Gespräch mit Nikolaus Geyrhalter: „Unser Ende als Menschheit ist nicht das Ende der Welt“
Karin Schiefer: Ihre Filme stehen thematisch stets jeder für sich, und dennoch komme ich nicht umhin, von ERDE einen Bogen zu Ihrem vorletzten Film HOMO SAPIENS zu spannen. HOMO SAPIENS verweist anhand punktueller Situationen auf ein mögliches ‚Danach‘ einer menschlichen Zivilisation; richten Sie in ERDE einen Blick auf das ‚Davor‘? Auf den Planeten als Lebensrohstoff, den der Mensch seit seinen Anfängen zur Verfügung hat?
Nikolaus Geyrhalter: Querverbindungen zwischen meinen Filmen lasse ich in der Tat lieber mein Publikum herstellen. Ich widme mich als Filmemacher Themen, wie sie sich anbieten, und wie ich sie gerade als relevant empfinde. Das Thema Erde hat mich schon lange beschäftigt, vor allem auch im Zusammenhang mit dem Begriff des Anthropozäns, das ein neues Erdzeitalter bezeichnet, in dem der Mensch zum wichtigsten Einflussfaktor auf diesem Planeten geworden ist. Das Anthropozän in seiner Vielschichtigkeit zu erfassen, wäre mir für einen Film zu weitläufig und damit vermutlich auch zu oberflächlich gewesen. Einer der wesentlichen Aspekte des Anthropozän-Konzepts ist der geologische, wonach der Mensch inzwischen wesentlich mehr Erdoberfläche verschiebt, als die Natur das macht. Das wollte ich mir näher anschauen.
Der Titel ERDE löst sehr vielfältige Assoziationen aus. Warum setzen Sie in dem Film den Fokus ausschließlich auf geologische Gegebenheiten?
Betrachtet man die Erde als Organismus, dann ist die Erdkruste als Haut das filigranste Organ. Ich wollte mir die Wunden genauer ansehen, die wir der Erde zufügen. Mir war wichtig, Orte und Handlungen zu zeigen, die Assoziationen auslösen und nachdenklich machen. Wenn man sich in diesen großen Minen, auf diesen riesigen Baustellen bewegt, dann ist man zunächst überwältigt und kann nur schwer fassen, in welchen Dimensionen wir Menschen in kurzer Zeit gravierende Veränderungen der Erdoberfläche verursachen. Tatsache ist, dass wir alle Mitverursacher sind, dass unsere Art zu leben ohne diese ‚Narben‘ auf der Erdkruste kaum zu verwirklichen wäre. Auf keinen Fall ging es mir darum, die Leute, die dort arbeiten, zur Rechenschaft zu ziehen; ihnen ist am wenigsten Verantwortung zuzuschreiben.
Ich finde, dass es eine Aufgabe des Kinos ist, das Publikum an Orte zu führen, die man sonst schwer zu sehen bekommt. Die Erdoberfläche kennen wir ja. In dem Moment, wo ein Bagger seine Zähne in die Erde setzt, ergänzt sich das Bild von der unversehrten Erde im Kopf des Publikums automatisch. Die Orte allerdings, an denen im großen Stil manipuliert wird, sind normalerweise nicht leicht zugänglich. Diese Bilder ins Kino zu bringen, halte ich für spannend, die Reflexion dazu entsteht von selbst.
Die Entwicklung und der Fortschritt der Menschheit waren von ihren Anfängen an eng mit den Entdeckungen der Bodenschätze und ihrer Nutzung verbunden. Hatten Sie trotz des enormen technologischen Fortschritts der Maschinen, die heute zur Verfügung stehen, den Eindruck, an eine archaische Dimension des menschlichen Tuns heranzukommen?
Es war eine seltsame Mischung aus sehr archaisch und gleichzeitig total banal. Die Dimension erschließt sich erst, wenn man das Ganze mit Abstand betrachtet. Ich glaube nicht, dass die Menschen, die tagaus, tagein auf einem Bagger sitzen und Landschaft abtragen, einen Blick für das Ausmaß dessen haben, woran sie gerade mitwirken. Man sieht die eigene Baustelle, sein eigenes Arbeitsgerät, den eigenen Job. Aber tatsächlich reflektieren die Menschen trotz ihrer Routine sehr stark über das, was sie tun, das hat mich in gewisser Weise überrascht und auch beruhigt. An allen Drehorten sind wir Menschen begegnet, die ihr Tun und damit das Handeln unserer Gesellschaft zumindest sehr kritisch hinterfragen.
Hatten Sie nach den zahlreichen Arbeitsprozessen, die Sie bereits gefilmt haben, das Gefühl, dass diese Arbeiter einen ganz besonderen Bezug zu ihrer Beschäftigung haben? Stärker als in Ihren anderen Filmen entsteht hier der Eindruck einer Symbiose zwischen Mensch und Maschine.
Das ist so. Ich glaube, dass diese Menschen großteils ihre Arbeit gerne machen und ihre Maschinen mögen. Ich kann das nachvollziehen. Die Maschinen, so enorm sie auch sein mögen, sind extrem feinfühlige Geräte. Ich habe großen Respekt vor den Menschen, die diese riesigen Bagger steuern können. Ein grundsätzlich banal zu bedienendes Gerät mit einer solchen Präzision zu beherrschen, kommt schon einer Meditation nahe. Ich habe niemanden getroffen, der seine Arbeit nicht gerne machen würde. Einerseits ist sie oft sehr einsam, andererseits extremes Teamwork, bei dem alle Beteiligten die Arbeitsabläufe und die Personen dahinter genau kennen müssen. Es wird kaum kommuniziert, und ich denke, das funktioniert besser, als wenn viel geredet werden würde.
Sie haben ERDE in sieben Kapitel gegliedert, sprechen eingangs die massiven Eingriffe in die Landschaft durch den Menschen an, zeigen visuell sehr beeindruckende Abbaustätten und gehen am Ende vor allem auf die massiven Konsequenzen ein, mit denen der Planet und seine Bewohner*innen tagtäglich und in immer größerem Ausmaß belastet wird. Nach welchen Kriterien haben Sie die Drehorte ausgewählt?
Wir haben uns zunächst auf eine englische Studie gestützt, die jede Form der Erdbewegung zu erfassen versucht hat und auch Zahlen liefert. Einige davon haben wir uns prototypisch angeschaut. Vieles geschieht in kleinem Stil und ist daher filmisch nicht so interessant. Ein erstes entscheidendes Kriterium war also die Größendimension der Orte. Ein weiteres Kriterium waren die realen Drehmöglichkeiten. Man darf nicht vergessen, dass die Industrie in den letzten Jahren immer restriktiver geworden ist und man kaum mehr Drehgenehmigungen bekommt. Ob die Kupfermine nun in Spanien oder Südafrika liegt, war für unseren Film nicht entscheidend. Wichtig war, eine große Mine und einen Minenbetreiber zu finden, der unseren Film versteht, uns vertraut und uns ohne Einflussnahme arbeiten lässt. Natürlich spielte auch der visuelle Aspekt eine Rolle. Es geht ja um Kino. Und man muss sagen, dass bei aller Zerstörung in diesen Bildern eine beeindruckende Ästhetik liegt. Davor darf man sich nicht fürchten. Das könnte eine Falle sein, ist aber auf jeden Fall eine Realität, mit der wir umgehen mussten. Wir haben nach Orten gesucht, an denen die Erdoberfläche manipuliert wird und die natürlich auch zum Nachdenken anregen sollten.
Sehr beeindruckend sind in ERDE auch die Bilder von den Sprengungen. Wie nahe wollten Sie herankommen an die Gewalt, die, wie einer der Interviewten es nennt, dem „Fleisch“ des Berges angetan wird?
Die Idee war: Wenn wir schon im Kino von Sprengungen erzählen, dann sollten sie auch aus einer ungewohnt nahen Perspektive anschaulich werden. Wir haben nicht sehr wertvolle Kameras ins Experiment geschickt und jeweils drei Kameras auf einen Stahlmast montiert, in der Hoffnung, dass eine davon die Explosion überstehen würde. Interessanterweise haben es alle geschafft. Ich war aber umgekehrt auch erstaunt, wie friedlich so eine Sprengung aus der Nähe aussieht. Es ist wie eine Welle, als ob bei aller Gewaltsamkeit die feste Materie zum Meer werden würde.
Haben diese Dreharbeiten, die Sie auch weit unter Tag geführt haben, Sie die Erde anders, besonders erleben lassen?
Nicht nur durch diesen Film. Das Thema hat auch etwas mit meiner persönlichen Geschichte zu tun. Wir haben vor fast zwanzig Jahren einen verlassenen Hof übernommen, der keine Kanalisation hatte und dessen Brunnen versiegt war. Um die anstehende Renovierung irgendwie bewältigen zu können, bestand der nächste logische Schritt darin, einen Bagger zu kaufen. Das war eine ganz eigene Erfahrung, ohne jeden Kraftaufwand Erdschichten zu erreichen, die Tausende Jahre unberührt waren und die noch niemand gesehen hatte. Es wird ja auch von einem der Arbeiter im Film angesprochen, dass er sich manchmal wie ein Astronaut fühlt – im Kleinen habe ich das auch so erlebt. Anfangs habe ich es fast wie ein Sakrileg empfunden, die unversehrte Erde aufzureißen, nur um ein Rohr zu verlegen. Es macht einen riesengroßen Unterschied, ob du einem Bagger zuschaust oder selbst einmal einen bedient hast – zu erfahren, dass man mit kleinen Handbewegungen, ohne eigene Kraft aufzuwenden, über die Joysticks enorme Kräfte freisetzen kann. Man gewöhnt sich schnell daran. Genau das erleben die Menschen im Film auch: Diese Arbeit erscheint normal, weil man glaubt, dass sie notwendig ist. Seither habe ich auf eine Gelegenheit gewartet, diese Erfahrungen auch einmal in einen meiner Filme einzubringen.
Mit dem Kapitel in Wolfenbüttel, wo in einem alten Salzbergwerk seit Jahrzehnten radioaktiver Müll gelagert wird, der nun rückgeführt werden muss, gelangen wir in einen Bereich der unwiederbringlichen Schäden und auch ans Thema der Grenzen, die längst überschritten sind.
Gleichzeitig zu den aktuellen Bildern zeigen wir auch Ausschnitte aus einem Imagefilm aus den siebziger Jahren, der diese Lagerstätte als völlig sicher eingestuft hat. Wenn man sich vor Augen hält, wie zukunftsgläubig der Mensch damals war, da kann man sich ausrechnen, was man in vierzig, fünfzig Jahren über Dinge, die wir heute tun, denken wird. Der technische Fortschritt ist schneller, als es die Menschheit erfassen kann. Die Kernenergie ist dafür auch ein sehr gutes Beispiel. In der Episode Wolfenbüttel geht es mir auch um andere Zeitdimensionen. Deutschland sucht ja, Jahrzehnte nach dem Beginn der Nutzung der Kernenergie und nachdem klar war, dass hier radioaktive Abfälle entstehen, immer noch ein geeignetes Endlager. Hier geht es um unseren Umgang mit der Erdoberfläche in einem weiteren Sinn. Wir entnehmen der Erde nicht nur etwas, sondern wir stopfen auch Dinge in sie hinein. Man muss bedenken, dass wir in hundert Jahren Atommüll geschaffen haben, der für eine Dauer, die der gesamten bisherigen Geschichte der Menschheit entspricht, radioaktiv bleiben wird. Wir haben immer noch kein Konzept für seine Entsorgung. Wir fragen uns entsetzt, wie es so etwas geben kann, und nutzen gleichzeitig ständig die Vorteile davon. Dinge nur anzuprangern, ist zu einfach.
Jeder meiner Filme enthält Zivilisationskritik, und gleichzeitig möchte ich, dass man durch sie auch versteht, warum die Dinge so sind, wie sie sind. Weil wir eine Weltbevölkerung von rund 7,5 Milliarden Menschen sind. Wir können uns bemühen, so zu leben, dass unser Impact geringer wird, dann werden sich zerstörerische Prozesse verzögern, aber im Grunde genommen funktioniert die Welt so, wie sie eben funktioniert. Offensichtlich leider nur so und nicht anders.
Das letzte, in Kanada gedrehte Kapitel hebt sich insofern von den vorangegangenen ab, als es keinen Mitarbeiter dieser Anlage zur Schieferölgewinnung zeigt, sondern eine Person, die ein Opfer dieses Eingriffs in den ehemaligen Lebensraum ist.
Das war zunächst keine freiwillige Entscheidung. Seit wir dieses Projekt entwickelt haben, haben wir uns vergeblich um Drehgenehmigungen bemüht. Ich will damit auch zeigen, dass die Schieferölindustrie extrem hermetisch arbeitet und wohl seit zehn Jahren keine Medienvertreter mehr zugelassen hat. Das macht natürlich nachdenklich. Aber es hat sich so gefügt und passt jetzt ganz gut so für mich. Die Industrie zeigen wir ja trotzdem – auf die einzig mögliche Art, nämlich indem wir drüberfliegen. Die Schieferölindustrie hatte auch das Versprechen abgelegt, nach erfolgter Ausbeutung die Landschaft wieder zu rekultivieren. Nicht einmal die kleine Fabrik aus den vierziger Jahren ist zurückgebaut worden. Wie glaubwürdig sind also Versprechen, dass die Hunderte Quadratkilometer umfassenden Operationen je wieder in Wald zurückverwandelt werden? Würde man alles in einen Ursprungszustand zurückversetzen, dann wäre der Abbau nicht mehr rentabel. Von den Prozessen der Ölgewinnung bleiben riesige, künstlich angelegte Becken, in denen die Abwässer versickern; von da aus gelangen die krebserregenden Substanzen in den Fluss und damit in die Umwelt. Der Staat toleriert diese Verschmutzung, denn es nützt scheinbar der Mehrheitsgesellschaft. Ein sehr hoher Preis für ein paar Jahre mehr Diesel oder Benzin.
Wem gilt die Barriere in Ihrem Schlussbild?
Das bleibt offen. Es ist ja keine echte Barriere. Es ist eine Barriere für Menschen wie unsere Protagonistin Jean, die in diesen Gegenden ihre Traplines hatte und der nun der Zutritt zu ihrem traditionellen Land verwehrt ist. Ein kleiner Bagger kann diese Sperre jederzeit wegschieben. Diese Barriere gilt also nicht für alle. Natürlich eignet sie sich als Ende für einen Film. Aber für wen ist es denn wirklich ein Ende? Seit HOMO SAPIENS sehe ich das alles recht entspannt, weil ich durch diesen Film gelernt habe, dass die Welt und die Natur das irgendwie schaffen werden. Wir reden immer vom Ende der Welt, in Wahrheit meinen wir unser Ende als Menschheit. Das ist noch lange nicht das Ende der Welt.
(Interview: Karin Schiefer, Januar 2019)