Nichts ist mehr, wie es war
Ein erlittenes Trauma verursacht einen Riss. Man zerbricht in zwei Hälften: in eine Person, die man vor der traumatischen Erfahrung war, und in eine andere Person danach. Von einem Moment zum nächsten ist nichts mehr, wie es war. Selbst das eigene Zuhause wird zur Schlangengrube. Das eigene Ich kehrt sich gegen einen, verhöhnt, beschämt und demütigt dich und greift dich an, wenn du es am wenigsten erwartet. Man wird sich selbst fremd, du wirst dich nie mehr sicher fühlen. Die einzige Gesellschaft, die bleibt, ist das Schweigen. Das Schweigen des Bedauerns, der Mitschuld, des vollständigen Versagens der Sprache. Also dreht man einen Film. Dämonen gibt es in jedem Leben. Dies ist die Geschichte von meinen. (Daniel Hui)
Gespräch mit Daniel Hui: „Ein Trauma ist das Nichts des Nichts“
Dan Koh: In deinen zwei vorherigen Filmen, ECLIPSES (2011) und SNAKESKIN (2014), arbeitest du sowohl dokumentarisch wie fiktional, sie gehen dem alltäglichen Umgang mit Geschichte bzw. deren Missbrauch nach. DEMONS ist dein erster Spielfilm, und du hast sowohl das Drehbuch geschrieben, Regie geführt und den Film geschnitten. Was hat dich dazu bewogen, einen Horrorfilm zu drehen?
Daniel Hui: Der Horrorfilm ist ein sehr physisches Genre, das einen zu einer körperlichen Wahrnehmung zwingt. Da die Erfahrungen, die ich in meinem Film darstellen wollte, physischer Natur sind, schien es mir nur folgerichtig, DEMONS als Horrorfilm zu konzipieren. Für mich stellt DEMONS keinen Bruch innerhalb meiner Filmografie dar, ich sehe vielmehr eine Entwicklungslinie zwischen meinen beiden vorherigen Spielfilmen und DEMONS. Alle meine Filme sind im fiktionalen und im nichtfiktionalen Spektrum angesiedelt und vereinen Elemente aus beiden Bereichen; das gilt auch für DEMONS. Meine Methode hat sich im Verlauf meiner drei abendfüllenden Filme nicht verändert. DEMONS behandelt ein – für mich ebenso wie für viele meiner engen Mitarbeiter*innen – sehr persönliches Thema. Im Vergleich zu den beiden anderen Filmen kommt er vielleicht unserem Leben am nächsten.
In DEMONS beschäftigst du dich auf eine sehr nach innen gewandte Art und Weise mit Traumata, Missbrauch und Macht, wie in einer Art Selbstbefragung, die das Persönliche wie Politische einbezieht. Dabei gibt es in DEMONS keine direkte Darstellung von Gewalt, was für einen Film über solche Themen ungewöhnlich ist. Wie kam es dazu?
Am wichtigsten war es mir, dem Gefühl des Wahnsinns filmischen Ausdruck zu verleihen. Ich stamme aus Singapur, einem der wenigen autoritären Staaten der Welt. Auch wenn den Bürger*innen Singapurs Grundrechte vorenthalten werden, erhält der Staat im Großen und Ganzen eher Zuspruch als Kritik. Wenn ich mich mit anderen Leuten über Singapur unterhalte, fühle ich mich manchmal wie ein Geisteskranker. Wer nicht an Singapurs Mythos vom elitären wirtschaftlichen Erfolg glaubt, wird für verrückt gehalten. In DEMONS wollte ich allerdings weniger den klinischen Zustand des Wahnsinns zeigen als den physischen Verlauf des Wahnsinnigwerdens bzw. -seins. Dafür musste ich mich meinen persönlichen Dämonen und traumatischen Erlebnissen aus meiner Vergangenheit stellen. In vielerlei Hinsicht habe ich den Eindruck, dass ein Trauma die Trennlinie zwischen Erfahrung und Wahrnehmung markiert. Es lässt nicht nur eine Kluft zwischen der eigenen Person und den anderen entstehen, die das Trauma nicht erlitten haben, sondern es verursacht auch einen Riss durch die eigene Person.
Vor allem aber ist ein Trauma nicht darstellbar. Ein Trauma ist nicht nur einfach nichts, sondern vielmehr das Nichts des Nichts – es handelt sich um etwas, bei dem Worte, Bilder oder Töne versagen. Man spürt, dass etwas in der alltäglichen Lebensrealität fehlt, dass etwas einfach nicht stimmt. Wenn man sich erst darüber klar geworden ist, was einem fehlt, ist es bereits zu spät: Die Atmung wird schneller, man kann nicht mehr denken, der Verstand setzt aus und man gerät in blinde Panik. Viele Jahre lang litt ich täglich unter diesem Zustand. Irgendwann beschloss ich, einen Film zu machen und damit einen Versuch zu unternehmen, das Leiden zu beenden.
Welche Bedeutung hat der Umstand, dass du den gleichen Vornamen hast wie der Theaterregisseur?
Als Filmregisseur wird mir meine Machtposition immer wieder schmerzlich bewusst. Die Ausdrucksweise, die Worte und manchmal sogar die Gedanken einer Person zu manipulieren, kann grausam sein. Es ist ein brutaler Vorgang, der mir extrem unangenehm ist. Ich habe verschiedentlich versucht, diese Macht aufzugeben, aber die Dämonen kehren immer wieder zum Autor zurück – zum Autor als Diktator. Ich nehme an, dass alle Künstler, vor allem Filmemacher, mit der Machtfrage ringen. Viele Menschen ignorieren diesen Umstand oder akzeptieren ihn als unveränderlich. Ich hingegen möchte mich mit dem Problem auseinandersetzen und ein Gespräch darüber in Gang bringen.
Der Theaterregisseur trägt meinen Vornamen, weil es mein absoluter Albtraum ist, eine andere Person unbeabsichtigt zu traumatisieren, ihr unbewusst tiefes Leid zuzufügen. Natürlich existieren diese problematischen Machtverhältnisse nicht nur in der Kunstwelt oder in der Filmbranche. Im Gegenteil, man trifft sie überall an. Im Kontext von Kunst wird die Macht extrem verstärkt, deshalb ist es nicht verwunderlich, dass die #MeToo-Bewegung vom Filmbereich ausgegangen ist. Man setzt voraus, dass der/die Autor*in bzw. Urheber*in von Kunst ganz allgemein vollständige Kontrolle über sein/ihr Material besitzt, sodass er/sie voraussetzt, entsprechend umfassende Macht über seine/ihre Mitarbeiter*innen ausüben zu können. Ich wollte einen Film realisieren, in dem das Material Kontrolle über den/die Urheber*in gewinnt und ihn/sie im Verlauf der Arbeit vollständig verschlingt. Vielleicht ist das die zwangsläufige Realität hinter jedem Kunstwerk, das seine/n Urheber*in und deren/dessen Ansichten überdauert.
Im Verlauf deines Films kommt es in schrecklicher und dabei seltsam vertrauter Weise zu einem Akt des Kannibalismus. Was hat dich dazu veranlasst?
Der erste Impuls, Kannibalismus in den Film mit aufzunehmen, entstand im Zusammenhang mit meinen Recherchen zum Thema Wahnsinn. Ich hatte zuvor die Kurzgeschichte von Lu Xun, „Das Tagebuch eines Verrückten“ (1918), gelesen, in der ein allmählich verrückt werdender junger Mann die Worte „Menschen essen“ in klassischen chinesischen Texten zu lesen glaubt. Er kommt zur Überzeugung, dass konfuzianische Abhandlungen, auf denen weite Teile unserer Tradition und Kultur beruhen, in Wahrheit versteckte Aufforderungen enthalten, Kannibalismus zu praktizieren. Mein Interesse an diesem Thema verstärkte sich, als ich Berichte über Kannibalismus bei den Tupinamba las, die in der vorkolonialen Zeit in Brasilien lebten. Die Angehörigen dieses indigenen Stammes praktizierten Rituale des Tötens und Verspeisens ihrer Feinde. Der Anthropologe Eduardo Viveiros de Castro erläuterte, dass Kriegsgefangene während ihrer zum Teil langen Gefangenschaft sehr gut behandelt wurden, bevor ihre Hinrichtung anstand. Danach wurden die Körper der Gefangenen von allen Anwesenden aufgegessen, mit Ausnahme der Person, die sie getötet hatte. Für diese begann stattdessen eine Trauerphase und ein Prozess der Identifikation mit dem Opfer.
An anderer Stelle hast du angedeutet, dass du dir in dem Film alles vorknöpfen wolltest, was irgendwie binär ist. Um welche Zwillingspaare geht es dir: Täter/Opfer oder LGBT/Hetero? Und würdest du DEMONS, der in seiner komischen, haarsträubenden und blutigen Art Züge von ‚Camp‘ trägt, einem queeren Kino zuordnen?
Unsere moderne (vorwiegend westliche) Lebensweise hat sich an binäre Denkstrukturen gewöhnt. Wir halten sie für selbstverständlich, empfinden sie wie Naturgesetze. In meinem Film versuche ich das so weit wie möglich in Frage zu stellen. Die Figur der aufstrebenden Theaterschauspielerin Vicki ist ein Opfer, die ihre Entmachtung jedoch nicht akzeptiert. Der Theaterregisseur Daniel missbraucht sie, er ist aber auch schwul. Vicki ist Vikneschs Schwester, auch wenn die beiden nicht die gleiche Hautfarbe haben. Ich möchte nicht, dass sich Menschen daran gewöhnen, in festen Kategorien zu denken. Wenn wir unsere Leben nach dieser Konstruktion ausrichten, werden wir niemals neue Gedankenwelten entwickeln können. Unsere Welt ist wesentlich komplexer und kann durch den brutalen Akt der Kategorisierung nicht abgebildet werden – und für mich ist jede Kategorisierung ein Akt der Gewalt. Mir ist es wichtig, nicht auf Statistiken reduziert zu werden. Vor diesem Hintergrund sehe ich DEMONS als einen durch und durch queeren Film, mit dem ich mich in eine queere, radikale Tradition einordne.
Die Rolle der aufstrebenden Theaterschauspielerin Vicki hast du mit Yang Yanxuan besetzt, die in deinem Film ihre erste Filmrolle spielt. Die männliche Hauptrolle wiederum, den Theaterregisseur Daniel, spielt Glen Goei, er ist einer der führenden Theater- und Filmregisseure Singapurs. Wie kam es zu dieser Besetzung?
Vicki ist eine enge Freundin von mir. Ihr ist es zu verdanken, dass DEMONS nicht nur ein rein autobiografischer Film geworden ist. Im Zuge unserer Gespräche hat der Film ein Eigenleben entwickelt. Es ist genauso ihr Film wie meiner. Das Thema war für uns beide von großer Wichtigkeit. In gewisser Weise war DEMONS für alle Beteiligten ein kollektiver Akt des Exorzismus.
Glen ist neu zu unserem Freundeskreis hinzugestoßen – wir haben uns von Anfang an gut verstanden. Er war sich natürlich im Klaren darüber, dass er einen einflussreichen Theaterregisseur spielt, einen Part, den er auch im wahren Leben innehat. Glen ist jedoch das komplette Gegenteil von einer gewalttätigen und übergriffigen Person: Er ist großzügig, offen und unglaublich freundlich.
Warum hast du den Film im 16-mm-Format realisiert?
Ich habe bislang alle meine Filme im 16-mm-Format gedreht, und DEMONS sollte keine Ausnahme bilden. Ich liebe das spezifische 16-mm-Bild auf der Leinwand, den sehr physischen Prozess des Einlegens des Filmmaterials in die Kamera und des Herausnehmens aus ihr. Hinzu kommt das Gefühl von Abenteuer, wenn man monatelang nicht weiß, was man gedreht hat, weil das Material erst entwickelt und digitalisiert werden muss.
Während der Arbeit an DEMONS ist mir jedoch auch bewusst geworden, dass es in den letzten Jahren bedeutend schwerer geworden ist, auf analogem Filmmaterial zu drehen. Die letzten Kopierwerke in Südostasien haben aufgegeben, sodass wir die Negative nach Washington schicken mussten – ein logistischer Albtraum. Ich habe vor, weiterhin auf Film zu drehen und hoffe, dass es für Filmemacher wie mich und unsere Arbeit mehr Unterstützung geben wird.
Als Drehbuchschreiber, Editor und Regisseur des Films – ich könnte auch sagen: als Autor, Mutter, Diktator: Was erhoffst du dir für DEMONS?
Da es in DEMONS bereits so viele Doppelgänger gibt, kann ich noch eine weitere Doppelgänger-Analogie bieten: In gewisser Weise ist der Film mein persönlicher Doppelgänger geworden, der jetzt ein eigenes Leben entwickelt hat, sich frei bewegt, Beziehungen eingeht, Menschen verletzt, sie kuriert und eine ganz eigene Lebenskraft besitzt. Als Original – aber bin ich das wirklich? – habe ich keine Kontrolle über meinen Doppelgänger. Wie Vickis Doppelgängerin im Film kann vielleicht auch mein Doppelgänger mir etwas Neues über mein Leben und meine Kunst vermitteln. Mit der einzigen Ausnahme, dass ich, wie Vicki, nur lernen kann, wenn ich selbst aktiv werde und den großen Sprung nach draußen wage, in die unbekannte Welt.
(Interview: Dan Koh)