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94 Min. Mandarin.

Nicht nur die unerträgliche Hitze kurz vor der Regenzeit macht der 14-jährigen Li Senlin zu schaffen, sie sucht auch verzweifelt nach einem Thema für einen Schulaufsatz. Inspiration bieten der unerwartete Besuch ihrer Tante und deren seltsame Geschichten, die wahr sein könnten, aber nicht sein müssen.
Ferien, Auszeit, Tage, die nicht zu fassen sind. Auch der Schauplatz, die südchinesische Stadt Hangzhou, scheint aus der Zeit gefallen. Mit der halbwüchsigen Senlin blickt man aus dem Fenster auf eine anonyme Stadtlandschaft, deren endlose Hochhausreihen jedoch von mythenumwobenen Wäldern, Seen und Höhlen umgeben sind. Eine aufmerksame Kamera, die ihren Blick gerne schweifen lässt, begleitet Senlin auf ihren Streifzügen. Tante Qiu Xiaqius Geschichten, die um ihren verstorbenen Ehemann und die Arbeit auf einem Schleppkahn kreisen, werden in dieser Naturkulisse weitergesponnen. Zhu Xins Regiedebüt entwickelt sich zunehmend zu einer inneren, ihrer eigenen Logik folgenden Erzählung. Verschwundene Schildkröten und verlorene rote Flaggen tauchen darin unvermutet wieder auf. Während am Horizont erste Gewitter und Regenwolken aufziehen, glaubt man sich in einem chinesischen Sommernachtstraum. (Anke Leweke)

Zhu Xin wurde 1996 in Hangzhou (China) geboren. Von 2014 bis 2018 studierte er am Fachbereich Film and Television der Chinesischen Hochschule der Künste in Hangzhou. 2015 entstand sein Kurzfilm Wushan Shequ. Man You ist sein erster abendfüllender Spielfilm.

Kindheit am Fluss

MAN YOU ist die Illusion meines realen Lebens, eine aus meiner Erinnerung gewachsene Fantasie. Während der vergehenden Sommertage in der Gegend südlich des Jangtse-Flusses blockieren Höhlen den Fernsehempfang zweier Familien. Blitze und Donner kommen und gehen, ein Boot nach dem anderen gleitet vorüber. Frauen spazieren die Hügel hinauf und hinunter, blicken in das ruhige Gewirr. Aus der Feuchtigkeit und den verschwommenen Erinnerungen steigen Bilder meiner im Dunst liegenden Kindheit hoch. Mit der Hilfe des Films sammle ich die zerbrochenen Teile meiner Brille auf und beginne, die Welt um mich herum mit mehr Klarheit zu sehen. (Zhu Xin)

Gespräch mit Zhu Xin: „Der Film ist selbst wie ein kleiner Park“

Vivian Ying: MAN YOU ist Ihr erster Spielfilm. Wie kam es, dass Sie diese Geschichte erzählen wollten und dass Sie sie in Ihrer Heimatstadt Hangzhou angesiedelt haben?
 
Zhu Xin: Ich bin zweiundzwanzig Jahre alt und habe nie außerhalb von Hangzhou gelebt. Das Krankenhaus, in dem ich geboren wurde, liegt nur wenige Straßen von meinem jetzigen Zuhause entfernt. Als Kind bin ich nicht viel herumgekommen. Hangzhou ist eine sehr dicht besiedelte Stadt, für mich ist sie wie ein kleiner Park. Mit dem Film möchte ich in die Zeit meiner Kindheit zurückkehren. Er ist selbst wie ein kleiner Park, der es mir ermöglicht, mir etwas vorzustellen und zu erschaffen, und der mich Wege in eine unbekannte Zukunft beschreiten lässt.
Dai Ying und ich haben das Drehbuch gemeinsam geschrieben. Am Anfang stand eine Geschichte, die sie mir über eine Bekannte erzählte. In der Nacht darauf konnte ich nicht einschlafen und hatte das Gefühl, als würde ich plötzlich von einer Erinnerung erfasst. Wir schrieben dann gemeinsam ein Drehbuch mit dreißig Szenen; mit den Dreharbeiten begannen wir, noch bevor es fertig war. Das Überarbeiten des Drehbuchs und die Dreharbeiten fanden parallel statt. In diesem Punkt unterscheidet sich unsere Produktion von den standardisierten Abläufen, die innerhalb der Filmindustrie üblich sind.

MAN YOU hatte ein sehr kleines Budget. Es muss schwierig gewesen sein, den Film unter diesen Umständen fertigzustellen.

Das war tatsächlich nicht ganz einfach. Das Budget für die Vorproduktion war sehr klein. Ich habe mir 20.000 Renminbi (3.000 Dollar) von meinen Eltern geliehen und brauchte dann für den Nachdreh noch zusätzlich einige Tausend Renminbi. Insgesamt hat das Projekt nicht mehr als 30.000 Renminbi (4.400 Dollar) gekostet. Durch das knappe Budget ergaben sich verschiedene Probleme, unter anderem war der Zeitplan sehr eng. Zu Beginn verbrachten wir ein paar Tage mit der Einrichtung der Drehorte. Die Wohnung, in der wir hauptsächlich gedreht haben, befand sich nicht weit von meinem Wohnort entfernt. Ich konnte also immer schnell mit dem Fahrrad dorthin fahren, um mir zum Beispiel Gedanken über das Setdesign zu machen. Am Anfang befanden sich kaum Möbel oder Gegenstände in der Wohnung. Der Produzent wollte nicht viel Geld für die Requisiten ausgeben, also durchsuchten wir Müllplätze und liehen uns Dinge aus den Wohnungen von Bekannten, um die Kosten möglichst niedrig zu halten.
Im August 2016 arbeiteten wir eine Woche lang an dem Film, sechs Tage davon drehten wir. Das war eine sehr intensive Phase, wir drehten von morgens bis nachts. Anschließend nahm ich eine einjährige Auszeit. Während dieses Jahres war ich lediglich mit der Drehbuchautorin in Kontakt und suchte alleine nach weiteren Drehorten. Dieses Jahr war ziemlich hart für mich: Ich war alleine mit dem Projekt und konnte mit niemandem darüber reden.
Im Jahr darauf fügten sich die Dinge wieder besser, und ich organisierte drei Drehtage. Tatsächlich wurde der gesamte Film in nicht mehr als zwei Wochen gedreht. Einen Tag verbrachten wir von morgens bis nachts auf dem Thousand-Islands-See. Wir kamen erst im Morgengrauen des nächsten Tages wieder in Hangzhou an. Das Filmteam war völlig erschöpft. Ich möchte mich nachträglich noch einmal bei allen für ihren Einsatz an diesem Tag bedanken.
Damals befand ich mich in meinem zweiten Studienjahr und hatte noch keine abgeschlossene Ausbildung im Filmemachen. Trotzdem wollte ich nicht noch mehrere Jahre warten, um erfahrener und routinierter zu werden und erst dann zu filmen. Ich hatte nicht das Gefühl, dass die sogenannte Professionalität der wichtigste Faktor dafür ist.

Sie waren noch keine zwanzig, als Sie mit der Arbeit an MAN YOU begonnen haben. Ist das nicht fast zu jung für einen Spielfilm?

Als Kind mochte ich es sehr, über Dinge zu sprechen, die mir unerklärlich oder ungewiss erschienen. Wenn ich jetzt als Erwachsener erneut über diese Dinge spreche, tue ich das immer noch mit demselben kindlichen Staunen. Entscheidend ist, dass viele Dinge in der Erinnerung verblassen, manches vergisst man auch. Früher waren die technischen Möglichkeiten vergleichsweise begrenzt, sodass es für jemanden in meinem Alter sehr schwierig oder sogar unmöglich gewesen wäre, einen solchen Film zu produzieren. Warum muss das Werk eines Kindes unbedingt Elemente des Erwachsenseins enthalten? In der gesamten Filmgeschichte hatte bisher noch nie ein Kind die Gelegenheit, seinen eigenen Film zu drehen. Ich hoffe, dass mir das gelungen ist. MAN YOU war eine große Herausforderung für mich, in dieser Arbeit steckt mein ganzes Vertrauen, mein Herzblut. Heute könnte ich so einen Film nicht mehr machen. In diesem Sinne ist er auch eine Art Abschiedslied.

In dem Film gibt es fast keine Trennung zwischen Leben und Tod. Wir sehen Senlin ihre Jugend leben und in der Sommerhitze eine Wassermelone genießen, und wir sehen die Tanten und Onkel Kränze niederlegen. Es gibt übersinnliche Momente mit den rennenden Toten und der rätselhaften Leiche.

Vor drei Jahren habe ich eine Rucksackreise nach Varanasi in Indien gemacht. Am letzten Tag beobachtete ich in der Nähe des Ganges eine ungewöhnliche Szene – es war der Platz, wo die Toten verbrannt werden. Die Leiche eines Mannes, der unter rätselhaften Umständen gestorben war, wurde zum Flussufer getragen. Niemand kannte seine Identität, niemand meldete einen Anspruch auf die Leiche an, weswegen er nicht wie alle anderen in ein weißes Tuch gehüllt werden konnte. Stattdessen musste er nackt verbrannt werden, danach wurde seine Asche in den Fluss geworfen. Das war das erste Mal, dass ich ganz direkt mit dem Tod konfrontiert war. In meiner Erinnerung fühlte sich sein Körper wie ein dunkler Strudel an, er sank langsam und schwer in den Fluss, bis er ganz verschwand. Ich wage nicht, mir andere Details ins Gedächtnis zurückzurufen, denn dieses Erlebnis hat mich tief getroffen. Die verschwindenden Körper und ihre Reise durch den Raum werden zu einem Phantom, das nicht ignoriert werden kann. Der Tod lässt mich zu jemandem werden, der verletzlich, sensibel und offen ist, und darum ist er so wichtig.

Ich konnte, als ich MAN YOU sah, förmlich die Feuchtigkeit der Luft spüren. Senlin bemerkt in einer Szene, dass ihr Vater einen Geruch von Wasserdampf verströmt, und folgt ihm in eine heiße Quelle; dort fällt sie hin und wird klatschnass. Tante Qiu fährt Boot auf dem Kaiserkanal. Der Mörder springt am Ende in den Kaiserkanal. Der ganze Film scheint eine besondere Verbindung zum Wasser zu haben.

Ich bin im Süden Chinas aufgewachsen, die Gegend ist berühmt dafür, dass es dort viel Wasser gibt. Viele meiner Kindheitserinnerungen haben etwas mit Feuchtigkeit zu tun. Ich spielte oft in der Nähe des Kaiserkanals. Meine Großmutter forderte mich immer auf, jeden Tag vom Morgen bis zum Mittag einmal voll den Kanal zu umrunden, ansonsten dürfte ich nicht nach Hause kommen. Einmal hatte ich auch einen Unfall im Park, bei dem ich fast ertrunken wäre. Ich fiel in eine große Wasserlache und konnte weder atmen noch mich irgendwie bemerkbar machen – ich war völlig gelähmt. Erst nach einigen Minuten kam jemand vorbei und rettete mich. Ich habe eine ganze Sammlung von Erinnerungen ans Wasser, und sie tauchen je nach Wetterlage immer wieder auf.

Die Mitwirkenden sind meines Wissens alle keine professionellen Schauspieler*innen. Wie haben Sie sie ausgewählt, und wie ist es Ihnen gelungen, sie so präzise zu inszenieren?

Meine Mutter war in der Mittelschule meine Geschichtslehrerin. Während ich den Film vorbereitete, hat sie viel Zeit aufgewendet, um mich beim Casting zu unterstützen. Sie hat in ihrem Freundeskreis, unter den Schüler*innen, Kolleg*innen und Eltern gesucht. Ihre erste Empfehlung war Jiang Li, die die Rolle der Senlin übernommen hat. Sie ist eine Schülerin meiner Mutter und hatte den starken Wunsch zu schauspielern. Ich ging zu ihr nach Hause und sprach mit den Eltern. Sie befragten mich nach der Ausrichtung des Films und gaben mir außerdem ein paar Ratschläge fürs Leben mit. Ich versicherte ihnen, dass ich für den Film mein Bestes geben würde – das beruhigte sie. Während der gesamten Dreharbeiten wurde Jiang Li von ihrer Mutter begleitet. Auch meine Mutter half manchmal am Set aus, und Jiang Li nannte sie immer „Lehrerin“. Das fühlte sich schräg und zugleich magisch an. Xiao Bo war früher mein Lehrer für Naturkunde, wir kannten uns also gut. Tante Qiu wird von der Mutter meines Produzenten gespielt. Die Mutter im Film ist eine frühere Schulkollegin meiner Mutter. Wir haben alle viel miteinander kommuniziert, und insgesamt lief alles recht reibungslos. Ich habe die Mitwirkenden allerdings nicht in alle Details des Filminhalts eingeweiht, sondern mich darauf konzentriert, ihre Gedanken und Gefühle zu verstehen. Es war mir wichtig, sie während dieser Arbeit besser kennenzulernen und in einer Weise auf sie eingehen zu können, von der die Atmosphäre des Films profitierte.

(Interview: Vivian Ying)

Produktion Wang Jingyuan, Midday Hill Films, Xia Yantao, Midday Hill Films, Zhao Jin, Midnight Blur Films. Regie Zhu Xin. Buch Dai Ying, Zhu Xin. Kamera Zhang Wei. Montage Zhu Xin. Musik Tao Zhen. Ton Zhang Zijie, Shen Zhen. Production Design Jin Jiacheng, Chen Xinjialan. Mit Jiang Li, Huang Jing, Chen Yan, Li Xiaoxing, Lu Jiahe.

Weltvertrieb Parallax Films
Uraufführung 08. Oktober 2018, Filmfestival Busan

Filme

2015: Wushan Shequ / Community (28 Min.). 2018: Man you / Vanishing Days.

Foto: © Midday Hill Films

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