Familientragödie, Thriller und Road Movie
2003 wurde meine Großmutter in ihrer Wohnung ermordet. Meine Tante und ihr Geliebter wurden nach einem Prozess zu lebenslanger Haft verurteilt. Als das passierte, war ich zehn Jahre alt. Während der darauffolgenden fünfzehn Jahre habe ich nie gedacht, dass dies eine wichtige Geschichte sein könnte, und ich habe nicht geglaubt, dass es sich lohnen würde, diese Geschichte zu erzählen – denn jeder Mensch hat seine eigene Tragödie, jede Familie auch –, und meine ist nur eine von ihnen.
Vor zwei Jahren fielen mir zufällig die Gerichtsakten in die Hände, und ich las die gesamte Anklageschrift. Mir wurde klar, dass dies nicht nur ein Strafverfahren war, sondern auch eine Liebesgeschichte und ein Road Movie. Eine Liebeschronik, in der drei große türkische Städte eine Rolle spielen und die an vielen Orten Spuren hinterlassen hat.
Wenn ich heute zurückblicke, ist mir klar, dass dies auch meine Geschichte ist, eine Geschichte, die mit meinen Wurzeln zu tun hat und der ich mich stellen muss.
Während der Vorbereitungen zu AIDIYET dachte ich an die Filme von Eric Rohmer, in denen es um romantische Beziehungen geht, und an James Bennings LANDSCAPE SUICIDE, der eine Kriminalgeschichte erzählt, indem er verschiedenen Orten folgt. AIDIYET ist ein Film, der das Gedächtnis von Orten sucht und mit Genres spielt. Ihm liegt eine sehr persönliche Tragödie zugrunde, mit Archetypen eines echten Verbrechens, dessen Schauplätze der Film nachverfolgt, ohne über jemanden zu urteilen. (Burak Çevik)
Gespräch mit Burak Çevik: „Ich bin überzeugt, dass Räume ihre eigenen Erinnerungen haben“
Gabriela Seidel-Hollaender: AIDIYET beschäftigt sich mit einem Kriminalfall, der zugleich Teil der tragischen Geschichte Ihrer eigenen Familie ist. Sie haben die Kriminalakte des Mordfalls Ihrer Großmutter gelesen, in dem Ihre Tante und deren Geliebter zu lebenslanger Haft verurteilt wurden. Welche anderen Recherchen haben Sie angestellt, mit wem haben Sie noch gesprochen im Rahmen der Vorbereitungen zu diesem Film?
Burak Çevik: Als ich vor zwei Jahren die Ermittlungsakten erhielt, las ich sie sehr sorgfältig. Fehlende Informationen fand ich in Autopsieberichten und anderen Akten. Während der Lektüre erfasste mich sofort die Erinnerung an einige dieser Orte aus meiner Kindheit, und ich wollte sie wieder besuchen. Ich bin davon überzeugt, dass Räume ihre eigenen Erinnerungen haben. Einen Film zu machen bedeutet für mich nicht, das Ergebnis einer Ermittlung zu präsentieren. Ich mache keinen Film, um eine Schlussfolgerung zu ziehen. Für mich geht es darum, zu recherchieren, viele Fragen zu stellen und tiefer in die Materie einzudringen. Man kann daher AIDIYET als persönliche archäologische Studie lesen. Als ich die Konzeption des Films entwickelte, war ich mit drei Personen in Kontakt: Vor allem habe ich mit Selman Nacar darüber diskutiert, wie man die Geschichte gestalten und realisieren kann. Zusammen mit unserem Produktionsdesigner Dilşad Aladağ besuchten wir die Drehorte und sprachen über die Erinnerungen dieser Orte. Schließlich entwickelten wir mit unserem Sounddesigner Yalın Özgencil Fantasien vom Klang dieser Räume.
Diese Geschichte ist auch Teil Ihrer eigenen Geschichte, der sie sich stellen wollten, die Sie aufarbeiten wollten. Hatten Sie auch Zweifel oder Skrupel, sich dieser Geschichte filmisch zu nähern?
Man kann die Auswirkungen einer Familientragödie als Kind nicht so leicht verstehen, das ist völlig normal. Man unterdrückt und ignoriert sie und versteckt sie auf verschiedene Weise. Das weiß ich, weil es mir passiert ist. Aber man kommt letztlich nicht darum herum, sich diesen Auswirkungen zu stellen. Vielleicht war dieser Film eine Gelegenheit, mich mit den Dingen auseinanderzusetzen, denen ich entkommen wollte. Die Orte meiner Kindheit, die ich nie besucht hatte, waren lange Zeit in meinem Bewusstsein, sie waren verschwommen und unklar in meiner Erinnerung. Und plötzlich beschloss ich eines Tages, das Haus meiner Großmutter, wo der Mord stattfand, aufzusuchen. Ich kann mich nicht erinnern, was dort in mich gefahren ist, aber als ich in das Haus kam, stand ich vor dem Treppenaufgang und hatte Angst, nach oben zu gehen, ich traute mich nicht. Ich fragte mich: Warum kehre ich an diesen Ort zurück? Nicht: „Warum bin ich hier?“ Das war eine Frage, die ich zwar nicht beantworten, mit der ich mich aber konfrontieren konnte. So ähnlich verhält es sich mit den Ermittlungsakten: Sobald diese Tür geöffnet war, konnte ich herausfinden, was dahinterlag. Beim Lesen der Akten habe ich versucht, mich in die Lage der Verdächtigen zu versetzen und die Ereignisse aus ihrer Sicht zu sehen. Nachdem ich inzwischen all diese Orte meiner Kindheit besucht und alle Ermittlungsakten gelesen habe, ist mir heute, nach all den Jahren, die seither vergangen sind, klar, dass diese Geschichte auch meine Geschichte ist.
Mir scheint es, als hätten Sie das Geschehen des Films in Schichten angelegt, anhand derer Sie wie bei einer Forschungsarbeit immer tiefer in die Materie eintauchen. In welchen Stufen haben Sie das Konzept des Films angelegt?
Als ich die Ermittlungsakte las, wurde mir klar, dass dies nicht nur ein Kriminalfall war, sondern auch eine Liebesgeschichte und ein Roadmovie. Ich erinnere mich, dass ich mich gefragt habe, wie ich aus einer so blutigen Mordgeschichte einen Film machen kann, ohne die Protagonist*innen zu verurteilen. An diesem Punkt kam die Idee auf, mit Genres zu experimentieren: Ich wollte, dass das Publikum eine Reise macht, die an einem Tatort, in einer „Landschaft des wahren Verbrechens“, beginnt und sich zu einer romantischen Geschichte entwickelt.
Bei der Entwicklung des Konzepts für den Film konzentrierte ich mich auf die Beziehung zwischen dem Bild, das das Publikum sieht, und den Informationen, die es über die Geschichte bekommt. Wie wirkt sich „Information“ darauf aus, wie wir einen Film sehen? Verändert sich die Art und Weise, wie wir den Film sehen, wenn wir während der ersten romantischen Nacht eines Paares wissen, dass es in der Zukunft einen blutigen Mord planen wird? Vor dem Hintergrund dieser Gedanken habe ich versucht, den Akt des Erinnerns auf filmische Weise darzustellen. In diesem Sinne ist AIDIYET ein Film über das Gedächtnis.
Der Film besteht aus zwei deutlich unterschiedlichen Stilen: Zum einen gibt es die Ebene der Rekonstruktion, auf der die Orte des Geschehens gezeigt werden. Sie ist mit dem Text des Geliebten Ihrer Tante kombiniert, der wie ein Auszug aus der Kriminalakte anmutet. Außerdem gibt es in dem Film Spielszenen, die das junge, verliebte Paar zeigen. Wie kam es zu dieser Kombination zweier Stile?
Die wichtigste Inspiration für den ersten Teil des Films war James Bennings Film LANDSCAPE SUICIDE aus dem Jahr 1987. Der Film macht Beobachtungen in Räumen anhand der Aufzeichnungen zu einer echten Mordgeschichte. Benning war mit seinen Filmen über die Beziehung zwischen Objekt und Betrachter schon immer eine Quelle der Inspiration für mich. Für den zweiten Teil des Films habe ich mich an den Filmen Eric Rohmers, die Liebesbeziehungen thematisieren und reich an Dialogen sind, orientiert. Das sind Filme, die ich seit meiner Jugend gern gesehen habe. Im Gegensatz zu den meisten der aktuelleren türkischen Filme, die voller sozialer und politischer Konflikte sind und sich mit großen Problemen auseinandersetzen, wollte ich von Anfang an einfach die erste Nacht eines Paares erzählen, das sich unterhält und über Belanglosigkeiten plaudert. Ich glaube an die Magie der Nacht, in der sich ein Paar zum ersten Mal trifft.
Ich bin an Äußerungen der Figuren interessiert, in denen sie etwas über ihre Weltanschauung preisgeben und in die sich triviale Themen mischen. Ich bin fasziniert von ihrem Schwanken zwischen Schüchternheit und dem Wunsch, alles über sich erzählen zu wollen.
Weshalb haben Sie sich für einen Voice-over-Text des Liebhabers Ihrer Tante entschieden und nicht Ihre Tante sprechen lassen?
Wie Sie bereits erwähnt haben, besteht der Film aus zwei Teilen. Als ich den zweiten Teil schrieb, wurde mir klar, dass ich mich dabei meiner Tante näher fühlte. Es war also nur fair, im ersten Teil das Geständnis des Manns zu verwenden. Auf diese Weise hoffte ich zugleich, zwei unterschiedliche Perspektiven in den Film einzubringen. Als ich zum ersten Mal die beiden Aussagen las, hatte ich das Gefühl, dass die Beziehung des Mannes zu den Orten intensiver war als die der Frau. Ich weiß nicht genau, weshalb das so ist, aber es könnte aus seinem Schuldgefühl heraus entstanden oder vielleicht auch Ausdruck seiner Paranoia sein. Er beschrieb alle Räume aus seiner Erinnerung bis ins kleinste Detail. Er erschuf diese Orte in seinem Gedächtnis permanent aufs Neue.
Die Tonspur des ersten Teils ist auf eine Weise komponiert, die den Betrachter sogartig in das Geschehen hineinzieht und eine enorme Spannung aufbaut. Welche Vorgaben hatten Sie für den Sound und die Filmmusik?
Die Musik für den ersten Teil ist von Mine Pakel komponiert. Wir nannten die Komposition „Alle müden Pferde“, sie ist fünfundzwanzig Minuten lang. Mine hat besondere Aufmerksamkeit auf die Funktion der Musik als Sounddesign verwandt, das mit den Räumen im Film verbunden ist. Die atmosphärischen Geräusche aller Orte wurden bearbeitet und mit Musik verbunden. Daher sind alle atmosphärischen Klänge und Nachvertonungen Teil der Musik. Zu unseren Referenzen zählen bedeutende Komponisten der Avantgarde wie İlhan Mimaroğlu, Tim Hecker, William Basinski und Alvin Lucier.
Man sieht an einer Stelle des ersten Teils einen Splitscreen, der Bilder zeigt, die wirken, als stammten sie von einer Überwachungskamera. Nach welchen Kriterien haben Sie die Drehorte ausgesucht, und welches Material haben Sie verwendet?
Die meisten Drehorte entsprechen den in der Ermittlungsakte vermerkten Orten. Die Hauptidee unseres Films war es, diese Orte fünfzehn Jahre nach dem Verbrechen zu besuchen und mithilfe der Vertonung der Interviews mit den Angeklagten eine Kriminalgeschichte zu kreieren. Wir haben lange überlegt, wie wir diese Orte zu einem visuell eindrucksvollen Erlebnis gestalten konnten. Eine der zentralen Fragen dabei war, wie wir dem Publikum auf einer fünfundzwanzig Minuten langen Reise Aufnahmen von Orten vorstellen können, auf denen kein Mensch zu sehen ist. Zusammen mit dem Kameramann Barış Aygen habe ich jede Einstellung, jede Lichtsituation durchdacht und eine schrittweise Reise in die Gedanken unserer Figuren konzipiert. Wir haben eine spezifische, teilweise surreal wirkende Beleuchtung verwendet sowie eine stimmungsvolle Klanglandschaft, die die Spannung steigert und die Stimmung des Films prägt. Ich wollte immer einen Film machen, der mit Raum und Zeit spielt. Ich wollte eine Erfahrung ausdrücken, die im Gedächtnis, im Erinnern verwurzelt ist.
(Interview: Gabriela Seidel-Hollaender)