Thomas Heise ist Autor und Regisseur am Theater, im Hörspiel- und Dokumentarfilmbereich. Seit 2014 ist er Professor für Kunst und Film an der Akademie für bildende Künste Wien. Er war mehrfach im Forum zu Gast, unter anderem mit Neustadt / Stau – Stand der Dinge (2000), Material (2009) und zuletzt mit Die Lage (2012). Claus Löser ist Filmhistoriker, -journalist und Kurator.
Dein Film Heimat ist ein Raum aus Zeit umfasst mehr als 100 Jahre Geschichte, geht dabei von Familiengeschichte aus. Auf welche Weise hast du dich an das Material herangetastet? Gab es ein Familienarchiv?
Nein, es gab kein Archiv. Das hat sich alles Stück für Stück vervollständigt. Schon für meinen Film Vaterland (2002) habe ich Briefe meines Vaters aus dem Arbeitslager Zerbst benutzt.1In der Nähe der Stadt Zerbst (Sachsen-Anhalt) gab es von 1940 bis 1945 einen Militärflughafen und eine Pilotenschule der Deutschen Luftwaffe. Angeschlossen war gegen Ende des Krieges auch ein Zwangsarbeitslager der „Organisation Todt“ für „jüdische Mischlinge ersten Grades“ und „jüdisch Versippte“. Dort war Wolfgang Heise, der Vater des Regisseurs, bis im Mai 1945 interniert. Die hatte ich nach dem Tod meiner Großmutter an mich genommen, faktisch unter der Kommode hervorgezerrt. Da war ich erst 12 oder 13 Jahre alt. Seitdem lagen diese Briefe bei mir. Ich hatte die erst einmal nur weggepackt, ohne sie zu lesen. Das kam alles erst viel später. Ähnlich war es dann 1987, als mein Vater verstarb. Da ergab sich wieder die Frage, was man nun eigentlich mit den ganzen Sachen machen sollte. Meine Mutter wollte wegschmeißen, und sie fing dann auch schon an damit. Andere Teile wollte sie neu sortieren und mit Anmerkungen versehen. Und ich habe ihr damals gesagt: Lass das liegen, das geht dich gar nichts an. Und bitte keine Anmerkungen! Man kann kein Leben mit Anmerkungen versehen. Ich hatte irgendwie im Hinterkopf – ohne jetzt zu pathetisch zu werden – dass man in der Diktatur überwintern muss und dass auch die Sachen aus der Familie überleben müssen.
Lässt sich in etwa einkreisen, wie lange deine Recherche insgesamt lief?
Schwer zu sagen. Denn ich habe ja vorher schon eine Menge gewusst. Den gesamten Briefwechsel aus dem Lager in Zerbst hatte ich schon aufbereitet. Den gab es also schon. Diese frühen Liebesbriefe meiner Großeltern waren schon bei mir, seit meine Oma verstorben war. Die hatte ich gleich übernommen, die gingen gar nicht erst an meine Eltern – sonst wären sie wahrscheinlich verloren gegangen. Aber die waren als Material noch nicht erschlossen, die hatte ich noch nicht mal gelesen. Eigentlich dauerte die Beschäftigung mit dem Thema schon über viele Jahre, das lief faktisch durch, kam immer mal wieder hoch. Aber ich ging den Spuren noch nicht gezielt nach. Erst als dann Rosi [die Mutter von Thomas Heise] starb und dann auch noch Andreas [sein Bruder], also in den Jahren 2014/15, wurde mir klar, dass ich jetzt etwas machen muss. Einiges an Material war bereits verloren gegangen: zum einen durch einen Wassereinbruch im Keller, zum anderen, weil Rosi schon mit dem Wegschmeißen angefangen hatte. Das hatte mit ihren Kontrollbedürfnissen zu tun. Zum Glück ist sie damit gescheitert – weil es einfach zu viel war. An einem bestimmten Punkt war mir klar, dass es keine Chance gibt, das allein zu bewältigen. Dafür brauchte ich einen Mitarbeiter. Das wurde dann ein Absolvent von der Hochschule, der vorher schon Germanistik studiert hatte, also genug Erfahrungen mit Schriftgut und anderen Archivalien mitbrachte. Die Gefahr, sich darin zu verzetteln, ist natürlich riesengroß. Eine wichtige Entscheidung war dann, stur chronologisch vorzugehen. Es gab einzelne Ordner, die waren schon von Rosi unter anderen Aspekten sortiert – die habe ich wieder aufgelöst und in die Chronologie einsortiert. Die Autografen zum Beispiel habe ich nicht als Autografen behandelt, sondern als ganz normale Zeitzeugnisse.
Gab es Momente, in denen du Angst hattest, dass das Material dich beherrschen könnte und nicht umgekehrt?
Nein, niemals. Es handelte sich um eine Entdeckung. Zunächst hatte das alles noch gar nicht so viel mit Recherche zu tun. Das lief erst einmal ziemlich stur ab, ohne Nachdenken: sauber kopieren und ablegen, und das Ganze dann noch einmal auf Festplatte. Diese pure Materialsicherung haben wir über ein Jahr lang betrieben. Angefangen hatte das im Mai 2015. Sehr wichtig wurde mir dabei auch, dass immer wieder banale Details zwischen den bedeutungsschweren Dokumenten auftauchen. Dann werden die Zusammenhänge deutlich, auch die Dinge, die im Hintergrund laufen. Wir sind vorgegangen wie in einem Bergwerk, wir sind schürfen gegangen. Und die gefundenen Scherben haben wir dann collagiert, oder in eine neue Form gebracht.
Das archäologische Verfahren – aus Scherben etwas zusammenzusetzen – wird bei dir also zur ästhetischen Methode?
Ja, denn es handelt sich ja nicht um ein wissenschaftliches Vorgehen, sondern um ein künstlerisches, und das heißt, dass es sprunghaft verläuft und damit mehr Möglichkeiten zulässt. Und dann kann ich darüber fabulieren. Nicht mit dem, was ich benutze als Scherben, sondern mit dem, was daraus folgt.
Du stellst dich ja in mehrfacher Hinsicht deutlich gegen die aktuellen Dokumentarfilm-Konventionen. Auch die Länge ist ja schon eine klare Ansage.
Nein, die Länge ist keine Ansage, sondern ein Ergebnis. Das war so nicht geplant. Mit zwei Stunden habe ich schon gerechnet, aber nicht mit knapp vier.
Gleichzeitig hat man nach den vier Stunden das Gefühl, es könnte noch weitergehen.
Ja, das habe ich inzwischen mehrfach gehört. Es fehlt ja noch ganz viel.
Was ist zum Beispiel mit deiner Mutter? Ihre Geschichte setzt ja erst 1945 ein. Man erfährt fast nichts von ihrem familiären Hintergrund, fragt sich, was vorher kam.
Sie war Jahrgang 1927, war also 1945 noch ganz jung – gerade einmal 18 Jahre alt. Ihre Tagebücher reflektieren diese Zeit sehr gut, finde ich. Sie stammte aus einer sozialdemokratischen Familie, aus Dresden. Es gibt auch von ihrem Vater Rudolf kartonweise Aufzeichnungen und Briefe. Das ist teilweise aber kaum noch zu erschließen, weil mit Bleistift geschrieben, auf vergilbtem Papier. Ein Jahr haben wir daran gesessen, dieses Material zu entziffern. Das geht ja zurück bis zum Ende des 19. Jahrhunderts. Das ist alles sehr interessant, weil das sehr arme Leute waren. Der Rudolf, der Vater meiner Mutter, war bitterarm, er war das dritte uneheliche Kind seiner Mutter, geboren in irgendeinem Kaff bei Göttingen. Er hat dann nach dem Tod seiner Mutter Zieheltern bekommen. Das war sein Glück, dadurch hat er ein bisschen Ausbildung bekommen. Als junger Mann ging er dann auf Wanderschaft, bis in die Schweiz, hat dort den Fritz Brupbacher kennengelernt – den Arzt von Lenin im Exil. Dann traf er auch den Willy Münzenberg. Und der Münzenberg hat ihn dann in der Druckerei der SPD in Dresden untergebracht. Dort hat er sich dann langsam hochgearbeitet. Ursprünglich wollte ich das auch noch erzählen, wir haben auch schon gedreht. Das wurde dann aber alles zu viel.
Es ist auch so schon für die Zuschauer*innen nicht immer ganz einfach, die familiären Zusammenhänge zu begreifen.
Es ist aber auch gar nicht nötig, diesen Zusammenhängen eins zu eins zu folgen. Darum geht es ja gar nicht. Wir hatten zwar kurz überlegt, mit einer Grafik oder mit anderen Lösungen zu arbeiten, das aber sehr schnell wieder verworfen. Schließlich haben wir auf alle zusätzlichen Informationen konsequent verzichtet. Es gibt im ganzen Film nur an einer einzigen Stelle eine Sachinformation: bei diesem Parteiverfahren gegen meinen Vater Mitte der 60er Jahre. Um wirklich begreifbar zu machen, was da im Detail eigentlich passiert ist, hätte ich sonst noch mehr aus diesem furchtbaren Briefverkehr zitieren müssen. Und das hält ja kein Mensch aus. Im Grunde tue ich so, als läge das alles jetzt schon 2000 Jahre zurück. Und man kennt einfach die Zusammenhänge nicht mehr, wie das damals alles war. Man hat nur diese Scherben zur Verfügung, und mit diesen Scherben kann man sich ein Bild machen. Zwischen den Scherben gibt es aber ganz viele Lücken. Und diese Lücken kannst du mit Nachdenken füllen. Und dann stimmt das Bild – oder es stimmt wiederum nicht. Denn du kommst beim Nachdenken auf Dinge, die zwar eigentlich falsch sind, aber dennoch richtig, weil du etwas anderes herausbekommen hast. Und das finde ich interessant.
Exakt lassen sich also weder der zeitliche Beginn der Arbeit noch deren Ende festlegen. Die meisten deiner Filme greifen zudem thematisch und stilistisch ineinander. Das ist überhaupt auch ein schöner Effekt dabei: Je umfassender dein Œuvre wird, umso mehr Überschneidungen gibt es zwischen den einzelnen Kapiteln.
Ja, das stimmt. Das ist mir auch aufgefallen. Es ist ja nicht so, dass man das will oder plant. Das passiert einfach. Die Filme bewegen sich wie in Spiralen. Man weiß gar nicht richtig, ob die Bewegungen vorwärts oder rückwärts verlaufen. Und so ist auch der neue Film selbst gebaut: der läuft ja auch nicht chronologisch ab. Die Reihenfolge spielt eigentlich keine große Rolle – ob die Ereignisse jetzt zehn Jahre früher oder später stattfinden, ist nicht so wichtig.
Dein Film scheint mir insgesamt auch ein Film der Bewegungen zu sein. Es gibt einerseits konkrete Bewegungen, mit den Zugfahrten zum Beispiel. Zum anderen gibt es ortsungebundene Reisen: durch innere Zustände, durch Biografien und durch historische Situationen. Sehr gelungen finde ich die Korrespondenz zwischen diesen verschiedenen Bewegungsformen. Die Aufnahmen aus Wien reduzieren sich auf eine Straßenbahnfahrt, von Innen nach Außen gefilmt. Doch die Schärfe ist auf die beschlagene Scheibe gezogen, die Stadt selbst verbleibt in völliger Unschärfe.
Diese Fahrt in der Straßenbahn beruht auf einer filmischen Erfahrung, die ich in Neustadt (2000) gesammelt habe. Schon damals in Halle habe ich nicht so richtig gewusst, was ich in dieser Stadt eigentlich drehen soll. Und während der Straßenbahnfahrt ergab sich plötzlich ein völlig anderer Raum, durch den ich die Stadt dann doch auf neue Weise erzählen konnte. Wir haben jetzt in Wien wie damals in Halle einfach die längste Linie durch die Stadt ausgewählt und haben diese Aufnahmen gemacht. Natürlich hätten wir auch die Wohnorte der Familie aufnehmen können. Die Häuser stehen ja alle noch – oder sie stehen wieder. In Wien wurde ja alles so wieder aufgebaut, wie es vor dem Krieg ausgesehen hatte.
Dass du jetzt in Wien Professor bist, ist ja erst einmal ein Zufall, oder? Aber doch berührst du ja dort eine wichtige Familienlinie.
Na, das ist doch kein Zufall! (lacht) Das war eine Notwendigkeit. Nein, im Ernst: Ich bin nach Wien gegangen, weil es gut gepasst hat. Das war für mich ein guter Anlass, mit der Recherche anzufangen.
Wie empfindest du die Stadt? Hast du das Gefühl, innerlich mit ihr verbunden zu sein?
Was heißt verbunden?! Na klar, ich bin gern in Wien. Im Grunde war ich ja schon vorher dort. Weil meine Großmutter immer wienerisch gekocht hat ... wenn ich an die ganzen Fressorgien zu Weihnachten denke! Wien war für mich schon immer da, natürlich. Aber erst vor einem Jahr bin ich zum ersten Mal zu einer der Straßen gegangen, in denen die Verwandten gewohnt haben.
Von Wien aus fuhren dann 1941/42 auch die Züge in die Vernichtungslager.
Dazu wurde in Österreich eine vorbildliche Forschungsarbeit geleistet, z.B. am Ludwig Boltzmann Institut. Man kann heute genau sagen, wie viele Leute in welchen Waggons saßen. Wie wenige überlebten. Die Umzüge der Familie in Wien lassen sich zum Beispiel anhand der Unterlagen der Meldeämter ganz genau nachvollziehen. Die mussten ja immerzu umziehen, in immer kleinere Wohnungen. Das wäre auch im Film mit den Schauplätzen darstellbar gewesen – aber das wäre ein ganz anderer Film geworden. Ich habe mich dann entschlossen, dieses Kapitel allein über die Briefe und die Listen zu erzählen. Mich hat daran interessiert, dass das filmisch auch auf diese Weise gelöst werden konnte – nur durch diese Dokumente und durch das Verlesen der Texte, ohne dass man dafür ein einziges weiteres Bild braucht. An dieser Stelle war für mich zunächst auch die Frage wichtig, wie lange man das durchhalten kann. Diese Szene wurde dann immer länger, zuletzt waren es über 20 Minuten. Chris2Chris Wright, Schnittmeister des Films und ich haben dann gemerkt, wie wir beim ersten Sehen der Listen auf der Leinwand begannen, alle Namen und Adressen dieser Deportierten zu lesen, jeden einzelnen, während die Briefe zu hören sind. Dass wahrscheinlich alle Zuschauer*innen das ganz unwillkürlich genauso tun, bis die Listen im Schwarzen verschwinden. Und im Schwarz beginnt dieser Schlager: „Schau nicht hin, schau nicht her, schau nur gradeaus ...3Gesungen von Marika Rökk, aus dem Spielfilm Die Frau meiner Träume, Regie: Georg Jacoby (Deutschland 1944)
Mehrfach tauchen in deinem Film Bahnhöfe auf.
Die ursprüngliche Idee war, überhaupt nur mit Bahnhöfen zu arbeiten; in Berlin am Ostkreuz zum Beispiel. Für Wien hieß das, am Praterstern zu drehen, in dessen Nähe der später abgerissene, berühmte Nordbahnhof gestanden hatte. Hier kamen Ende des 19. Jahrhunderts viele Juden aus Galizien und der Bukowina an, von hier aus flohen sie 1938 und von hier wurden ab 1943 die meisten der jüdischen Menschen Richtung Osten deportiert, um sie zu ermorden. Diese Orte habe ich mir angeschaut. Aber bald habe ich festgestellt, dass man „die Eisenbahn“ eigentlich nicht mehr erzählen kann.
Weil das metaphorisch überbesetzt ist? Man denkt ja automatisch an die Deportationen ...
Nein, nicht weil es überbesetzt ist, sondern weil inzwischen die Sinnlichkeit fehlt. Die Schienenstöße gibt es nicht mehr, den Dampf gibt es nicht mehr. Alles, was sinnliche Erfahrung wäre, ist verschwunden. Alles summt nur noch.
Hast du deshalb auch die gegenwärtigen Szenen fast durchweg in Schwarz-Weiß gedreht?
Alle Dokumente sind farbig, die anderen Aufnahmen sind in Schwarz-Weiß. Ich liebe Schwarz-Weiß. Es schafft klare Bilder.
Im letzten Drittel gibt es eine lange Szene aus Schwarz-Weiß-Fotos mit Originalton deines Vaters und Heiner Müllers. Das ist der einzige Originalton, was Sprache betrifft in diesem Film. Alle anderen Texte sprichst du. Es geht um Brecht. Kannst du dazu noch etwas sagen?
Die Fotos stammen von Grischa Meyer, die Tonaufnahmen habe ich gemacht, in Heiner Müllers Wohnung, Erich-Kurz-Straße 9 am Tierpark. Müller ist ja nicht zufällig im Film. Das hat mit mir zu tun – weil ich irgendwann mal festgestellt habe, dass ich mit Müller viel mehr redete als mit meinen Eltern. Aber es geht hier nicht um private Geschichte. Der Film erzählt letzten Endes, auf welche Weise sich Biografien zur Geschichte verhalten. Sebastian Haffner meinte einmal, dass, wer Geschichte verstehen will, Biografien lesen muss, vor allem auch die der „kleinen Leute“. Geschichte schlägt manchmal zu, dass kein Stein auf dem anderen bleibt. Für andere scheint sie völlig irrelevant.
Und Geschichtsschreibung geht fast immer von der Herrscherperspektive aus.
Genau davon handelt das Gespräch zwischen Wolfgang [sein Vater] und Müller. Und genau das hat wiederum mit der gegenwärtigen Zeit zu tun und deswegen gibt es gegen Ende auch den Text von Müller von 1992. „Eine Glosse zum deutschen Augenblick.“ Er schreibt darin von Links und Rechts, vom Deutschsein und vom Kampf um Schwimmwesten und vollen „Rettungsbooten, von denen niemand weiß, wo sie noch landen können, außer an kannibalischen Küsten.“ Und dass man mit der Frage, wie man das seinem Kind erklärt, allein ist „und vielleicht ist diese Einsamkeit eine Hoffnung“. Aber dann ist der Film immer noch nicht zu Ende.
Das Gespräch führte Claus Löser am 9. Januar 2019 in Berlin.