Interview mit Clemens von Wedemeyer
Helmuts Caune: Wie lange interessierst du dich schon für das Thema einer „Bildsprache der Massen“?
Clemens von Wedemeyer: 1998 hatte ich als Student einen sehr einfaches Video namens MASS gemacht, für das ich Found-Footage aus den 1920er-Jahren verwendete. Im Video überblende ich verschiedene Filmsequenzen, die Demonstrationen und Massenaufläufe zeigen – und zwar so oft, bis sie schließlich eine graue Fläche ergeben. Ich einfach immer mehr und mehr Bilder einzelner Menschen hinzu. Über die Dauer des dreiminütigen Videos kehrt das Bild schließlich zur Masse zurück. Die Inspiration dafür – ebenso wie für andere Arbeiten – stammt von Elias Canettis Buch „Masse und Macht“. Kennst du es?
HC: Ja, ich kenne es.
CvW: Im Kontext einer neuen Arbeit beschäftige ich mich momentan wieder damit.
HC: Aber du hattest es schon damals in den 1990er-Jahren gelesen?
CvW: Genau, ich hatte es damals gelesen und es wurde für mich zu einem ziemlich wichtigen Bezugspunkt.
HC: Inwiefern? Kannst du mir drei oder vier Punkte oder Thesen aus diesem Buch nennen, die dich inspiriert haben?
CvW: Jetzt, da das Buch noch einmal gelesen habe, ist mir Canettis subjektive Sicht auf die Dinge sehr viel klarer. Ich kann sie in Relation zu anderen Autor*innen setzen, die über Massenpsychologie publiziert haben. Damals aber nahm ich seine Behauptungen für bare Münze. Canetti legt Wert auf eine Form der Trennung: Es gibt das Individuum und es gibt die Masse. In letzterer ist das Individuum im Sinne der Forschung nicht länger relevant. Eine Gruppe wird zu einer Einheit, und Canetti stellt ihre verschiedenen Typen dar, beschreibt wie sie wachsen, wie sie sich verändern und auch wieder auflösen. Canetti setzt sich mit dem 20. Jahrhundert auseinander, insbesondere mit der Situation im Deutschland der Weimarer Republik und unter dem Nationalsozialismus – das ist die Zeit, die er selbst mitbekommen hat.
Sein Buch erschien 1960. Mich hat nun interessiert: Was ist danach passiert? Wie steht es um das Bild der Masse? Und wie unterscheidet sich unsere heutige Situation von damals? Was ist besonders für heute? Mein Beitrag zur Biennale [Riga Biennale, auf der TRANSFORMATION SCENARIO im Sommer 2018 gezeigt wurde, Anm. d. R.] versucht, sich spekulativ dem Prinzip einer digital produzierten Masse zu nähern.
HC: Richtig. Aber du hast gesagt, du bist zu diesem Thema zurückgekehrt. Du hattest dich in den 1990er-Jahren damit beschäftigt, hast dich dann aber anderem zugewandt, indigenen Menschen etwa oder einem Thema wie Isolation, beispielsweise in deinem Projekt THE FOURTH WALL (2009). Und jetzt bist du wieder beim Thema der Masse angelangt. Warum? Haben dich die jüngsten Veränderungen in der politischen Landschaft dazu bewegt?
CvW: Für mich widerspricht sich das nicht. Gruppendynamiken und Medien haben mich schon immer interessiert. Im Grunde lässt sich von der Anthropologie bis zur digitalen Revolution eine Linie zeichnen. Was Elias Canetti als „unsichtbare Massen“ beschreibt, können in bestimmten Kulturen Geister sein und bei uns eben Big Data. Beides kann Paranoia auslösen.
HC: Insofern, als dass diese Phänomene auf eine Art Einfluss auf uns haben?
CvW: Genau. Viele Leute haben heute Angst vor Daten.
HC: Nicht gerade unbegründet, findest du nicht?
CvW: Mmh. Es ist ziemlich schwer, sich ein genaueres Bild davon zu machen, was da passiert.
HC: Ich bin jetzt niemand, der die Webcam auf seinem Laptop abklebt. Aber auch ich finde es extrem schwer zu verstehen, was da gerade passiert.
CvW: Und selbst wenn man eine Idee davon hat, ist es nach wie vor schwierig, ein Bild dafür zu finden oder zu produzieren.
HC: Du meinst, die eigentliche Schwierigkeit besteht darin, dass wir nicht wissen, wie wir uns Daten vorstellen oder wie wir sie visualisieren sollen? Wie wir über sie nachdenken sollen? Dass wir kein kohärentes Bild für sie haben – zumindest nicht in unserer Vorstellung.
CvW: Ja, genau. Bilder formen sich abhängig vom kulturellen Hintergrund einer jeden Person oder werden von einer vorherrschenden Ästhetik bestimmt, aber zugleich ... Also mein Hintergrund ist folgender: Ich interessiere mich schon lange für Kino und Film, und das Kino ist ein modernes Bilderlabor. Im Kern versucht das Kino seit seinen Anfängen das Leben zu simulieren, ja, es versucht sogar Bilder zu produzieren, die „bigger than life“ sind. Mir ging es also um folgendes: Wenn das so ist, dann lass uns doch mal sehen, welche Möglichkeiten das Kino hat, um Daten zu visualisieren!
HC: Und was hast du herausgefunden?
CvW: Die Firma Weta zum Beispiel, die die digitalen Komparsen bei HERR DER RINGE geschaffen hat, hat für ihre Massen-Animationen einen Oscar bekommen. Sie hat autonome Agent*innen geschaffen – digitale Kompars*innen, die im Hintergrund agieren und eine gewisse Freiheit besitzen. Daten werden hier insofern zum Leben erweckt, als dass sie einen Körper bekommen und eine Form automatisierten sozialen Verhaltens.
HC: Eine Art einfache Intelligenz?
CvW: Ja. Und Wahlmöglichkeiten, sodass sie sich entsprechend ihres Umfeldes verhalten können.
HC: War Weta die erste Firma, die so etwas gemacht hat?
CvW: Soweit ich weiß, ist dieses Prinzip zuerst für Computerspiele entwickelt worden.
HC: Aber erst Weta hat es auf das Kino angewendet?
CvW: Ich denke ja. So ein Ansatz macht die Sache einfacher – du kann das Programmieren von Individuen überspringen und stattdessen einfach zugucken, wie das Verhalten deiner Automaten [Maschinen] von deren Beziehungen untereinander bestimmt wird. Im Hintergrund eines Films dürfen natürlich auch mal Fehler passieren. Manchmal verhalten sich diese digitalen Statist*innen schon sehr seltsam, aber das passt zu Armeen komischer Figuren wie den Orks ganz gut.
Irgendwann aber wanderte dieses Verfahren aus dem Bereich der Fiktion in andere Felder hinüber. Ähnliche Algorithmen werden heute beispielsweise in der Soziologie dazu eingesetzt, soziale Beziehungen im Stadtleben zu simulieren oder Migrationsbewegungen vorherzusagen. Und so simuliert eine Firma, die eigentlich fürs Kino gearbeitet hat, plötzlich die Welt selbst.
HC: Aber wenn man die echte Welt simulieren möchte, müsste man diesen Algorithmus erweitern, um erfassen zu können, was ein Individuum zu tun vermag.
CvW: Stimmt. Für mich geht es auch darum, auf diese Art und Weise besser zu verstehen, was Elias Canetti als Wechsel vom Einzelnen zur Gruppe beschrieben hat.
Es stehen bei dieser Arbeit aber auch noch andere Fragen im Raum, beispielsweise nach dem Skandal um Cambridge Analytica und Facebook, Fragen über Massenmeinung und Wahlverwalten.
HC: Haben dir die Arbeiten, die du hier bei der Biennale zeigst, dabei geholfen, einige deiner Fragen zu klären?
CvW: (Denkt nach.) Ich hoffe, ich trage diese Fragen weiter. Ich habe mehrere Interviews mit Wissenschaftler*innen geführt, mit Computertechniker*innen sowie mit Biolog*innen, die beispielsweise mit Fischen arbeiten und daran interessiert sind, Roboter zu entwickeln, die das Verhalten von Fischen simulieren können, um letztlich einen Roboter bauen zu können, der einen Fischschwarm anführt oder ähnliches. Einige dieser Interviews sind in das Script für dieses Video eingeflossen. Und die Antwort, die ich durch meine Nachforschungen bekommen habe, ist – so denke ich – darin zu sehen, dass die Kombination ehedem getrennter Programme in einer Hand gewaltige Macht entfalten wird, im Hinblick auf das Verständnis ebenso wie die Kontrolle von Gesellschaft – eine größere als ursprünglich geplant. Stell dir nur mal eine Kombination all der verschiedenen Formen von Big Data vor ... zum Beispiel Google, Facebook und Apple in einer Hand ... mmh, vielleicht ist es ja schon soweit ... so oder so, in meinem Gedankenexperiment ging es letztlich darum, die Möglichkeiten des Kinos und der Soziologie ... sie also als eine Einheit zu begreifen, um sie ausnutzen zu können.
HC: Kannst du das noch etwas weiter ausführen?
CvW: Es geht darum, dass Werkzeuge, die eigentlich für Film und Spieleindustrie entwickelt wurden, nun in der Soziologie eingesetzt werden, in der Stadtplanung und für die Kontrolle von Menschenmassen etc. Mein Video ist spekulativ. Aber mit diesem Konzept einer „parallelen Zukunft“ ist es heute vielleicht schon von der Realität überholt worden. Gut möglich, dass wir diesen Punkt schon auf anderem Weg erreicht haben. Ich spekuliere darüber, wie wir diesen Punkt erreicht haben.
HC: Und dieses Programm, das die niederländische Polizei dazu einsetzt, um Proteste zu simulieren – hat das auch damit zu tun? Verwendet die niederländische Polizei ebenfalls dieses Verfahren mit digitalen ausgestatteten Statist*innen, die über künstliche Intelligenz verfügen?
CvW: Nein, deren Statist*innen sind im Grunde ziemlich dumm, weil die Demonstrant*innen sehr einfach und universell sind. Das sind wirklich „Statist*innen“: Sie haben kein Ziel, sie wissen nicht, was sie wollen, sie können sich von A nach B bewegen, aber nur, wenn der Instrukteur der Polizei es auch so will. Aber ich arbeitete auch (und immer noch) mit Wissenschaftler*innen, um verschiedene Gruppendynamiken zu testen. Wie von Canetti beschrieben. Denn für mich wäre es wirklich interessant, die Theorien von Canetti zu bestätigen, indem man digitale Agent*innen programmiert, z. B. indem man ihnen Canettis Ziele gibt und schaut, ob das funktioniert.
Dieses Interview zwischen Clemens von Wedemeyer und Helmuts Caune wurde am 20. Juli 2018 auf Arterritory veröffentlicht.