Land ist Macht – die Bewegung der Landlosen
Großmama und P. C. kämpfen um ein kleines Stück Land, auf dem sie sich niederlassen, ökologischen Ackerbau betreiben und vom Ertrag ihrer Arbeit leben können, als Teil einer engen Gemeinschaft von Landarbeitern – das jedenfalls ist ihr Traum. Großmama, eine 70-jährige ehemalige Bäckerin, ist erst vor Kurzem von der Stadt aufs Land gezogen, um sich der MST (Movimento dos Sem Terra; Anm. d. Red.), der Bewegung der Landlosen anzuschließen, die das Gelände eines insolventen Zuckerverarbeitungsbetriebs besetzt hat. Auf dem besetzten Gebiet haben sich mehr als 600 Familien angesiedelt und bewirtschaften das Land. Großmama ist hier zu einer zentralen, überaus beliebten Figur geworden.
P. C. ist mittleren Alters und ein ehemaliger Arbeiter des nun besetzten Betriebs. Gemeinsam mit seiner Familie hat er sich der Bewegung vor über fünfzehn Jahren angeschlossen und beschäftigt sich mit den Möglichkeiten ökologischen Landbaus. Ausgangspunkt des Films ist Großmamas und P. C.s gleichermaßen persönlicher wie universeller Traum, selbstbestimmt zu leben und ein Fundament für die gemeinschaftlichen Anstrengungen um das übergeordnete Ziel einer Landreform zu schaffen, die die MST seit ihren Anfängen unermüdlich verfolgt.
Die Bedürfnisse und Wünsche der Protagonist*innen des Films gleichen denen vieler anderer Brasilianer*innen, die in extremer Armut am Stadtrand oder in ländlichen Gebieten leben und ebenfalls nicht in der Lage sind, ein eigenes Stück Land zu erwerben. Das seit 1988 in der Verfassung des Landes verankerte Grundrecht auf Landerwerb und die gesetzlich festgeschriebene Garantie, dass jedes Grundeigentum seiner gesellschaftlichen Funktion zugeführt werden soll, sind bis heute alles andere als durchgesetzt.
Wenige Familien besitzen fast alles
„Land ist Macht, und die Neuverteilung des Einkommens setzt die Reform des Landbesitzes voraus“, sagt ein Aktivist im Verlauf des Films. Die Konzentration des Grundbesitzes ist fest in der brasilianischen Geschichte verankert. Aus der früheren oligarchischen Struktur hat sich eine hochkapitalistische Gebietsaufteilung entwickelt: Der größte Teil des landwirtschaftlich nutzbaren Landes liegt in den Händen einiger Familien. Weniger als drei Prozent der brasilianischen Bevölkerung besitzt mehr als die Hälfte der urbaren Flächen, wobei zwei Drittel des Ackerlands gar nicht bewirtschaftet werden. Und während achtzig Prozent der Nahrungsmittel für den nationalen Verbrauch von kleinen Betrieben hergestellt werden, produzieren die Besitzer der agroindustriellen Großbetriebe vor allem Waren für den Export, oftmals ohne arbeitsrechtliche oder umweltschützende Bestimmungen zu beachten.
Die MST ist eine der großen Bauernbewegungen Lateinamerikas, die sich der brasilianischen Regierung gegenüber für die Durchführung einer Bodenreform einsetzt. Im Verlauf ihres 35-jährigen Bestehens hat die Bewegung 1,5 Millionen Menschen zu siebzehn Millionen Morgen Land verholfen, dabei auch Rückschläge erlitten und war immer wieder Unterdrückungsmaßnahmen von staatlicher Seite oder den Medien ausgesetzt – von kontinuierlichen Diffamierungen bis hin zu von der Polizei verübten Massakern.
Der Film porträtiert eine einzigartige Gemeinschaft von Landarbeiter*innen unterschiedlicher Herkunft, die der gemeinsame Kampf für die Landreform eint, dem sie ihr gesamtes Leben widmen. Das besetzte Areal ist eine Enklave auf dem Gebiet eines Agroindustriebetriebs; die Landbesetzer teilen das Land nach den Vorgaben der Politik und ihren persönlichen Bedürfnissen ein. Sie sind beschäftigt mit der landwirtschaftlichen Arbeit, der Besetzung des Landes, der Teilnahme an Gerichtsverhandlungen und ihrem Leben auf dem Land; dabei erfinden sie sich nicht nur selbst, sondern auch das Konzept einer ländlichen Widerstandsbewegung neu.
Die Landschaft als erzählendes Element
CHÃO ist mein erster abendfüllender Dokumentarfilm, vier Jahre bin ich tief in das Leben der brasilianischen Landreformbewegung eingetaucht. Ich habe viel Zeit mit den Angehörigen der Gemeinschaft im zentralbrasiliansichen Goiás verbracht und zu einigen der Aktivisten eine enge Beziehung entwickelt. Die Arbeit am Film begann in einem vertrauten Umfeld an dem Ort, wo ich aufgewachsen bin und ein Teil meiner Familie noch immer ökologische Landwirtschaft betreibt.
Die Struktur des Films spiegelt meine Erfahrungen im Umgang mit den Aktivisten wider; insofern nähert sich der Film der Landfrage aus ihrer Perspektive. Die Mise-en-scène beruht auf einem stark visuellen Ansatz und bewegt sich zwischen beobachtendem Dokumentarfilm und filmischen Essay, in dem die Landschaft eines der zentralen erzählenden Elemente ist. Geprägt ist der Film zudem von der Zusammenarbeit mit den Protagonist*innen und dem großzügig gewährten Einblick in ihre ganz privaten Lebensumstände sowie in die Pläne und Aktionen der Bewegung.
Die Fertigstellung des Films fiel in die Zeit einer beispiellosen politischen Spaltung des Landes. Mit der Amtseinführung von Jair Bolsonaro, des neuen brasilianischen Präsidenten, werden die konservativen Kräfte des Landes, die historisch eng mit den Großgrundbesitzern verbunden sind, mehr Spielraum als je zuvor erhalten. Als ehemaliger Delegierter der brasilianischen Nationalversammlung und Mitglied eines Ausschusses für die Belange der ländlichen Region, aber auch während seines Präsidentschaftswahlkampfs hat Bolsonaro wiederholt angekündigt, die MST zu Fall zu bringen, ihren Kampf mit allen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln zu unterdrücken, die Mitglieder des MST als Terroristen einzustufen und zu verfolgen. Der Grund, warum die herrschende Klasse der Großgrundbesitzer sich von der Bewegung der Landlosen und anderen Menschenrechtsaktivisten derart bedroht fühlt, besteht darin, dass diese sich nicht nur für die Enteignung riesiger, brachliegender Grundstücke einsetzt, sondern zudem die notwendige Entwicklung hin zu nachhaltigeren Lebensweisen zu einer ihrer zentralen Forderungen gemacht hat. (Camila Freitas)