Tourismus und Nationalismus
In KAMENI GOVORNICI wollte ich den Zusammenhang erkunden zwischen den neuen Touristenorten im Bosnien und Herzegowina der Nachkriegszeit und den Versuchen, untereinander konkurrierende nationale Narrative zu lancieren. Die unterschiedlichen Sichtweisen innerhalb der verschiedenen ethnischen Gruppen in Bosnien sind weiterhin eine Quelle von Missverständnissen und Spannungen. Die Touristenorte mögen ganz harmlos erscheinen, doch sind sie sämtlich von Narrativen durchzogen, die eine alternative Geschichte Bosniens und seiner Regionen suggerieren.
Das heutige Bosnien und Herzegowina kam durch das Friedensabkommen von Dayton zustande, mit dem der Bürgerkrieg der 1990er-Jahre beendet wurde. Die Verträge zementierten die Aufteilung der Bevölkerung Bosniens in drei ethnische Hauptgruppen: Bosniaken, Serben und Kroaten. Während des Krieges hatte der Prozess der sogenannten ethnischen Säuberungen bereits dafür gesorgt, dass diese Gruppen weitestgehend voneinander getrennt lebten; nur in einigen ländlichen Regionen hatte sich der multiethnische Charakter der Vorkriegszeit erhalten. Hinsichtlich dieser Trennung hat es seit dem Krieg nur geringe Fortschritte gegeben, und das Land verharrt in ökonomischer wie sozialer Instabilität. Tatsächlich verschärfen sich die Probleme: Bosnien hat die dramatischste Arbeitslosenquote in Europa (44 Prozent), und seine Bevölkerung schrumpft zusehends.
Nur in einem Punkt besteht Hoffnung im Land: Die Tourismusindustrie wächst. Bosniens unverfälschte Natur und seine reiche Geschichte locken mittlerweile Touristen aus aller Welt an. Doch der Aufbau der Tourismusindustrie bleibt von der weiterbestehenden Spaltung im Land nicht unberührt. In einigen Touristenorten werden voneinander abweichende, durchaus sonderbare Geschichtsauslegungen verbreitet, nicht wenige davon wirken auf Außenstehende geradezu exzentrisch. Diese Exzentrizität verdeckt allerdings den im Kern bedrohlichen Charakter der jeweiligen Deutungsvarianten, die Bosniens fragilen Frieden fortgesetzt untergraben.
Während der Entstehungszeit des Films gab es zunehmend und überall auf der Welt ähnliche Versuche, Fakten und historische Ereignisse zu deuten und umzudeuten. Während Bosnien früher aufgrund seiner Exzentrizitäten herausragte, erscheint es nun in bizarrer Weise als Avantgarde einer eher globalen Destabilisierungsbewegung, die unsere tief verwurzelten Vorstellungen von Wahrheit und Fiktion, richtig und falsch sowie Ausgrenzung und Zugehörigkeit in Frage stellt.
Die vier Orte
Medjugorje
Der Ort Medjugorje im östlichen Herzegowina wurde 1981 allgemein bekannt, nachdem sechs Kindern, denen man seherische Fähigkeiten zuschreibt, die Jungfrau Maria erschienen war. Bevor es zu diesen Erscheinungen kam, war das Leben im damals noch jugoslawischen Medjugorje für dessen bosnisch-kroatische Einwohner*innen sehr schwer. Die kommunistische Regierung verdächtigte die Region, mit der faschistischen Ustascha zu sympathisieren, die Bosnien und Kroatien während des Zweiten Weltkriegs als Handlanger der Nationalsozialisten regiert hatte. Eines der Ziele dieser Organisation war seinerzeit die „Reinigung“ Kroatiens von allen unerwünschten „Elementen“, darunter Serben, Juden und Roma. Gegen Ende des Zweiten Weltkriegs wurde die Ustascha von kommunistischen Partisanen besiegt, angeführt von Josip Broz Tito, der in der Folge einen sozialistischen jugoslawischen Staat etablierte. Nach dem Krieg versuchten die kommunistischen Machthaber, jegliche religiöse Betätigung im Land, obwohl sie sie nicht völlig unterbanden, streng zu kontrollieren.
Als es zu den Marienerscheinungen kam, reagierte die Regierung besorgt; einige der Mönche, die das Ereignis publik machen wollten, wurden verhört und inhaftiert. Das Misstrauen aufseiten der Regierung wurde irgendwann durch einen moderaten Enthusiasmus ersetzt, nachdem einige der kommunistischen Autoritäten das touristische Potenzial des Ortes erkannt hatten, das zunächst Hunderte, später Tausende katholischer Pilger in Richtung Medjugorje in Bewegung gesetzt hatte. Seit den frühen 1980er-Jahren ist der Ort größer geworden. Das Interesse an Medjugorje wächst weiter, obgleich der Ort vom Vatikan nicht zum kirchenrechtlich anerkannten Pilgerziel erklärt wurde. Heute kommen jährlich mehr als eine Million Pilger nach Medjugorje. Trotz der Touristenmengen verringert sich jedoch, ähnlich wie im Rest von Bosnien und Herzegowina, die einheimische Bevölkerung.
Tuzla
Tuzla liegt im ehemaligen Hauptindustriegebiet des nordöstlichen Bosniens, in unmittelbarer Nähe von ausgedehnten Salzabbaugebieten. Die Stadt ist seit Langem für ihre Salzproduktion bekannt, die eine über tausendjährige Tradition hat. In der Nachkriegszeit wurde dieser Sektor jedoch – genau wie die industrielle Infrastruktur im Land insgesamt – auf kriminelle Weise privatisiert und abgewickelt. Dies trug zu einer Arbeitslosenrate von mehr als fünfzig Prozent sowie zu einer Massenabwanderung der gut ausgebildeten jüngeren Bevölkerung bei. Bemühungen in jüngster Zeit, der lokalen Wirtschaft wieder auf die Beine zu helfen, konzentrierten sich auf Werbemaßnahmen bezüglich des touristischen Potenzials der Stadt. Die städtischen Behörden nutzten Erdlöcher, die durch übermäßigen Salzabbau entstanden waren, zum Anlegen von Salzseen, die bei Touristen wie bei Ausflüglern beliebt sind.
Die Bewohner von Tuzla sind außerdem seit Langem dafür bekannt, sich für ein harmonisches Miteinander unter den verschiedenen ethnischen Gruppen Bosniens einzusetzen. Sie verfolgen interessiert die Arbeiterkämpfe in Bosnien ebenso wie den Kampf gegen den Faschismus und halten die Werte hoch, die während der Phase des sozialistischen Jugoslawiens galten. Damit verbunden ist auch die hier verbreitete Auffassung, dass es möglich ist, nicht nur über eine nur ethnische, sondern auch über eine staatsbürgerliche Identität zu verfügen. Tuzlas Regierung propagiert allerdings auf spezielle Art eine bürgerliche bosnische Identität – die viele ablehnen – und tendiert dazu, den Umstand, dass Jugoslawien von einem autoritären Einparteiensystem beherrscht wurde, auszublenden. In Bosniens aktueller politischer Situation stellt eine bürgerliche Identität keine gesetzlich festgeschriebene Option dar. Ethnische Zugehörigkeit hingegen ist in der Verfassung des Landes verankert und wird durch sie geschützt; die Vorstellungen der Administration von Tuzla haben außerhalb der Stadt wenig Einfluss.
Visoko
Erst kürzlich ist Visoko ins Zentrum des öffentlichen Interesses gerückt, als Behauptungen in Umlauf gebracht wurden, hier habe seit spätestens 12.000 v. Chr. bereits eine komplexe Anlage von Pyramiden existiert, die älter seien als jene in Ägypten. Diese Behauptung, von Semir Osmanagić geäußert, wird von wissenschaftlicher Seite nicht gestützt, dessen ungeachtet erfreut sich die Stadt seither eines anhaltenden touristischen Booms.
Unterhalb der Pyramiden wurde ein weit verzweigtes Tunnelsystem freigelegt, das inzwischen Teil einer Touristenattraktion ist, in deren Zentrum die heilenden Energien des Ortes stehen. Obgleich das Projekt in politischer Hinsicht keine besondere Popularität genoss, wurde es anfänglich von Bosniens sozialistischer Partei SDP unterstützt, ebenso vom früheren Vorsitzenden der Islamischen Gemeinde in Bosnien, Reis Cerić. Nachdem die SDP abgewählt wurde, gelang es nicht, für das Projekt finanzielle Unterstützung von großen Organisationen zu erhalten. Seither stehen hier vor allem New-Age-Gruppen im Fokus, die sich einen Ort für Meditation und Heilung erhoffen. Die aktuell regierende nationalistische Partei Bosniens SDA und der neue Vorstand der Islamischen Gemeinde unterstützen das Projekt nicht. Interessanterweise haben Grabungen, die im Zusammenhang mit dem Ausbau der Anlage standen, völlig unabhängig von den Pyramiden, frühzeitliche Siedlungen zutage gefördert.
Višegrad
Višegrad lag immer an Kreuzwegen der Geschichte von Weltreichen und war bis vor Kurzem eine überwiegend bosnische Stadt. Bis zum Bürgerkrieg der 1990er-Jahre betrug der bosnische Bevölkerungsanteil in der Stadt über sechzig Prozent, doch die meisten dieser Menschen starben bei den „ethnischen Säuberungen“ während der Kämpfe. Die Stadt konnte sich nie ganz vom Krieg erholen; infolge der schlechten sozioökonomischen Bedingungen in der Region setzt sich ihr demografischer Niedergang fort.
Optisch wird die Stadt von der Mehmed-Paša-Sokolović-Brücke geprägt, die zum UNESCO-Welterbe gehört. Sie wurde 1577 von den Osmanen erbaut, die Bosnien mehr als fünfhundert Jahre lang besetzt gehalten hatten. Die Brücke ebenso wie die Stadt Višegrad selbst wurden in dem Roman „Die Brücke über die Drina“ des Nobelpreisträgers Ivo Andrić verewigt, in dem es unter anderem um den Mythos um Mehmed Paša Sokolović geht, einem osmanischen Reichslenker serbischer Abstammung aus der Nähe von Višegrad. Der Roman beschreibt die Gefechte um das Reich und zeigt Višegrad als ein Tor zwischen Ost und West. Darüber hinaus behandelt das Buch die Identitätssuche, die einen Großteil der Geschichte der Stadt wie auch der Region bestimmt hat.
Im vergangenen Jahrzehnt hat der vom Filmemacher zum Ikonenbaumeister gewandelte Emir Kusturica mit Unterstützung der serbischen Behörden eine steinerne Stadt konstruiert: Andrićgrad, ein Touristenziel innerhalb von Višegrad. Diese Stadt aus Stein dient dem Gedenken an Ivo Andrić, der 1975, vor dem Ende Jugoslawiens, starb. Auf den ersten Blick erscheint Kusturicas Projekt unverfänglich, doch bei näherer Betrachtung zeigt sich, dass es eine revisionistische Geschichtsauffassung propagiert, nach der Bosnien niemals osmanischen Einflüssen ausgesetzt gewesen sei. Andrićgrad nutzt die Vorstellung von einer Art Renaissance, um eine alternative regionale Historie zu imaginieren – was eine weitere Belastung der ohnehin fragilen Beziehung zwischen den drei wichtigsten ethnischen Gruppen des Landes bedeutet. (Igor Drljača)