Das System der Wanderarbeiter
CHUN NUAN HUA KAI folgt dem gleichförmigen Alltagsrhythmus des Wanderarbeiters Li in Peking, es lotet den Zustand zwischen seiner Sehnsucht und seinen Möglichkeiten aus. Li wohnt in einem Zimmer unter der Erde, das er aus finanziellen Gründen mit einem anderen jungen Mann teilt. Beide haben einen ähnlichen Lebenshintergrund, gehen aber ganz unterschiedlich mit ihrer Situation um. Im Gegensatz zu seinem jüngeren Mitbewohner akzeptiert Li, die Hauptfigur in CHUN NUAN HUA KAI, die untergeordnete Rolle, die er in der Gesellschaft spielt, auch wenn sein Wunsch, ein anderer zu sein, immer größer wird. Wie Millionen anderer chinesischer Wanderarbeiter, die in der Hoffnung auf eine bessere Zukunft aus ländlichen Regionen in die chinesischen Großstädte ziehen, ist auch Li ganz in der täglichen Arbeitsroutine gefangen, ohne eine Perspektive auf Veränderung. Für ihn bleibt die rasant wachsende Stadt ein unerforschtes Terrain von Möglichkeiten, die für ihn unerreichbar scheinen.
Die Wanderarbeiter passen sich den ihnen auferlegten Verhältnissen vollständig an, liefern sich ihnen aus, sind bereit, im Hinblick auf Komfort, Privatsphäre und Privatleben Abstriche zu machen, um Geld zu sparen und später besser leben zu können. Während sich die Oberfläche der Stadt verändert, moderner und homogener wird, gerät die Vorstellung von einem erstrebenswerten Leben für manche ihrer Bewohner immer mehr außer Reichweite. Doch ihr Streben danach geht weiter und bleibt unhinterfragt.
Der Film kombiniert dokumentarische und fiktive Elemente und spielt an realen Drehorten. Die Figuren werden von Laiendarstellern aus dem Umfeld der Wanderarbeiter verkörpert. Indem er sich auf den Hauptprotagonisten Li konzentriert, beschreibt CHUN NUAN HUA KAI die Beziehung zwischen Individuum, Gruppe und Architektur in einer sich rasant verändernden Stadtlandschaft. (Ivan Marković, Wu Linfeng)
Der Titel
Der Titel des Films ist dem Gedicht „Facing the Sea, with Spring Blossom“ entlehnt, das der chinesische Dichter Hai Zi am 25. Februar 1989, zwei Monate vor seinem Selbstmord, verfasst hat.
From tomorrow on, I will be a happy person
Feed a horse, split logs, travel the world
From tomorrow on, I will care for crops and vegetables
I have a house; it faces the sea, and flowers bloom in spring warmth
From tomorrow on, I will contact every relative
to tell them about my happiness
As that lightning bolt of happiness told me
I will tell each and every person
Give every river and every mountain a warm-hearted name
As for strangers, I wish you happiness too
I wish you a glittering future
I wish you a lover who becomes a spouse
I wish that you obtain happiness in this world
I wish only to face the sea, where flowers bloom in spring warmth
Stadt-Land-Apartheid
Das eklatante Anwachsen der Weltbevölkerung vor allem in städtischen Ballungsräumen und die dort herrschenden sozialwirtschaftlichen Gegebenheiten führen dazu, dass die Menschen unterschiedliche Überlebensstrategien entwickeln. Auch wenn die Situation in den chinesischen Megastädten extrem erscheint, scheinen sie dennoch eine in der Zukunft mögliche Lebensform zu repräsentieren, die auch an anderen Orten der Welt Realität werden könnte.
Der Film beschreibt das Leben eines von mehreren Hundert Millionen chinesischen Wanderarbeitern, die ihre Heimat in der Provinz zurückgelassen haben, um in einer Großstadt finanzielle Sicherheit für sich und ihre Familien zu erlangen. Als Arbeiter mit geringem Einkommen ordnen die Wanderarbeiter ihr Leben den unterschiedlichen Arbeitssituationen unter, suchen alternative Wohnmöglichkeiten, um noch mehr Geld sparen zu können.
Unterirdische Behausungen waren als Wohnmöglichkeit in Chinas größten und teuersten Städten durchaus üblich. Ursprünglich als Keller oder Luftschutzbunker konzipiert, wurden die Räumlichkeiten so umgebaut, dass möglichst viele Menschen darin untergebracht werden konnten. Während jede Art von bezahlbarem Wohnraum normalerweise Stunden vom Stadtzentrum entfernt liegt, befinden sich die Kellerbehausungen in der Regel innerhalb des größeren Stadtkerns, wo die ortsüblichen Mieten mindestens das Zehnfache der unterirdischen Unterkünfte betragen. Meistens passt nicht viel mehr als ein Bett in die Zimmer, die sich zudem oft zwei Menschen teilen. Solche Wohnbedingungen schaffen ein besonderes Gemeinschaftsgefühl: Die Mieter müssen die Räumlichkeiten instandhalten, die Privatsphäre der anderen respektieren und ihren Lebensraum vor der Außenwelt so gut es geht verborgen halten.
Pekings neues Gesicht
Die Möglichkeiten und Perspektiven der Wanderarbeiter werden zusätzlich durch das Registrierungssystem für Wohnsitze, die sogenannte Hukou, erschwert. Die Hukou hindert vom Land zugezogene Menschen daran, sich in Großstädten anzumelden, verzögert die Zahlung von Sozialleistungen an Wanderarbeiter, untergräbt ihre Möglichkeiten, eine geregelte Arbeit zu finden, was ihnen letztlich keine andere Wahl lässt, als weiterhin im Niedriglohnbereich zu arbeiten. Dieses System einer Stadt-Land-Apartheid führt dazu, dass die Wanderarbeiter zum neuen Proletariat der städtischen Ballungsgebiete im heutigen China werden, zu einem Proletariat, das keine Unterstützung erhält und dessen Grundrechte verletzt werden.
2017 wurde ein Gesetz verabschiedet, das unterirdische Wohnungen und ähnliche Behausungen offiziell verbietet. Zusammen mit den darauf folgenden Räumungen durch die Polizei wurden im Zuge der Kampagne „A New Face of Beijing“ ebenfalls die Straßen-Garküchen sowie kleine Läden und Restaurants, Motorradtaxis, kurz: jede Art sich unabhängig entwickelnder Orte und Aktivitäten geschlossen bzw. unterbunden. Während die halblegalen Anstellungsverhältnisse der Wanderarbeiter toleriert werden, um die Wirtschaft der Großstädte zu stärken, werden ihre glanzlose Präsenz und ihre Wohnareale als Schmutzflecken auf dem homogenen, wirtschaftsorientierten neuen Bild betrachtet, das die Stadt von sich vermitteln möchte. (Ivan Marković, Wu Linfeng)