Gespräch mit Kelly Copper: „Film ist nicht nur ein technisches, sondern ein spirituelles Medium“
Karin Schiefer: DIE KINDER DER TOTEN ist ein Hybrid-Projekt, in dem Theater, Literatur und Film miteinander verschmelzen. Es ist nicht das erste Projekt, in dem Sie Performancekunst und Film miteinander kombinieren. Inwiefern ergänzt das Medium Film Ihre Arbeit als Performancekünstlerin?
Kelly Copper: Film war schon immer eine große Inspiration für uns. Wir haben früher in der Nähe des Anthology Film Archives in New York gewohnt und sahen dort alles, vom Stummfilm bis zu den Avantgarde-Filmen der 1960er-Jahre von Jack Smith, Ken Jacobs, Andy Warhol, Tony Conrad, Jacques Rivette etc. Diese Arbeiten haben uns immer daran erinnert, dass man auch mit eingeschränkten Mitteln (kaputten Kameras, gestohlenem Filmmaterial, geliehenen Kostümen, nicht ausgebildeten Schauspieler*innen) hohe Ansprüche bei der Arbeit verwirklichen kann.
Was Film uns als Performancekünstler*innen vor allem erlaubt, ist eine bestimmte Art, zufällige Geschehnisse aufzunehmen und festzuhalten, Inspirationen, einzigartige poetische Geschenke der Natur, des Zufalls. Im Theater dagegen muss man ständig in der Lage sein, alles zu wiederholen. Im Theater geht es um den Versuch, alles im Augenblick lebendig zu halten – aber das muss man Abend für Abend wiederholen. Die filmische Arbeit hat uns erlaubt, den im Leben einmaligen Moment festzuhalten – jene magischen, inspirierenden Dinge, die normalerweise bei den Proben passieren, wenn man an einem Theaterstück arbeitet. Durch das Aufnehmen dieser Momente auf Film oder Video können sie in die Arbeit aufgenommen und Teil des Inhalts werden – das ist uns sehr wichtig.
Bei DIE KINDER DER TOTEN gibt es eine zusätzliche, literarische Ebene in Form des gleichnamigen Romans der Nobelpreisträgerin Elfriede Jelinek. Kannten Sie ihre Romane schon vorher? Wie sind Sie auf dieses Buch gestoßen? Was waren Ihre ersten Eindrücke davon?
Natürlich hatten wir schon lange vorher Elfriede Jelineks Bücher gelesen, aber immer in Übersetzungen. Unsere deutschen Sprachkenntnisse sind nicht besonders umfangreich. Und für „Die Kinder der Toten“ gibt es bisher noch keine englische Übersetzung, weshalb man sagen muss, dass unser Zugang zu dem Roman – speziell, selektiv – überwiegend auf der Basis von Beschreibungen der Lektüre anderer Personen beruhte. Darüber hinaus lag uns eine teilweise Übersetzung der ersten hundert Seiten des Buchs vor – wir hatten also einen unvollständigen Zugang dazu. Am meisten interessierte uns die Beziehung zwischen Text und Landschaft. Dann erhielten wir die Einladung, ein Projekt in der Steiermark zu realisieren. Wir suchten nach einem Text mit einem Bezug zu der Region – tatsächlich ist „Die Kinder der Toten“ tief in der Steiermark verankert. Ich würde sagen, die Landschaft, die Natur spielt in dem Buch eine Hauptrolle – gewissermaßen als Gegenspieler der Menschen, mit den Erdrutschen, Lawinen, den sintflutartigen Regenfällen. Man bekommt dieses Gefühl von Bedrohung, von einer drohenden Gefahr, die von der Natur ausgeht.
Im Umkreis der Schneealm ist die Landschaft so reich an Schönheit, aber gleichzeitig entdeckt man überall auch die Zeichen von Naturkatastrophen und des Todes – zum Beispiel Kreuze mit kleinen Gedichten darüber, wie dieser oder jener von einem einschlagenden Blitz getötet wurde. Man hört von jemandem, der in den Schnee hinausgegangen und nie wieder zurückgekehrt ist. Wir hatten sofort das Gefühl, dass das Buch die richtige Wahl war, einfach aufgrund der engen Beziehung, in der es zu dieser Landschaft steht. Heimat.
Ein anderes Thema, für das wir uns im Rahmen dieses Projekts interessierten, waren spezielle Filmgenres. Wir interessierten uns für den Heimatfilm als Genre, und über Jelineks Text kam auch der Zombiefilm mit ins Spiel. Tatsächlich hat Elfriede Jelinek erzählt, dass „Die Kinder der Toten“ von einem amerikanischen B-Movie, dem Horrorfilm CARNIVAL OF SOULS von Herk Harvey, inspiriert ist. Darin geht es um eine junge Frau, eine Kirchenorganistin, die gestorben ist, aber dies noch nicht realisiert hat. Die Tatsache, dass Jelineks Roman ebenfalls von einem Film inspiriert ist, hat uns gefallen. Diesen hochliterarischen österreichischen Roman, dessen Inspirationsquelle ein amerikanischer Horror-Trash-Film war, über unsere Arbeit in der österreichischen Landschaft wieder zu seinen Ursprüngen zu führen, war für uns die ideale Einladung und das perfekte Zusammentreffen verschiedener Zufälle.
Wie sind Sie dabei vorgegangen, ein Drehbuch aus dem Text zu entwickeln? Welche Motive, Figuren, Atmosphären und Ereignisse haben Sie aus dem Buch herausgegriffen?
Wir waren, wie gesagt, auf das beschränkt, was wir aus Gesprächen mit Menschen mitnehmen konnten, die den Roman gelesen hatten. Darüber hinaus haben wir uns CARNIVAL OF SOULS (1962) und Erich von Stroheims BLIND HUSBANDS (1919) angesehen und sind mehrfach, zu allen Jahreszeiten, in die Gegend gereist, in der die Dreharbeiten stattfinden sollten. Die Vorbereitungen zu diesem Projekt erstreckten sich über zwei Jahre, in denen wir in Neuberg, Krampen und Kapellen waren und die Orte aufgesucht haben, die in „Die Kinder der Toten“ vorkommen: der Wasserfall zum Toten Weib, Mariazell, die Mürz, die Schneealm usw.
Während eines unserer Aufenthalte in Neuberg saßen wir draußen in einem Café, als die Kühe von der Sommerweide der Schneealm herabgetrieben wurden. Auf der Straße befanden sich an diesem Tag Kühe sowie aus irgendeinem Grund auch Motorräder – Kühe und Motorräder, ein sonderbares Zusammentreffen. Hier begegneten uns auch einige Männer, die auf Skihütten in den Bergen arbeiteten. Wir sprachen über die Landschaft, die Herausforderungen ... Außerdem unterhielten wir uns mit dem Besitzer des Wirtshauses, in dem wir untergebracht waren, lernten den Besitzer des Lebensmittelladens kennen, der Mitglied eines Vereins für alte Motorräder und Traktoren ist. Wir setzen alles daran, die Besonderheit dieser Region und ihrer Bewohner*innen zu entdecken und herauszufinden, welche Möglichkeiten sich für unsere Arbeit boten – zum Beispiel, welches die Dinge sind, die in jeder Saison stattfinden usw. Schließlich schrieben wir unser eigenes Drehbuch und versuchten, das, was die Stadt und ihre Bewohner*innen zu bieten hatten, bestmöglich zu verarbeiten. Das Skript enthielt die Kühe, den örtlichen Lebensmittelladen, unser Essen, das Gasthaus. Einige Elemente kommen auch in Jelineks Roman vor, andere stammen aus CARNIVAL OF SOULS, wieder andere sind reine Erfindung, inspiriert von dem Ort, an dem wir uns befanden.
Und dann gibt es die Kehrseite: die Geschichte von all den Dingen aus dem Roman, die wir in den Film mit aufnehmen wollten, aber nicht konnten, wie zum Beispiel Mariazell. Niemand ließ uns auch nur halbwegs in der Nähe der Kirche drehen. Schließlich kontaktierte das Festival das Stift Rein, eine andere bekannte Kirche in der Region, sodass wir dort die Kirchenszenen realisieren konnten. Bereits im Drehbuch, aber nicht in Jelineks Roman war die Gruppe Syrer enthalten. Der Grund, weshalb wir sie in das Drehbuch eingearbeitet haben, war der, dass Syrien in der Zeit unseres Aufenthalts in der Steiermark ständig Thema in den Nachrichten war. Letztlich bin ich der Überzeugung, dass es eine Verbindung mit Jelineks Gefühl für Geschichte und die Opfer der Geschichte gibt, die die Landschaft heimsucht. Geschichte, die vergraben wurde. All die Dinge, mit denen man sich nicht beschäftigen möchte ...
Die Dreharbeiten fanden in der Obersteiermark statt, einer Region, in der Elfriede Jelinek Teile ihrer Kindheit verbracht hat und die den Hintergrund in ihrem Buch darstellt. Wie würden Sie diese Landschaft beschreiben? Und wie haben Sie die konkreten Locations gefunden?
Die Landschaft hat uns extrem inspiriert. Ich liebe besonders die Schneealm, so rein, riesig, so brutal in ihrer Schönheit, aber auch die Wälder und Wiesen und die Mürz. Wir hatten Glück, all diese Orte in einem Zeitraum von zwei Jahren immer wieder und zu allen Jahreszeiten zu sehen. Unser erster Besuch fiel in die Zeit unmittelbar nach einem Schneesturm. Alles war weiß und mit Eis überzogen. Während eines unser ersten Aufenthalte gab uns Elfriede Jelinek die Schlüssel zum Haus ihrer Kindheit. Wir kämpften uns durch Schneemassen von etwa einem halben Meter zur Hütte hoch. Dort angekommen, schauten wir uns um. Die Hütte liegt versteckt in den Bergen, ein ganz besonderer Ort. Monate später kehrten wir zurück und wanderten auf die Schneealm; dort sahen wir Dickhornschafe und Kühe, die auf den Almen grasten. Wir verbrachten einen gesamten Nachmittag mit diesen Kühen, saßen neben ihnen, beobachteten sie und lauschten den Geräuschen. Pavol und mich hat das sehr inspiriert.
Es ist eine großartige Idee, die Adaptation eines literarischen Werks, das sich unter anderem mit der Leugnung und dem Verschweigen der Nazi-Vergangenheit in Österreich beschäftigt, als Stummfilm zu konzipieren. Wie kam es zu dieser Idee?
Während unserer ersten Besuche in der Region dachten wir darüber nach, eine Art Heimatfilm zu realisieren. Das Genre und seine idealisierende und romantisierende Darstellung des Landlebens interessierte uns. Auch der Heimatfilm nach dem Zweiten Weltkrieg negiert in vielerlei Hinsicht den Krieg, die unrühmliche Vergangenheit und die Gräueltaten. Während eines frühen Stadiums der Recherche zeigte uns Claus Philipp, der das Projekt gemeinsam mit uns entwickelte, einige 8- und 16-mm-Archivfilme aus der Region, die zum Teil während des Kriegs aufgenommen worden waren. Man sieht darin Hakenkreuzfahnen in Mariazell und marschierende Soldaten. Es war sonderbar, diese wunderschöne Landschaft und die lächelnden Menschen umgeben von Nazi-Symbolen zu sehen. Beim Betrachten der Filme – manche von ihnen waren in Farbe – wurde einem bewusst, dass das alles nicht lange her ist. Es handelt sich nicht um uralte Geschichte.
Dennoch mussten Sie Dialoge schreiben. Wie schwierig war dieser Vorgang, besonders vor dem Hintergrund, dass der Roman keine Dialoge enthält?
Das war nicht schwer. Ein Problem war vielmehr, dass wir, da wir auf Super-8 und mit alten Kameras drehten, keinen Ton aufnahmen. Der Film wurde völlig stumm realisiert. Die Schauspieler sprachen ihren Text auf Deutsch, und wir waren nicht in der Lage zu verstehen, was jeweils gesagt wurde. Man erhält das Material zurück und weiß, was man gedreht hat, aber alles ist stumm. Ich muss zugeben, dass eine der größten Herausforderungen dieses Projekts für mich der Prozess der Montage war, bei dem wir den Darsteller*innen von den Lippen ablesen mussten, was sie sagen, um die richtigen Bilder mit dem richtigen Text zu kombinieren. Wir haben versucht, die gedrehten Szenen bestmöglich zu dokumentieren, hatten aber manchmal nur wenig Zeit. Wir arbeiteten mit zwei Kameras und Filmrollen, mit denen man genau drei Minuten lang drehen konnte, bevor sie gewechselt werden mussten. Da blieb nur wenig Zeit, um genau zu vermerken, welche Seite im Drehbuch gerade gedreht wurde. Am Ende hieß es: Lippen lesen.
Der Film beginnt und endet mit Geräuschen und Bildern eines analogen Filmprojektors. Sie nehmen die Zuschauer*innen auf diese Weise mit in einen Film im Film. Wie kamen Sie auf diese besondere narrative Rahmung?
In unserer Version des Romans „Die Kinder der Toten“ ist der Film zugleich eine Art Figur wie auch das Medium, durch das die Toten wieder zum Leben erweckt werden. Dieses Element ist nicht in Jelineks Roman enthalten, sondern nur in unserer Version. Film ist ein Medium der Übertragung, nicht nur der Handlung, sondern auch des Geistes. Er bildet eine direkte Verbindung zur Welt der Geister. Zur Vergangenheit. Das Bild des Projektors zu Beginn des Films soll die Idee in den Vordergrund stellen, dass Film nicht nur ein technisches, sondern ein spirituelles Medium ist. Das französische Wort für eine Filmvorführung lautet „séance“, womit im Französischen ebenso eine Geisterbeschwörung gemeint sein kann. Genauso muss es den Menschen vorgekommen sein, als sie zum ersten Mal aus Licht gestaltete, bewegte Bilder gesehen haben: reine Magie!
(Interview: Karin Schiefer, Januar 2019)