Der Krieg ist ein Katalysator – für das Gute wie das Böse
Der Beruf des Regisseurs ist etwas für freie Menschen, die sich nicht fürchten, von dem zu sprechen, was sie denken und fühlen. Es ist ein Beruf, der tägliche Arbeit an sich selbst erfordert. Um zu Ergebnissen zu kommen, muss man eigene Schwächen überwinden, woraus sich ein Drang zur Selbstverwirklichung ergibt. Dafür bietet einem das Regieführen die Möglichkeit, seine Neugier, all die Kenntnisse und Eindrücke, die man erworben und gesammelt hat, zu verarbeiten und sein gesamtes Potenzial auszuschöpfen.
Ich habe meine Regieausbildung in der Meisterklasse von Alexander Sokurov erhalten, der einen prägenden Einfluss auf die Entwicklung meines Weltbilds und auf meinen Arbeitsansatz hatte. Er brachte uns bei, dass eine Ausgangsidee in einen Film umzusetzen das Gleiche sei wie einen Baum großzuziehen: Dessen Stamm wächst, verzweigt sich und breitet sich aus, indem er eine dichte Krone bildet. In diesem Sinn müssen die Ausarbeitung des Drehbuchs, die Wahl der Darsteller, die Dreharbeiten selbst, die Montage und der Tonschnitt jeweils Form und Inhalt des Films vertiefen.
Das umfassende Erbe, das die Weltkunst bereitstellt, bewegt und inspiriert mich. Bei der Entwicklung der Figuren inspiriert mich das Lesen klassischer Literatur; zu visuellen Lösungen und dem Aufbau einzelner Einstellungen regen mich häufig Gemälde bedeutender Künstler an. Es sind die Gefühle des Menschen, seine Seelenqualen, seine Herzensgüte, seine Sorgen und Zweifel, die mich als Autor interessieren ‒ die innere Welt des Menschen, nicht seine äußeren Lebensumstände.
Ich arbeite häufig mit nicht-professionellen Darstellern. Es ist mir wichtig, eine fiktive Figur nicht über die Kunst eines Schauspielers zum Leben zu erwecken, sondern den faszinierenden Charakter eines lebenden Menschen auf die Leinwand zu übertragen und ihn so zu bewahren. Hier folge ich den Prinzipien, die Alexander Sokurov seinen Schülern vermittelt: Humanismus, Aufklärung und ein kategorisches Unbehagen gegenüber einer Ästhetik der Gewalt.
Es geht nicht um Rekonstruktion
Der Film MALCHIK RUSSKIY handelt von Menschen, die sich im Krieg befinden, von ihren Beziehungen und ihren Gefühlen. Dieses Thema ergab sich für mich nicht zufällig. Mein Vater ist Militärpilot. Einen Großteil meiner Kindheit verbrachte ich in Kasernen, daher ist diese Welt mir nah, und ich kenne die Menschen, die bei der Armee sind. Der Krieg im Film ‒ das sind lediglich die extremen Umstände, unter denen die Protagonisten agieren und ihr Wesen offenbaren, unter denen Kameradschaft, Freundschaft, Nähe und die Sorge um andere entstehen können. Der Krieg ist ein Katalysator, der die besten wie auch die schlechtesten Seiten des Menschen zum Vorschein bringt. Besonders lichte Gefühle werden am deutlichsten inmitten von Schmutz und Tod sichtbar.
Der Zweite Weltkrieg klingt noch in uns nach als persönlich erlebte Geschichte, aufgrund der politischen Bedeutung, die das Thema noch immer hat, und weil er im kollektiven Gedächtnis der Menschen verankert ist – all dies beeinflusst die Art, wie er wahrgenommen wird. Der größere zeitliche Abstand zu den Ereignissen des Ersten Weltkriegs jedoch eröffnet die Möglichkeit, ihn in verfremdeter Weise zu betrachten.
Was die Ausstattung betraf, wollten wir bewusst auf eine detailgetreue Wiedergabe historischer Details verzichten; das Filmteam orientierte sich deshalb an Konventionen der Malerei. Bei der Darstellung unseres Themas ging es uns vor allem um die Gefühle der Protagonisten, nicht um die getreue Rekonstruktion von Details. Dieser Ansatz machte es für uns erforderlich, über die Visualität des Films selbst ein Gefühl für die Erinnerung zu entwickeln – denn wir sind nicht Zeugen der Ereignisse von damals, sondern Menschen, die auf jene Zeit blicken.
Der Erste Weltkrieg wurde zum Auslöser für eine Reihe von Tragödien des vergangenen Jahrhunderts. In diesem Strudel geschichtlicher Ereignisse lebten Menschen. Wie waren diese Menschen, die in einer solchen Welt überleben konnten? Vor diese Frage sahen wir uns bei der Auswahl der Schauspieler gestellt. Wer Fotografien vom Anfang des 20. Jahrhunderts betrachtet, sieht darauf Gesichter, die anders sind als heutige. Harte körperliche Arbeit und Hunger haben sich auf die Statur und den Gesichtsausdruck der damaligen Menschen ausgewirkt. Wir machten uns daher auf den Straßen, in Fabriken und unter den Kadetten auf Militärschulen auf die Suche nach Darstellern, deren Äußeres in den Film passte. Besonders kompliziert war es, den Darsteller für die Hauptrolle zu finden. Wir stellten ihn uns als sanften, naiven, den Menschen zugewandten Jungen vor, der dabei ein schweres Schicksal trägt. Am Ende fanden wir ihn in einem Kinderheim.
Rachmaninows Musik
Von besonderer Bedeutung für den Film ist die Musik: Zu hören sind Werke von Sergej Rachmaninow. Im Jahr 1909 schuf der Komponist sein Konzert für Klavier und Orchster Nr. 3 op. 30 in d-Moll. Die Eindringlichkeit und Kraft dieses Werkes hatten für die damalige Zeit etwas Unerhörtes und ließen es in gewisser Weise unwirklich erscheinen. Noch unwirklicher kommt es einem heute vor, dass die zivilisierten Völker Europas nur fünf Jahre später in einem blutigen Weltkrieg aufeinandertreffen würden. Das Konzert lässt sich als Vorahnung des genialen Komponisten vom Schicksal eines Volkes verstehen, dem Schweres bevorstand. Drei Jahrzehnte später, zu Beginn des Zweiten Weltkrieges, schuf Rachmaninow die Symphonischen Tänze op. 45, ein in seiner Ausdruckskraft noch überragenderes Werk – danach hat er nie wieder komponiert. Die Eindringlichkeit und Kraft von Rachmaninows Musik versetzt uns auch heute noch in Erstaunen, in einer Zeit, in der Rufe nach neuen Kriegen laut werden. (Alexander Zolotukhin)