charakterisieren die Kunst der Moderne und fügen Filmen unweigerlich eine reflexive, „entgrenzende“ Dimension hinzu, durch die sich das Kino als epistemologisches, psycho-mimetisches Labor in Stellung bringt.
In unserer heutigen Zeit, in der filmische Konventionen immer ausgeklügelter auf statistische Meridiane und Betrachtungsgewohnheiten abgestimmt werden und das private Selbst sich zunehmend von seiner Vermittlung durch mehr oder weniger unbearbeitete, bewegte Bilder abhängig macht, scheint kaum noch ein künstlerisches Versprechen darin zu liegen, den Spiegelsaal des identifikatorischen Begehrens zu verlassen, indem man die filmische Repräsentation des Lebens in Frage stellt. Ein Kino der Negation, ein Antikino, kann sich in unserer Zeit nicht mehr allein auf das stützen, was die filmische Konvention ausschließt. Dies ist auch der Grund, weswegen es immer weniger Gegensätze und Spannungen zwischen bewegten Bildern im Kino und solchen in Galerien gibt.
Es lohnt sich also womöglich, Antikino weder heroisch noch primär formal oder strukturell zu denken, sondern als kritische Negation der Biopolitik des bewegten Bildes. Diese ist ja in der historischen Ablehnung der „synthetische Identifizierungen“, durch die das Kino erst zum Echoraum libidinöser Ökonomien wird, schon inhärent. Das Kino in seiner historischen Dialektik zeichnet „Leben“ immer mangelhaft auf, kann dem tatsächlichen Überschuss an Leben, das sich in keine Echokammer sperren lässt, nie gerecht werden. Antikino wäre demnach etwas wie ein materialistischer Spiegel, in dem die Langzeiteffekte des technisch reproduzierten, animierten Bildes auf das Leben sich registrieren ließen. In unserem Begriff eines Antikino würde genau dieses Verhältnis, und die immer schon vom Mangel behaftete Mobilisierung und In-Wert-Setzung des Lebens, als solche thematisch.
„Antikino“ soll kein beschreibender Überbegriff für die im Forum Expanded 2019 gezeigten Arbeiten sein. „Antikino“ soll vielmehr auf die historischen Veränderungen Bezug nehmen, denen der Stellenwert des bewegten Bildes unterworfen war und fragen, wie sich dieser Stellenwert in seinem Verhältnis zum Leben gewandelt hat – kulturell, ökonomisch, technologisch, ontologisch. In der Vergangenheit richteten sich „Structural Film“, „Expanded Cinema“ und die konfrontativen Détournements des Kinos gegen die Simplifizierungen filmischer und narrativer Konventionen und gegen die Rolle, die diese bei der Reproduktion sozialer Strukturen spielten. „Expanded Cinema“ war in erster Linie eine antidisziplinäre Grenzüberschreitung, eine Erweiterung des filmischen Möglichkeitsraums, kombiniert mit einer materialistischen Kritik an der Gesellschaft des Spektakels und an einer normativen Psychologie. Die „erweiterte“ Bildkultur, die im Zuge späterer technologischer Innovationen im Zeichen des Digitalen entstand, deutete jedoch auf eine Konsolidierung der biopolitischen Funktion bewegter Bilder hin: Die Funktion des allgegenwärtigen narzisstischen Spiegels spiegelte den postfordistischen Imperativ – eine nicht mehr rein formale Unterwerfung der Arbeitskraft, sondern eine Abhängigkeit, die subjektiven Charakter annimmt, eine Unterwerfung der „lebendigen Arbeit als Lebendes“ (Yann Moulier Boutang, 1998). Das allgegenwärtige, entgrenzte Bewegtbild war Werkzeug für diese Unterwerfung ebenso wie eine Bühne für die Subjektformen, die es produzierte. Hier nahm der Extraktivismus, jene primitive Akkumulation im Bereich der Subjektivität und des Lebens, die unsere digitale Gegenwart heute prägen, ihren Ausgang. Im Zusammenspiel von Digitalisierung und der Intensivierung und Vertiefung kapitalistischer Verwertungszusammenhänge in der Ära des Neoliberalismus entstand eine ideologische Ineinssetzung von Kapital- und der In-Wert-Setzung aller Lebensströme. Inzwischen ist diese Gleichung jedoch auf den Kopf gestellt worden: In unserer heutigen Bildkultur agiert das bewegte Bild nicht mehr als Knotenpunkt affektiver Mobilisierung und In-Wert-Setzung, sondern es steht zunehmend für die desaströse Abwertung und Entbehrlichkeit des Lebens im digitalen Finanzkapitalismus.
Hier nun kommt die Echokammer der Sirenen ins Spiel. Das Bild wirft die Frage auf, wie man in einer Gegenwart, die zur Falle geworden ist, überleben kann und wie man möglicherweise einen Ausweg aus ihr findet. Ein mythologisches Thema – der Gesang der Sirenen und die Odyssee – wird in eine Gegenwart transponiert, die sich auszeichnet durch Erfahrungen von Migration und Vertreibung, zunehmende Entwertung des Lebens sowie affektive Feedbackschleifen beziehungsweise Echokammern. Sirenen symbolisieren gleichermaßen Verlockung und drohende Gefahr. Die mythischen Stimmen der Verführung halten diejenigen, die ihrer gewahr werden, in einer tödlichen Umarmung und verkünden eine bevorstehende Katastrophe. Wir haben diese Stimmen immer wieder vernommen, sie haben in ihrer Dualität über viele der diesjährigen Filmarbeiten und Installationen hinweg miteinander kommuniziert. Wir sind überzeugt, dass unser Publikum sie ebenso hören – und sehen – wird, auch wenn sie ihre Gestalt nach Belieben ändern und sich nicht zu einem einzigem Narrativ verdichten lassen.
So erscheinen sie in einem Film des Karrabing Film Collective als schreiende Meerjungfrauen und erzählen vor dem Hintergrund der kolonialen Intensivierung des Extraktivismus in Australien von einem sterbenden Planeten; sie erscheinen auch in Susana de Sousa Dias’ Fordlandia Malaise als Gespenster des Fordismus im Amazonas-Gebiet sowie in jenem Film, der am deutlichsten auf den homerischen Mythos verweist: The Silence of the Sirens von Diana Vidrascu. Alles in diesem Film ereignet sich an einem Wendepunkt, an einem Punkt der möglichen Umkehr und des Abgrunds zugleich. Der Film macht sich Kafkas Interpretation der Odyssee, in der die Sirenen nicht singen, sondern schweigen, als metaphorische Struktur zu eigen und folgt einer in Paris lebenden Schauspielerin, die ihr Verhältnis zu Martinique, der Insel ihrer Geburt, in Frage zu stellen beginnt. Dieser Film ist kein Echoraum, sondern ein völlig schallisolierter, schalltoter Raum, der zur Allegorie für eine betäubte Gegenwart und beschädigte Beziehungen wird.
Wir hoffen, dass die Arbeiten, die wir zum 14. Forum Expanded eingeladen haben, die Leinwand in eine – bildhaft gesprochen – sorgfältig kalibrierte Membran verwandeln, die so sensibel wie ein Sinnesorgan die Vielstimmigkeit der Sirenen, die Strömungen und Botschaften der Geschichte wahrnimmt. Empfänglich zu sein für diese Strömungen und Botschaften – dies jedenfalls ist unser Eindruck – scheint etwas zu sein, das viele experimentelle Filmemacher*innen heutzutage interessiert, mehr noch als das formale Experiment an sich. Empfänglich zu sein, ohne haltlos abzutreiben.
Eine mythologische Folie kann die kulturellen Werkzeuge schärfen, mit denen wir die Welt zu begreifen versuchen, die Vielstimmigkeit und Vieldeutigkeit von Bildern und Narrativen in Gang setzen oder bereichern. Die List, mit der Odysseus den Sirenen entgeht, lässt sich also womöglich als notwendige und bewusste Zurückweisung in die Gegenwart übertragen –, nämlich in Bezug auf die verführende Kraft der Wunschvorstellung von Heimkehr und Ankunft, fixierter Identität, eindeutigen Bedeutungen, und allumfassender Gewissheiten. Wir schlagen Ihnen vor, die ästhetischen Entscheidungen der diesjährigen Filmemacher*innen als ebensolche Techniken der Zurückweisung einer Verführung zu betrachten. Erst jenseits des Echoraums, in den solche Verführungen uns leiten, wird die Kinoleinwand zu einer Membran, mit der man Segel setzen kann – über die Grenzen einer gemeinschaftlich oder systemisch gesicherten Identität hinweg. Losgelöst von ihrem männlichen Heroismus lehrt uns die Odyssee heute womöglich, dass Migration wahre Erkenntnis bereithält – und dass Identität, durch eine unaufhaltsame, unwiderstehliche Strömung der Moderne, zu einer Echokammer geworden ist.