Was bringt Frauen dazu, sich für andere aufzugeben?
„Nichts ist gefährlicher und graziler als ein Ameisenhaufen.“
(Roberto Calasso, 1998)
Ich stamme aus einer Familie, in der es starke Frauen gibt. Meine Großmutter väterlicherseits war das Familienoberhaupt und zog ihre sieben Kinder alleine groß. Meine Großmutter mütterlicherseits hatte elf Kinder, meine Mutter fünf. All meine Erinnerungen daran, wie ich als Kind Liebe erlebt habe, haben mit Situationen oder Gesprächen mit meiner Mutter, meinen Schwestern, meinen Tanten und meinen Großmüttern zu tun. Von ihnen habe ich Liebe erfahren. Ohne es zu wissen, lehrten sie mich, dass Liebe bedingungslos und nachsichtig sein sollte; sie lehrten mich, andere an die erste Stelle zu setzen und auf „mütterliche“ Weise zu lieben.
Machismo bringen wir selten mit Liebe in Verbindung, und ebenso selten assoziieren wir mit diesem Begriff die weibliche Seite, die wir zu haben glauben. Mütterliche Liebe ist aber oft machistisch, und wir wiederholen die Muster, die wir erlernen, in den unterschiedlichen Bereichen unseres Lebens. Lieben zu lernen ist ein politischer Akt.
Mit meinem Film EL DESPERTAR DE LAS HORMIGAS wollte ich über jene kleinen Dinge nachdenken, die Frauen täglich beigebracht werden: zu gefallen, zu dienen, zu pflegen, verheiratet zu sein, Mütter zu sein, für andere da zu sein – Lehren und Erwartungshaltungen, die uns nicht mit böser Absicht vermittelt werden, sondern weil sie Traditionen entsprechen.
Ich wollte eine Geschichte erzählen, die diese idealisierte und machohafte mütterliche Liebe beschreibt, die uns dazu bringt, uns für andere aufzugeben und uns selbst zu vergessen.
Isabel ist eine einfache Frau. Sie hat sich nie gefragt, was sie selbst will. Ihre Weiblichkeit, ihre Sexualität, ihre persönliche Erfüllung wurden durch die Erwartungen anderer definiert, die sie ohne nachzudenken für ihre eigenen hielt. In ihren Dreißigern ist sie verheiratet und Mutter von zwei Töchtern, ihr Ehemann stammt aus einer großen Familie, deren Angehörige sehr deutlich machen, was sie von ihr wollen. Irgendwann beginnt Isabel zu zweifeln. Und aus ihren Zweifeln entsteht eine große, stille Revolution.
Die dritte Welle des Feminismus
Wir erleben derzeit die dritte Welle des Feminismus und eine weltweite Mobilisierung von Frauen, die unisono #NiUnaMenos und #MeToo rufen. Ich habe mich in EL DESPERTAR DE LAS HORMIGAS mit den immer unerwähnt bleibenden Gewalttaten beschäftigt, mit jenen Frauen, die zum Schweigen gebracht und zu Hause festgehalten werden. Die Anleitungen zu Missbrauch und Mikromachismo werden hinter verschlossenen Türen durch kleine Gesten vermittelt. Wir haben die Verantwortung, das Schweigen zu brechen, unsere Gewohnheiten hinter uns zu lassen und unsere Kinder mit Liebe umzuerziehen. Das ist die wahre Revolution.
Für mich repräsentiert dieser Film die Ängste und Unsicherheiten, die man erfährt, wenn man sich als Frau entdeckt, in einer sich verändernden Welt, die einem ab und zu erlaubt zu denken, man könne selbst entscheiden, einen aber andererseits ständig mit Traditionen ködert. Wir sind noch immer unendlich konservativ. Isabel versteht – genau wie ich –, dass sie damit aufhören muss, einfach nur zu sein, und dass sie entscheiden muss, wer sie sein möchte.
Die Geschichte von Isabel ist Teil eines Transmedia-Projekts zum Thema Sexualität in den verschiedenen Lebensphasen der Frau. Das Projekt ist interdisziplinär angelegt und bringt Künstler*innen aus aller Welt zusammen. Gemeinsam gestalten sie ein kollektives Mosaik von Erfahrungen mit Weiblichkeit und Sexualität, um sie zu entmystifizieren und um einen Bruch mit der Gewalt zu provozieren, die traditionellen Geschlechterrollen innewohnt. Seit ich zum ersten Mal meine Kurzfilme in ländlichen Gegenden von Costa Rica gezeigt habe, wusste ich, dass ich diesen Aspekt des Lebens hier zeigen wollte. Unsere Zuschauer*innen hatten sich bisher nie auf der großen Leinwand beschrieben gesehen; als ich ihre Reaktionen sah und ihre Kommentare hörte, wurde mir klar, dass ich weiter an dem Thema ihres Lebens arbeiten musste.
Fehlende Sexualkunde
Ich habe das Bedürfnis, Geschichten zu erzählen, in Kontakt mit dem Publikum zu treten – und ein Film ist die schönste Art, die ich gefunden habe, um das menschliche Verhalten zu erforschen und die Geschichten auszudrücken, die ich erzählen möchte. Das Drehbuch zu EL DESPERTAR DE LAS HORMIGAS zu schreiben, war ein zutiefst persönlicher und zugleich politischer Weg für mich, dieses Interesse zu verfolgen.
Als die Regierung von Costa Rica vor einigen Jahren damit begann, in öffentlichen Schulen Sexualkunde unterrichten zu lassen, taten sich einige Eltern unter dem Slogan „Ich erziehe meine Kinder“ zusammen – was leider dazu führt, dass die Mythen, die sich um die Sexualität ranken, weiterbestehen. Es ist klar, dass der Mangel an Informationen über Fragen der Sexualität eine hohe Zahl von Teenagerschwangerschaften, illegale Abtreibungen, sexuelle Gewalt ebenso wie Frustration und Unzufriedenheit zur Folge hat. Dieses Szenario spielt sich auch in vielen anderen lateinamerikanischen Ländern ab. Das Wissen über eine gesunde Sexualität zu verbreiten, Frauen in die Lage zu versetzen, dass sie ihr Recht wahrnehmen, selbst über ihren Körper zu entscheiden, und zu erkennen, dass wir für unser Vergnügen und unsere Zufriedenheit selbst verantwortlich sind, ist ebenfalls ein politischer Akt. (Antonella Sudasassi Furniss)