Der Arsch ist demokratisch
Unser Wunsch war es, mit A ROSA AZUL DE NOVALIS einen Film gemeinsam mit einem Protagonisten zu realisieren – nicht über ihn. Generell beginnen wir unsere Projekte damit, dass wir mit der Hauptfigur des Films eine Beziehung auf Augenhöhe aufbauen, ihr die Möglichkeit geben, sich während der Entstehungsphase des Drehbuchs zu äußern und im Zweifelsfall auch ein Veto einzulegen. Dabei geht es uns nicht darum, Kompromisse einzugehen – wir arbeiten nie mit Menschen, die nur ihre ‚schöne‘ Seite präsentieren möchten –, sondern eine Beziehung zu entwickeln, die auf Respekt und Bewunderung für die Menschen beruht, die uns ihre Konflikte anvertrauen.
Am Anfang unserer Arbeit steht immer eine konkrete Realität, die wir nachbilden und in etwas verwandeln, womit dem Zuschauer Themen vermittelt werden können, die oft mit einem Tabu belegt sind. Auch der Protagonist, der sich selbst spielt, kann sich im Verlauf der Arbeit vieler Dinge bewusst werden. Das Gleiche gilt natürlich für uns als Regisseure. Auch wenn unsere Dokumentarfilme jeweils auf Drehbüchern basieren, bleibt doch Raum für Zufälle und Improvisation.
Wir drehen unsere Filme immer in möglichst kurzer Zeit – die Aufnahmen für A ROSA AZUL DE NOVALIS dauerten nur drei Tage –, das bestärkt das Gefühl, in ein Universum riskanter Möglichkeiten geworfen zu werden und rückt die Dreharbeiten in die Nähe zur Performance. Diese Art von Arbeit setzt immer einen Prozess der Selbsterkenntnis in Gang; viele unserer Filme beschäftigen sich mit erlittenen Traumata und sind überaus dialoglastig (in überwiegend monologischer Form), ähnlich wie psychoanalytische Sitzungen.
Auch A ROSA AZUL DE NOVALIS entwickelt sich in dieser Form. „Go fuck yourself in the ass!“ Was bedeutet diese verbreitete Beleidigung für Menschen, für die der Anus zum Sex gehört? Wem obliegt es festzulegen, welche Teile unseres Körpers als Geschlechtsorgane zu gelten haben? Was können wir über das Auge des Anus (das dritte, mystische Auge) wahrnehmen?
Diese Fragen bilden den Hintergrund der Arbeit an unserem Film. Mit A ROSA AZUL DE NOVALIS wollten wir es dem Zuschauer ermöglichen, in das Innere der Hauptfigur unseres Films einzutauchen, in seine Erinnerungen, Ängste und seine Sehnsüchte. Aus diesem Grund beginnt der Film mit dem Arschloch, das im weiteren Verlauf immer wieder auftaucht. Viele Menschen halten dieses Loch für obskur, uns gewährt es Zugang zu unserem Protagonisten.
Das Bild des Arschlochs in dieser Form sichtbar zu machen, ist notwendig, weil auf Analverkehr in acht Ländern dieser Welt die Todesstrafe steht und weil er in mehr als achtzig Ländern mit lebenslanger Haft geahndet werden kann.
Dabei ist das Arschloch ein Körperteil, das Erregung und Lust erzeugen kann und sich, da es nicht der menschlichen Reproduktion dient, dem traditionellen System der Vorstellungen von Sexualität und Geschlecht entzieht. Es ist ein Ort, der es erlaubt, anders und aus neuen Perspektiven über den menschlichen Körper nachzudenken. Der Arsch ist demokratisch, jeder hat Zugang zu ihm, und jeder hat seinen eigenen.
In Zeiten von Aids wird die Sache zusätzlich kompliziert. Die Wissenschaft benutzt das Arschloch, um Homosexualität zu pathologisieren. Paul B. Preciado erklärt: „In der Vergangenheit wurde das Arschloch als minderwertiges Organ aufgefasst, das niemals ausreichend sauber und geräuschlos ist. Es ist politisch nicht korrekt und wird es nie sein können.“ Auf der Basis einer Politik der Passivität möchten wir eine Korrektur vorschlagen, nämlich die Wertschätzung der ‚Passivität‘ (in Ermangelung eines treffenderen Begriffs) mittels des Eintauchens in das dunkle Loch, in dem Zeit und Raum nicht existieren, wie im Unterbewusstsein. Das Arschloch muss dringend in den sozialen und politischen Bereich eingeführt werden. (Gustavo Vinagre, Rodrigo Carneiro)