In diesem Jahr berufen sich einige Filme im Forumsprogramm auf Literatur, so auch DIE KINDER DER TOTEN von Kelly Copper und Pavol Liska, A portuguesa von Rita Azevedo Gomes und So Pretty von Jessie Jeffrey Dunn Rovinelli.
von Elena Meilicke
In diesem Jahr berufen sich einige Filme im Forumsprogramm auf Literatur, so auch DIE KINDER DER TOTEN von Kelly Copper und Pavol Liska, A portuguesa von Rita Azevedo Gomes und So Pretty von Jessie Jeffrey Dunn Rovinelli.
Literaturverfilmungen sind, ähnlich wie Biopics oder Remakes, ein Filmgenre, das nicht den besten Ruf genießt. Man denkt sogleich an Klassikeradaptionen im Deutschunterricht, pädagogisch wertvoll, leider steif, voll gestelzter Dialoge und unbeholfener Mise en Scène. Von cinephiler Seite her hat sich die Literaturverfilmung, deren Qualität lange Zeit nach größtmöglicher Werktreue bemessen wurde, immer wieder den Vorwurf eingehandelt, „unfilmisch“ zu sein, hinter den Möglichkeiten des Kinos, des wahren, zurückzubleiben.
Fair ist eine grundsätzliche Skepsis gegenüber Literaturverfilmungen jedoch nicht. So besteht zum einen ein Großteil der Filmgeschichte, auch der cinephil kanonisierten, aus Literaturadaptionen; Hitchcocks The Birds (USA 1963), der auf einer Kurzgeschichte von Daphne du Maurier basiert, wäre ein Beispiel. Und außerdem waren viele der interessantesten und formal innovativsten Filmproduktionen der letzten Zeit ausgerechnet Literaturadaptionen: Transit (D 2018) von Christian Petzold etwa, der auf einem Anna-Seghers-Roman von 1944 beruht, oder Jill Soloways für Amazon Studios gedrehte Serie I Love Dick (USA 2017), der das gleichnamige feministische Kultbuch von Chris Kraus adaptiert – beides Werke, die erstaunliche Mittel und Wege finden, ihre literarischen Vorlagen ins Filmische zu übersetzen, sie zu aktualisieren und interpretieren und dabei Sprache und Bild, Erzählen und Zeigen produktiv aufeinandertreffen zu lassen.
Im Forum sind in diesem Jahr gleich mehrere Filme zu sehen, die explizit als Adaptionen literarischer Vorlagen ausgewiesen sind und sich dabei nicht um Werktreue scheren, sondern Verfilmung als dynamisches, transtextuelles Verhältnis denken. Sie nehmen frei Verschiebungen vor, um mittels Texten von gestern und vorgestern über Probleme von heute und morgen nachdenken zu können, und erfinden mit großem Einfallsreichtum filmische Verfahren, um sich zur Literarizität ihrer Vorlagen ins Verhältnis und die Differenzen zwischen Film und Literatur ins Bild zu setzen. Adaption ist hier immer auch Hommage: Elfriede Jelinek, Ronald M. Schernikau und Robert Musil heißen drei der verfilmten Autor*innen, die alle der deutschsprachigen Literaturdes 20. Jahrhunderts zuzurechnen sind, während ihre Adaptor*innen Englisch sprechen oder Portugiesisch: A portuguesa von Rita Azevedo Gomes, Die Kinder der Toten von Kelly Copper und Pavol Liska und So Pretty von Jessie Jeffrey Dunn Rovinelli heißen die Filme.
Schon 1952 hat der französische Filmkritiker und -theoretiker André Bazin einen Essay veröffentlicht, in dem er die Literaturverfilmung gegen die Verfechter eines „reinen Kinos“ verteidigte, welche dieses zwanghaft gegen die Wortkünste Literatur und Theater abgrenzen wollten: „Für ein unreines Kino. Plädoyer für die Literaturverfilmung“ heißt Bazins Text, und „Für ein unreines Kino“ wäre auch eine gute Überschrift für die drei Literaturadaptionen, die das Forum zeigt. Denn auf die eine oder andere Weise affirmieren sie alle die fröhliche Vermischung verschiedener Künste, das Neben-, In- und Gegeneinander von Film, Literatur, Theater, Performance, Musik und bildender Kunst. Sie begreifen das Kino als Form und Medium, welches mit offenen Armen und weitem Herzen Heterogenes und Disparates, unterschiedliche Artikulationsweisen, Zeichensysteme und Repräsentationsmodi in sich vereinen kann.
„Unrein“ sind diese Literaturadaptionen auch in dem Sinne, dass sie sich inhaltlich und politisch Reinheitsgeboten jeder Art widersetzen und gegen essentialistische Festschreibungen von Geschlecht, nationaler Identität oder Menschsein eintreten. Es handelt sich um drei Werke, in denen nicht nur Film und Literatur ein Verhältnis eingehen, sondern auch sonst wilde Mischungen und Figuren des Dazwischen das Sagen haben: Untote und Queers treten in ihnen auf, auch ein Wolf und eine Katze, die (vielleicht, vielleicht nicht) Mensch geworden sind.
Von Letzterem erzählt A portuguesa, dessen Handlung in Norditalien, irgendwann im Mittelalter, angesiedelt ist. Es geht um ein Ehepaar, das sich fremd ist; während der Mann, Sprössling eines alten deutschen Rittergeschlechts, über Jahre hinweg im Krieg kämpft, lebt seine schöne Frau, eine Portugiesin, in einem unwirtlichen Schloss allein vor sich hin. Nichts rührt sich, Moos überzieht die steinernen Mauern, ein Hauch von Dornröschen liegt in der Luft.
Der Film beruht auf einer wenig bekannten Musil-Novelle, „Die Portugiesin“ (1924), und kommt auf den ersten Blick als recht herkömmliche Literaturverfilmung daher. Gomes behält das Grundgerüst der Handlung – Zeit, Ort und Figuren – bei und setzt die Novelle opulent ins Bild: mit exquisiten, sich üppig bauschenden Kostümen in abgestimmten Farbnuancen, mit malerischen Landschaftsaufnahmen und einem sorgfältigen Setdesign: ein Augenschmaus, gefilmt vom mittlerweile 80-jährigen Kameramann Acácio de Almeida.
Auf den zweiten Blick aber erweist sich die märchenhaft schöne Oberfläche von A portuguesa als brüchig: Da wäre die Chansonnière Ingrid Caven, die zu Beginn und Ende des Films, auch zwischen den Szenen als eine Art Bänkelsängerin auftritt, die die Handlung kommentiert; sie singt im Gegensatz zu den portugiesisch sprechenden Darsteller*innen auf Deutsch und Französisch, wiegt sich theatralisch hin und her, gurrend und schnurrend. Dabei steht sie manchmal im Hintergrund, manchmal direkt zwischen und neben den Figuren des Films und gehört doch einer anderen diegetischen Ebene als diese an; ihre Anwesenheit verwandelt die Filmbilder in heterogen zusammengesetzte, deren Bruchlinien vielleicht nicht direkt sichtbar, aber doch auf jeden Fall spürbar werden.
Eine weitere Inszenierungsstrategie von Azevedo Gomes hybridisiert die Bilder ihrer Literaturverfilmung, macht sie bei aller Schönheit sperrig und unterbricht den Erzählfluss. Oft arrangiert sie die Portugiesin und ihre Zofen sitzend zu fast unbewegten Gruppenporträts, umschmeichelt von Chiaroscuro-Licht, aufgenommen von einer statischen Kamera in langen, ungeschnittenen Einstellungen, die an frühneuzeitliche Gemälde erinnern. Tableau vivant nennt man die Nachstellung von Werken der bildenden Kunst durch lebende Menschen; erfunden im 17., 18. Jahrhundert als erbaulicher Zeitvertreib ist es eine Kunstform, die spannungsreich zwischen Malerei, Theater und Skulptur angesiedelt ist und im Film erst recht erratische Wirkung entfaltet: Das Tableau vivant, schreibt der französische Filmkritiker Pascal Bonitzer, ist ein „monstre composite, un sphinx“, das die konstitutive Hybridität des Mediums Film hervorkehrt. Indem A portuguesa immer wieder zum Tableau vivant gerinnt, entwirft Azevedo Gomes’ Adaption sich als paradoxales oder eben „unreines“ Kino – als Kino, in dem die bewegten Bilder unbeweglich werden und sich anderen Kunstformen öffnen.
Gleichzeitig steht das Tableau vivant für eine Verlangsamung, die A portuguesa in ein spannungsreiches Verhältnis zur Vorlage setzt. Denn während die Novelle als kleine Form durch erzählerische Knappheit ausgezeichnet und aufs Ereignishafte, auf die „unerhörte Begebenheit“ (Goethe) hin orientiert ist, hat Azevedo Gomes einen Film von über zwei Stunden Spiellänge gedreht, in dem wenig geschieht; Dauer und das langsame Vergehen der Zeit werden erfahrbar in diesem „Cinema of stasis“ (Justin Remes), das durchaus auch in einer spezifisch portugiesischen Kinotradition zu verorten ist.
Eine Adaption ganz anderer Art und Tonlage bietet Die Kinder der Toten. Die beiden Theaterleute Kelly Copper und Pavol Liska vom New Yorker Performance-Kollektiv Nature Theater of Oklahoma – ein Name, der seinerseits literarischer Herkunft ist und auf Kafkas „Amerika“-Roman zurückgeht – haben Elfriede Jelineks gleichnamigen Zombie-Roman von 1995 auf Super-8-Material verfilmt: halb Stummfilmdrama, halb Amateur-Urlaubsfilm, mit Laiendarsteller*innen, schrillen Perücken und grellem Make-Up.
Es handelt sich dabei um ein in mehrfacher Hinsicht „unmögliches“ Projekt: Wie soll man Jelineks Opus Magnum verfilmen, ein sprachgewaltiges, figurenreiches, komplex mäanderndes Werk von fast 700 Seiten, eine ebenso wütende wie witzig-kalauernde Abrechnung mit österreichischer Geschichtsvergessenheit und nationalen Mythen? Ein Buch, das darüber hinaus nur wenige wirklich gelesen haben, die Regisseur*innen erst recht nicht, weil es bislang keine englische Übersetzung gab; die soll erst 2019 erscheinen. Copper und Liska ließen sich das Buch kurzerhand parallel zu den Dreharbeiten mündlich ins Englische übertragen – eine Arbeitsweise, die eine Adaption herkömmlichen Sinns von vornherein verhinderte. Die hatten die Theaterleute aber ohnehin nicht im Sinn: „Wir wissen ganz genau, dass wir, zwei Amerikaner*innen mit einem Outsiderblick auf Österreich, seine Kultur und Politik, die absolut falsche Wahl für eine ‚gute’ Adaption von ‚Die Kinder der Toten‘ sind.“ (Diagonale Katalog, S. 248).
Diese absolut falsche Wahl führt zu einer Verfilmung, die vieles goldrichtig macht. So mag Coppers und Liskas Entscheidung, den literarischen Text als Stummfilm zu adaptieren, erst irritieren, erscheint dann aber sehr plausibel: Denn über sein Verfahren, Dialoge als Zwischentitel zu inszenieren, ist der stumme Film dem geschriebenen Wort, der Literatur ja viel näher als der Tonfilm. Außerdem kalauern die (englischen) Zwischentitel von Copper/Liska in bester Jelinek’scher Manier Text vor sich hin, immer auf der Suche nach Sprachspielen und neuen Pointen, die das Englische bereithält. Ein Beispiel wäre die Wortähnlichkeit zwischen „Styrian“ (steirisch) und „Syrian“ (syrisch): in Coppers und Liskas Adaption verirrt sich eine Gruppe syrischer Migrant*innen in den steiermärkischen Alpengasthof, was so natürlich nicht in Jelineks Roman steht, aber einen interessanten Gegenwartsbezug setzt.
In gewisser Weise ist Die Kinder der Toten nur das Nebenprodukt eines groß angelegten Performanceprojekts, das das Nature Theater of Oklahoma anlässlich des Steirischen Herbstes 2017 aufgeführt hat: Da gab es an Jelineks Kindheitsorten in der Obersteiermark Lesungen von „Die Kinder der Toten“ („Jelinek in 144 Stunden als kollektives Leseereignis“), geführte Touren zu Original-Schauplätzen des Buches („Lust auf eine Jelinek-Reise?“) und eben die Dreharbeiten zwecks
Romanverfilmung, zu denen das gesamte Festivalpublikum eingeladen war: eine vielgestaltige soziale Skulptur. Aber auch wenn Die Kinder der Toten als Teil eines multimedial organisierten Performance-Zusammenhangs entstanden ist, entwickelt der Film doch auch einen medienreflexiven Diskurs und setzt sich mit der Frage auseinander, welche Rolle das Kino spielt in Bezug auf die von Jelineks Roman verhandelten Fragen von Geschichtsklitterung und Vergangenheitsverdrängung.
Die reflexive Wendung zum Kino liegt nahe, denn anders als etwa Musils Novelle ist Jelineks geschichtskritischer Untoten-Roman eine literarische Vorlage, die ihrerseits stark vom Kino beeinflusst ist, vom Zombiefilm etwa. Jelineks Lieblingsfilm ist bekanntermaßen Carnival of Souls (USA 1962) von Herk Harvey, in dem eine junge Frau nach einem Autounfall somnambul durch die Gegend irrt und sich wundert, dass niemand sie zur Kenntnis nimmt; am Ende wird klar, dass sie die ganze Zeit tot war. Die Kinder der Toten arbeitet die Bezüge zwischen Jelineks Roman und dem Kino noch mal stärker heraus und erweist sich letztlich nicht nur als Romanverfilmung, sondern auch als Remake von Carnival of Souls: ein „Styrian Carnival of the Dead“, wie es in einem Zwischentitel heißt. Schauplätze und Motive ähneln sich (der Autounfall zu Beginn, Szenen in einer Kirche, tanzende Untote); auch die improvisierte Ausstattung vonDie Kinder der Toten – Palatschinken verwandeln Gesichter in geisterhafte Fratzen – ist Hommage an die bescheidenen „production values“ des Hollywood-B-Movies.
„Von rührender Schlichtheit“ sei Carnival of Souls, schreibt Jelinek in einem kurzen, aber prägnanten Essay, den sie ihrem Lieblingsfilm gewidmet hat. Für Copper und Liska ist dieser Essay darüber hinaus wichtig, weil er die Blaupause für den gesamten mittleren Teil von Die Kinder der Toten liefert: Anders als in Jelineks Roman entsteigen die Toten und Untoten hier nicht dem Erdreich, sondern einem Kinosaal. In einer „Cine-séance“ betitelten Szene sieht man lauter schwarz gekleidete, wohlanständige Österreicher*innen vor einer Leinwand sitzen, sie schauen sich schwarzweiße Home Movies aus längst vergangenen Zeiten an, deren Ikonografie Heimatfilmen und Bergsteigerschnulzen ähnelt. Beim Anblick der verstorbenen Väter, Brüder, Söhne bricht das Publikum in tränenreiches, sentimentales Wehklagen aus, bis zum hysterischen Kollaps. Da klafft plötzlich ein brennendes Flammenloch in der Leinwand und zerfetzte Zombies bahnen sich ihren Weg hindurch: diesmal keine sauberen Väter, Brüder und Söhne im adretten Loden-Outfit, sondern grässliche Gestalten mit Hakenkreuzbinden und Davidsternen an der Brust.
Copper und Liska entwerfen in dieser „Cine-séance“ das Kino als Ort der Begegnung mit den Toten, genauso wie Jelineks im Essay formulierte „hantologische [...] Überlegungen zur Filmschau“1Matthias Wittmann: MnemoCine, S. 271 das tun: „Film ist überhaupt: Gespenstersehen [...]. Der Zelluloidraum, ein technischer Raum, wird zu einem Abstraktum, in welchem die Toten mehr walten als die Lebendigen [...], denn für die Dauer des Filmstreifens leben sie ja. [...] [D]aß wir uns im Kino versammeln, begründet einen Ort, wo sie alle beieinander sein können, die Lebenden wie die Toten, die aber alle aus nichts als Licht bestehen“, schreibt Jelinek. Copper und Liska nutzen Jelineks Filmessay also als poetologische Leitplanke ihrer Romanadaption, anders gesagt: Sie setzen Jelineks knapp und bündig in Essayform formulierte Filmtheorie in filmische Praxis um.
Aber sie gehen auch über Jelineks Überlegungen hinaus, entwickeln eine eigenständige Kritik des Kinos als Medium gefühlsduseliger Affekt(selbst)manipulation und Instrument erinnerungspolitischer Verdrängung. Denn wenn das österreichische Kinopublikum in der „Cine-séance“ seiner Toten gedenkt und tränenreich um sie trauert, so gelingt das nur um den Preis einer Verdrängung der eigenen Schuld und Geschichte. Die Leinwand ist hier Schauplatz von screen memories, in der ganzen Doppeldeutigkeit, die dieser Begriff mit sich führt. Denn screen memory, das verweist nicht nur auf die Erinnerungsfunktion des Kinos, sondern ist auch die englische Übersetzung des Freud’schen Begriffs „Deckerinnerung“ – eine Erinnerung, die verdeckt, verdrängt, zur Seite schiebt und überlagert: Deckerinnern ist eine „Form des Vergessens.“2ebenda, S. 354
Genauso funktioniert die Filmprojektion in der „Cine-séance“, wenn der lieben Toten gedacht wird, aber lieber nicht derer mit Davidstern oder Hakenkreuz, die die eigene Schuld ins Gedächtnis rufen. Doch im Zombiefilm kehrt das Verdrängte zurück. In ihrem Essay entwirft Jelinek das Bild von der „Flamme eines angeriebenen Zündholzes, die ans Zelluloid gehalten wird und bewirkt, daß [...] die Toten aus dem vorgegebenem Raum in größter Lebendigkeit herausfallen wie in einem Rubens’schen Engelssturz“ – Copper und Liska haben das in Szene gesetzt, als Leinwand, die in Flammen aufgeht und den Blick freigibt auf die anderen Toten.
Die Kinder der Toten adaptiert also Literatur, die ihrerseits vom Kino beeinflusst ist, und macht damit klar, dass die Beziehung zwischen Verfilmung und Verfilmtem nicht als Einbahnstraße, als Verhältnis säuberlich zu trennender Vor- und Nachrangigkeit zu denken ist, sondern eher als transtextuelles und -mediales Spiel. Ähnliches gilt für So Pretty (USA, Frankreich 2018) von Jessie Jeffrey Dunn Rovinelli, der sich auf einen Prosatext von Ronald M. Schernikau aus dem Jahr 1982 bezieht: „So schön“.
Schernikaus Text trägt den interessanten Untertitel bzw. Gattungsnamen: „Ein utopischer Film“ und erprobt tatsächlich filmische Schreibweisen. In 48 kurzen Szenen erzählt er in einfachen, manchmal flapsigen Sätzen und konsequenter Kleinschreibung von vier schwulen jungen Männern im Westberlin der 80er, die sich in wechselnden Paarkonstellationen ver- und entlieben: „dieser film erzählt von vier jungen menschen, die versuchen, ihre liebe zu organisieren.“ Es gibt Rückblenden und Montagesequenzen, und immer bleibt der Text den Figuren äußerlich, beschreibt nur das, was zu sehen ist, ohne jede psychologisierende Innenschau: „tonio trifft franz. franz geht die treppe hoch, tonio geht sie runter. tonio dreht sich nach franz um, franz lacht und bleibt stehn.“
Die Idee, aus Schernikaus „utopischem Film“ einen tatsächlichen zu machen, die ohnehin filmischen Beschreibungen einfach in Bilder zu überführen, liegt also nahe – aber ganz so einfach macht es sich So Pretty nicht. Vielmehr führt die Verfilmung ihre Vorlage zunächst ganz konkret und materiell als Buch-Ding ein; sie zeigt ein Liebespaar im Bett liegend, langhaarig, langbeinig, porzellanweiße Haut, das sich gegenseitig aus dem Schernikau-Band vorliest: schwarzer Leineneinband, rosafarbener Buchtitel.
Die Szene ist eine selbstreflexive Geste, mit der Rovinellis Verfilmung ihre literarische Herkunft explizit macht, im gleichen Atemzug aber auch eine Differenz markiert, ja eine Mise en Abyme produziert (kompliziertes Ding, eine Art Bild im Bild im Bild...). Verstärkt wird die Spannung dadurch, wie die Film- sich mit den Buchfiguren (ent-)identifizieren: „Ich bin kein Tonio, ich bin eine Tonia“, sagt eine auf Deutsch mit amerikanischem Akzent und fragt: „Bist du mein Franz?“ – „Das kann ich sein, wenn du willst“, antwortet der andere. Film und Vorlage rücken damit in ein schwer zu beschreibendes, konsequent in der Schwebe gehaltenes Verhältnis zwischen Identität und Nicht-Identität oder auch schlicht: zwischen Fiktion und Dokumentation. Vielleicht schauen wir ja einfach ein paar Amerikaner*innen dabei zu, wie sie Schernikau lesen.
So oder so stellt So Pretty das Konzept der Adaption radikal in Frage und scheint eine neue Form der Literaturverfilmung zu erfinden. Während die „Adaption“ (von lat. „ad“ = „zu, an, bei“) Nähe, Ähnlichkeit und Anpassung impliziert, nimmt Rovinellis Film gegenüber seiner Vorlage eine Reihe von radikalen Übersetzungen, Übertragungen und Überschreitungen vor, die So Pretty eher als Translation, Transposition oder Transfiguration bestimmbar machen (von lat. „trans“ = „über, über – hinaus, jenseits“). Der Schauplatz wird von Westberlin nach New York City verlegt und von den frühen 1980ern in die Gegenwart. Immer wieder wird der Abstand zwischen dem Deutschen und dem Englischen vermessen, werden Schernikau-Passagen auf Deutsch deklamiert und mögliche Übersetzungsvarianten diskutiert: Lässt sich das deutsche Wort „Zweisamkeit“ als „coupledom“ oder doch lieber als „togetherness“ übersetzen?
Nicht zuletzt geht es natürlich auch um die Übertragung von Schernikaus utopischem Beziehungsfilm im Kontext der Schwulenbewegung hin zu einem queeren Aktivismus von heute, der binäre Geschlechtergrenzen und -identitäten in noch einmal anderer Weise zu destabilisieren sucht. Für Jessie Jeffrey Dunn Rovinelli, die sich selbst als transfeminine Person bezeichnet, ist So Pretty ein „trans film“, weil er ganz selbstverständlich von transsexuellen Menschen erzählt, transsexuelle Darsteller*innen auftreten lässt, ihre Körper und ihre Schönheit feiert. So Pretty erfindet damit nicht nur eine Poetik, sondern auch eine Ästhetik des „Trans“ – eine Ästhetik, die sich nicht zuletzt in der Schönheit der filmischen Oberflächen äußert. Denn so vertrackt die Translationen und -positionen von So Pretty sich hier vielleicht lesen lassen, so herrlich – so schön! – sind sie auf der Leinwand anzuschauen: als harmonische Kompositionen von Körpern, Licht, Dekor und Farben, eingefangen von sachte schweifenden Kamerafahrten, die über Mensch und Möbel gleichermaßen zärtlich hinweggleiten. So Pretty ist auch ein Film der Interieurs, eine Meditation über Häuslichkeit – wie zusammen leben.
Elena Meilicke ist Kultur- und Medienwissenschaftlerin und hat zu Paranoia als Medienpathologie promoviert. Als Filmkritikerin schreibt sie u.a. für die Zeitschriften „Merkur“ und „Cargo“. Sie lebt und arbeitet in Wien und Berlin.